Unmöglichkeit und Notwendigkeit des historischen Materialismus in geschichtsloser Zeit
Begleittext und Ankündigung zweier Vorträge November/Dezember 2003
Die Vorträge und Schriften moderner Marxisten sind meist recht einschläfernd. Dürre Formeln und leere Abstraktionen werden von ihnen in einer Weise abgehandelt, die den Eindruck erweckt, es sei nicht von der wirklichen Welt, sondern von einem Gespensterreich die Rede. Dort scheinen die Begriffe ein Eigenleben zu führen: Nicht das tätige Dasein der Menschheit mit ihren Händeln und Wirren wird beschrieben, dafür sagen sich jedoch der Herr Wert und das Fräulein Warenform recht artig Guten Tag. Wird hier eine idealistische Marx-Lektüre vorgenommen, eine Art schlecht abstrakter Rück-Hegelisierung Marxens unternommen, obwohl doch der junge Marx voller Spott und stringent die Metaphysik verwarf? Mit Feuerbach warf er dem Hegel vor, daß dieser die wirkliche Welt in ein bloßes Moment der sich selbst bewegenden Substanz verwandle, womit man sein System damit nur als den „letzten Zufluchtsort, die letzte rationelle Stütze der Theologie“ (Feuerbach) anzusehen habe.
Aber dennoch, man sollte über diese wunderlichen Privatgelehrten nicht allzu vorschnell spotten. Sie bemühen sich. Außerdem fällt dem brav lauschenden Publikum meistens auch nicht viel Besseres ein. Und die Abstraktheit der Vortragenden ist nicht Resultat einer bloß subjektiven Schrulligkeit, sondern hat ihren objektiven Grund darin, daß Kritiker über gesellschaftlich ganz realen metaphysischen Irrsinn sprechen – was sie auch dann zwingen würde, dies mit den Mitteln der Metaphysik selbst zu tun, wenn sie die verrückte Welt kritisieren wollten, und nicht nur verdoppeln. Galt dies schon zur Zeit von Marx, dem, aller nie revidierten Feuerbachlektüre zum Trotz, bei der Analyse des Kapitals keine Wahl blieb, als sich selbst ins „Nebelreich der Religion“ zu begeben, so gilt dies in unseren Zeiten, in denen nicht Hegel, sondern Heidegger die Welt auf ihren falschen Begriff bringt, zugespitzt: „Der Gang der Geschichte nötigt das zum Materialismus, was traditionell sein unvermittelter Gegensatz war, die Metaphysik.“ (Adorno)
Die postfaschistische Gegenwart zeichnet sich dadurch aus, daß sich nirgendwo in den hiesigen Gefilden gesellschaftlich relevante Gruppen formieren, um bewußt und offen für ihre jeweiligen Interessen zu kämpfen und folglich auch in der geistigen Sphäre kein Widerstreit der Ideen tobt. Stattdessen exekutieren alle widerstands- und hoffnungslos das, was sie vielleicht als „Sachzwang“ bezeichnen mögen, wenn sie als die Ich-losen Lurche, die sie sind, überhaupt über irgendetwas nachdenken. Dieser gesellschaftliche Zustand wird von Theorien, in denen keine Akteure vorkommen, durchaus adäquat widergespiegelt. Dabei müssen allerdings alle dieser Theorie gegenläufigen Momente gleichgemacht und aus dem Bewußtsein getilgt werden – und so ist es auch, daß das negative Ziel des Weltlaufs vorweggenommen und dieser selbst verdoppelt wird.
Im Spätkapitalismus scheinen alle Widersprüche so nachhaltig verdrängt, daß es tatsächlich schwer fällt, noch irgendeine Behauptung dahingehend zu wagen, daß die gesellschaftliche Entwicklung irgendwann nicht mehr durch Gott, sondern durch die Gattung bestimmt werden könnte: ist doch heute der Gattung die bewußte Einwirkung auf die Verhältnisse, die sich hinter ihrem Rücken voll-ziehen, ob ihrer Abstraktheit und Übermacht so gänzlich entzogen. Der theoretische Sieg des logischen Marxismus über den historischen Materialismus ist somit zu verstehen als das Resultat der praktischen Liquidierung von Geschichte, verstanden als qualitativ bestimmbarer Verlauf der Kämpfe sozialer Gruppen um Emanzipation. Diese wurde abgelöst durch die tote und leere Zeit bewußtlos ertragener, anonymer Herrschaft.
Indem die Welt nicht einmal Auschwitz zum Grund nahm, die verkehrten Produktionsverhältnisse abzuschaffen, wurde mit den ermordeten Juden auch endgültig die von den Deutschen gemordete Vernunft und der mit ihr vermählte konkrete Begriff begraben. „Alle Kultur nach Auschwitz, samt der dringlichen Kritik daran, ist Müll.“ Die von daher fast unmögliche und dennoch absolut notwendige Aufgabe besteht nun darin, diesen konkreten Begriff aus den sich immer höher auftürmenden Trümmern der Geschichte zu bergen – und zwar im Bewußtsein, daß die Wahrheit identisch ist mit der Änderung der Welt.
