Anmoderation zur Veranstaltung „Begriff und Sache des Kommunismus“
Anmoderation zur Veranstaltung „Begriff und Sache des Kommunismus am 28.11.03“ im Rahmen der Vortragsreihe „Unmöglichkeit und Notwendigkeit des historischen Materialismus in geschichtsloser Zeit“
Hochverehrtes Publikum!
Eine kleine Einführung ist vielleicht nicht fehl am Platze, um ein wenig verständlich zu machen, was uns zur Veranstaltung der kleinen Veranstaltungsreihe bewogen hat, deren Teil die heutige Veranstaltung ist.
Für antideutsche Kommunisten – also für die einzigen überhaupt vorhandenen Kommunisten – gibt es kein anderes Programm als das der sozialen Revolution. In der gegenwärtigen überhaupt-nicht-revolutionären Situation sind jedoch selbst die Bedingungen der Möglichkeit von Kritik bedroht. Diese zu erhalten bemühen sich gerade die Soldaten der US-Army mit ihren antifaschistischen Aktionen, weshalb man die Vereinigten Staaten von Amerika – wie Clemens Nachtmann von der Redaktion Bahamas einmal treffend bemerkte – als „Subunternehmer“ aller emanzipatorischen Bewegung bezeichnen könnte. Das ergibt jedoch nur dann einen Sinn, wenn Kommunisten endlich das Hauptunternehmen in Angriff nehmen – anderenfalls könnte sich der „war on terrorism“ als vergeblich erweisen.
Denn obwohl wir eingedenk unserer Ohnmacht fern davon sind, jene Theorie, die zur Praxis drängt, endlich verwirklichen zu können, und dieser Umstand nachhaltig auf die Theorie wirkt – das Programm bleibt in Hinsicht auf die dringend notwendige Revolution mehr oder weniger dasselbe. Wenn es etwas Lächerliches hat, von Revolution zu sprechen, dann natürlich deshalb, weil die organisierte revolutionäre Bewegung aus den modernen Ländern seit langem restlos verschwunden ist. Noch viel lächerlicher ist letztlich aber alles andere, denn es handelt sich um das unvernünftige Bestehende und die verschiedenen Formen der Duldung dieser Unvernunft.
Ich will eine Ausformulierung dessen versuchen. Die beiden vielbeschworenen kategorischen Imperative Marxens und Adornos sind nicht irgendwie nacheinander, sondern unmittelbar ineins zu denken. Sie bilden die beiden Seiten der einen Münze der Vernunft, welche da kategorisch fordert: die ein- für allemalige Abschaffung des Leidens des Menschen unter den falsch eingerichteten Verhältnissen und die Verhinderung alles dessen, was die Wiederkehr von Auschwitz oder irgend ähnlichem bedeutete.
Die Verwirklichung dieser beiden Imperative aber wäre einzig – die gelingende Revolution. Das heißt nichts anderes als jene Handlung der Gattung, welche es vermag, sich das, was im Schoße der bürgerlichen Gesellschaft gewachsen ist, anzueignen, um die Assoziation freier Individuen einsetzen zu können und die abstrakte Herrschaft des Werts, unter der die Subjekte gefangen sind, abzuschaffen. Mit dieser Abschaffung würde gleichzeitig das destruktive Potential außer Kraft gesetzt, welches in den deutschen Lagern schon einmal erahnbar wurde und das neue Virulenz in den Islamfaschisten und ihren europäischen Freunden gewonnen hat.
Was soll das für unser Thema, die Betrachtung von Geschichte, die Notwendigkeit des historischen Materialismus?