Angesichts dieser hohen Aufgabe ist es so verdammt ärgerlich, wenn die Regression als Fortschritt verkauft wird. Anstatt ihre Ratlosigkeit angesichts der Verhältnisse einzugestehen, neigen die an ausgewählten Texten von Marx geschulten Intellektuellen oft dazu, ihr Gestammel als bahnbrechende theoretische Innovation und alles Bisherige an Radikalität weit in den Schatten stellende Fundamentalkritik auszugeben. Schier unerträglich wird es, wenn sich diese abstrakt faselnden Kritiker zu Wort melden, um etwas über die ‚reale Welt‘ zu sagen: Da stürzt dann das uhugeleimte Gedankengebäude mitsamt der so liebevoll gehätschelten Kategorien ein wie ein Kartenhaus, und auf einmal schwatzt der gesunde Menschenverstand so ungebrochen aus ihnen heraus, als hätte es einen kritischen Begriff des Bestehenden nie gegeben. Dann entpuppen sich scheinbare Kommunisten als nicht einmal antifaschistisch, urplötzlich finden sie etwa durchaus, daß der Staat der ihrer Vernichtung gerade noch einmal Entronnenen ja eigentlich auch nichts als ein Unterdrückerstaat sei.
Und schlimmer noch: Indem man die heutigen, angesichts der postfaschistischen Erstarrung zu Symbolen regredierten Begriffe nicht als mangelhaft, sondern als vorbildlich hinstellt, affirmiert man heimlich die Resultate der volksgemeinschaftlichen Gleichschaltung. Zwar existiert abstrakt das Bewußtsein vom historischen Gewordensein und damit der Überwindbarkeit der bestehenden gesellschaftlichen Strukturen, in der konkreten Analyse verwandeln diese sich aber flugs in ein von der Empirie abgehobenes, statisches System. Der Schein, den die spätkapitalistische Gesellschaft von sich selbst nahe legt, wird damit unter der Hand als Grundstruktur kapitalistischer Heteronomie insgesamt behandelt, die keiner qualitativen Änderung zugänglich und damit als unhintergehbare Rahmenbedingung der eigenen Reflexion zu akzeptieren ist. Widerstand ist somit nicht mehr denkbar als eine sich auf objektive Widersprüche im Bestehenden stützende Bewegung bestimmter Negation, sondern nur noch als subjektiv-existentialistischer Akt der Entscheidung, als ganz und gar unvermitteltes Herausspringen aus der allumfassenden Matrix. Befreiung wird damit als in der wirklichen Welt zu realisierende Möglichkeit aufgegeben und ins Reich der bloßen Einbildung verbannt.
Bei der impliziten Festschreibung des geschichtslosen status quo wird übersehen, daß die Verhältnisse durch das Verschwinden eines an ihrer Überwindung arbeitenden revolutionären Subjekts – wenn die Antizipation eines solchen auch immer nur in ganz kurzen Momenten der Geschichte aufgeblitzt haben mag – mitnichten vor Veränderung gefeit sind. Im Gegenteil: Alle Versuche, die Antinomien der zerfetzten Welt nicht ins Bewußtsein kommen zu lassen, alle Anstrengungen, sie autoritär und negativ durch Staat und Konzentration der Produktion zu sistieren, führen nur zu größeren Erruptionen, welche aus dem Begriff des Kapitals selbst folgen und erst mit diesem verschwinden werden. Die Krise nimmt so eine Verlaufsform an, die an die ziellose Unaufhaltsamkeit von Naturkatastrophen erinnert, während sich die zur Masse formierenden Individuen in solchen über sie kommenden Zusammenbruchskrisen der Panik anheimgeben. Deshalb drückt die als Tatsachenfeststellung vorgetragene Behauptung, es gebe keine Antagonismen mehr, eher einen heimlichen Wunsch aus: Möge doch die Stabilität des unsere Privilegien sichernden Herrschaftsapparates noch eine Weile andauern und die kommenden Verwerfungen überstehen. Ist das Verschwinden praktischer Kämpfe der objektive Grund für die strukturalistische Theorie, so ist ihre subjektive Ursache die Angst, in die Hölle hinabgestoßen zu werden, die das Leben für die Mehrheit der Menschheit längst ist. Die Katastrophenverdrängung enthält dabei stets die Möglichkeit, in die offen wahnsinnige Untergangssehnsucht umzuschlagen, mit der um uns herum bereits allenthalben der gesamten Zivilisation, und mit ihr allen emanzipatorischen Potentialen der bürgerlichen Gesellschaft das Verderben an den Hals gewünscht wird.