Eine legitime Betrachtung der Geschichte ist einzig eine, die noch das „kleinste“, aber erst recht die „großen“ Ereignisse vom Standpunkt der Erlösung her zu denken sich anstrengt. Erlösung, das meint wesentlich die Erlösung von jener Heteronomie, die den gegenwärtigen Stand der Produktivkräfte verwaltet. Diese Produktivkräfte ermöglichen nach der Kritik der politischen ökonomie eine vernünftige Einrichtung der Gesellschaft nicht nur, sondern: fordern sie sogar. Wenn wir Adorno mit einem wie immer recht beliebig ausgewählten Zitat zu Wort kommen lassen wollen, so klingt das folgendermaßen: Es verlangt „der Zweck, der allein Gesellschaft zur Gesellschaft macht, daß sie so eingerichtet werde, wie die Produktionsverhältnisse hüben und drüben unerbittlich es verhindern, und wie es den Produktivkräften nach hier und heute unmittelbar möglich wäre. Eine solche Einrichtung hätte ihr Telos an der Negation des physischen Leidens noch des letzten ihrer Mitglieder […] Sie ist das Interesse aller […].“
Der Stand der Produktivkräfte ist in der falsch eingerichteten Gesellschaft gleichzeitig der Stand der Destruktivkräfte. Mit der Betrachtung von Geschichte vom gleichsam messianischen Standpunkt aus eröffnet sich dem Kritiker ahnend das Ausmaß der Katastrophe wie die wirkliche Dimension des Vernichtungspotentials. Paradox dabei ist, daß sich uns, die wir in der spätkapitalistischen Immanenz, dem Sumpf des Bestehenden schier hoffnungslos festgehalten sind, niemals unmittelbar dartun kann, was in der Historie eine Richtung auf die Befreiung hin hatte. Denn tatsächlich würde sich das Rätsel der Geschichte erst nach der Befreiung selbst lösen; es würden alle Irrungen und Wirrungen der vollendet unbewußten Vorgeschichte allererst mit dem Eintritt in die bewußte Geschichte geordnet dastehen können.
Wenn jedoch ungeachtet der jeweiligen geschichtlichen Situation über diese dekretiert wird, als sei immer schon alles klar gewesen, ist das nichts anderes als – das Bündnis mit der Herrschaft. Geschichtsfremd über Befreiungsversuche zu Gericht zu sitzen – das ist die Festschreibung jenes gegenwärtigen gesellschaftlichen Zustandes, in dem die Realität widerspruchslos erscheint.
Warum ist das so? Unsere leer und tot scheinende, spätkapitalistische Zeit ist nicht die früherer Epochen, in der Antagonismen mehr oder weniger offen zutage traten und es einige Mühe kostete, sie zumindest auf der Oberfläche einzuebnen. Will man verstehen, warum heute alles integriert, alle Antagonismen erledigt scheinen, so hilft der historische Materialismus zu der Erklärung, daß die historischen Antagonismen fortwesen, wenn auch verändert in Wesen und Erscheinung. Wenn die Herrschaft in die Menschen eingewandert ist, dann bedeutet das noch lange nicht, daß diejenigen objektiven Bedingungen, die solche Integration der Individuen durchsetzten, spurlos verschwunden sind. Sie sind vielmehr: verdrängt.
Freud sagt, daß Symptombildung immer auf Verdrängung hinweist. Wenn wir das auf die Geschichte anwenden, bedeutet das, daß wir, wenn wir die Gegenwart und das in ihr herrschende Bewußtsein verstehen wollen, unbedingt verstehen müssen, was da mit dem Gang der Geschichte verdrängt wurde, und wie. Sonst kann nichts bewußt und also keine Befreiung vom Grauen gedacht werden. Allem Anschein nach gilt immer noch, was Adorno 1942 über das Vergessen der fortbestehenden Antagonismen schrieb:
„Solche Vergessenheit hilft den Monopolen mehr als die Ideologien, die schon so dünn geworden sind, daß sie sich als Lügen bekennen, um denen, die daran glauben müssen, die eigene Ohnmacht um so nachdrücklicher zu demonstrieren.“ Den genauen Gegensatz solcher Vergessenheit formulierte Sohn-Rethel in kaum mißzuverstehenden Worten. Deshalb seien zum Schluß drei längere Sätze aus seinem Buch „Geistige und körperliche Arbeit“ zitiert:
„Die marxistische Dialektik gilt dem gesellschaftlichen Sein, weil der Marxismus darauf abzielt, dieses Sein zu einer Wirklichkeit zu machen, in der die Realität Sinn hat und der Sinn real wird, wo also die menschliche Gesellschaft aus ihrer ‚Vorgeschichte‘, in der die Menschheit Spielball naturwüchsiger Notwendigkeiten ist, herauskommt. Im Dienste dieses Ziels muß die menschliche Geschichte in ihrer Gesamtheit unter einem methodologischen Postulat verstanden werden, in welchem die Möglichkeit dieses Zieles, die reelle Möglichkeit seiner Verwirklichung, schon als das eigentlich bestimmende, die Menschengeschichte durch und durch beherrschende Naturgesetz, also die ihrem Geschehen überall schon zugrundeliegende Wahrheit begriffen wird. Dieses methodologische Postulat ist der historische Materialismus.“
Der historische Materialismus ist nichts als der Versuch, dasjenige, was heute bewirkt, daß die Rede von der Revolution lächerlich oder womöglich grausam wirkt, selbst der Lächerlichkeit oder Grausamkeit zu überführen.