Diese verbreitete Sehnsucht nach der Barbarei wird von uns jederzeit schwer gegeißelt. Überhaupt sind sich die zerstrittenen Kritiker über alle Sektengrenzen hinweg in diesem einen Punkt ganz einig: Daß die linke Szene, die sonstigen Landsleute und überhaupt die meisten Bewohner der Welt unverbesserlich dumm, moralisch verderbt und im Zweifelsfall zu jeder Schandtat bereit sind. Das ist ebenso zutreffend wie trivial. Denn wenn alle im Sumpf stecken, hat man zwar immer recht, wenn man jemand anderem vorwirft, er habe Schlamm im Gesicht. Nur ist mit solchem Moralismus keine Kritik geleistet. Vielmehr dient das möglichst lautstarke Gezeter über dieses und jenes dazu, von der eigenen Unzulänglichkeit abzulenken – bzw. den Unwillen zu verdecken, diese zu beheben – und wird als Ausrede benutzt, die Zumutungen der Individualität nicht meistern zu müssen. Wer kennt nicht einen dieser komischen Vögel, die da meinen, mit kritisch-theoretischen Begriffen polemisieren zu können, näher besehen sich aber alles in heiße Luft, in eine einzige infantile Klugscheißerei auflöst.
Polemik nämlich setzt ein Gefälle voraus: Der Polemiker muß höher stehen als sein Gegenstand, will er sich in ihn versenken, ohne vollständig in ihm aufzugehen. Dieser Abstand ist allererst zu erarbeiten. Womit aber zu beginnen wäre, um aus der Misere herauszukommen, kann keiner so genau angeben. Auf keinen Fall aber hilft es weiter, irgendwelche Widersprüche dogmatisch zu setzen und zu behaupten, Widerstand könne ganz unmittelbar an jedem Ort beginnen, als ob nicht ausnahmslos alle unmittelbare Praxis Pseudopraxis sein muß. Daran, daß die Totalität sich geschlossen hat, war einmal die unentbehrliche Anerkennung der Malaise ausgesprochen, daß es keine revolutionäre Bewegung gibt, an deren Existenz alle benennbaren Widersprüche bei Marx untrennbar gebunden waren. Dagegen ist die Willkür, revolutionäre Praxis zu erfinden, wenn man in Wahrheit nur an einer Schwimmbadkasse vorbeischleicht, eben nichts als „eine lächerliche Übertünchung der Vergangenheit.“
Dilemmata, wohin man sieht: Ohne Begriff des bestehenden Schlechten keine konkrete Kritik am bestehenden Schlechten. Aber ohne Praxis kein konkreter Begriff, sondern nur ein sehr abstrakter – also einer, der den Gegenstand nicht zu treffen vermag. Aber ist die Abstraktion mehr zu fürchten als die falsche Konkretion, welche die Welt in ihr verdinglichtes, ideologisches Begriffsgefüge pressen will? Das „Konkrete“ des Alltagsverstandes ist Hegel zufolge erst der Anfang der Reflexionsbewegung und damit notwendig abstrakt; die Konkretionsfanatiker hantieren also immer nur mit ganz leeren Abstrakta, etwa, wenn sie von ‚dem Menschen‘ reden, auf den es ankomme. Erst wer aus der „Hölle der Abstraktion“ lebend herausgekommen ist, dem ist es gegeben, irgend Konkretes auszusagen. In andern Worten: Erst, wenn das Ganze begrifflich entfaltet ist, wird auch das ursprünglich für ‚konkret‘ Gehaltene wirklich konkret.
Es hat den Anschein, als gäbe es kein Erstes – und so werden wir uns am eigenen Schopf aus dem Sumpf ziehen müssen. Wenn wir aber nun mal vorderhand nicht heraus können – und die lächerlichen Bemühungen der letzten 13 Jahre sind nicht gerade ermutigend -, so muß zumindest untersucht werden, wie es soweit kam. Die Gründe für das so vollständige Scheitern aller bisherigen Emanzipationshoffnungen wären zu analysieren, damit verständlich wird, wie die Welt und ihr Begriff in die Erstarrung geraten konnten, in der sie heute sind. Nur wer zur Kenntnis nimmt, welche Potentiale schon einmal sichtbar wurden, kann das Ausmaß der Katastrophe ermessen, denn nur vom Licht der Befreiung erhält die Welt ihre Konturen. So könnte eventuell ein Ich wieder gestärkt werden, welches als gegenwärtiges die Vergangenheit mit der Zukunft vermittelt und so allererst zur Tat befähigt wäre. Vielleicht ergeben dann auch folgende, durchaus zur Ermutigung dienlichen Worte Adornos einen Sinn, die jetzt noch wie ein merkwürdiger Orakelspruch erscheinen: „Deshalb bleibt die übermächtige Ordnung der Dinge zugleich ihre eigne Ideologie, virtuell ohnmächtig. So undurchdringlich der Bann, er ist nur Bann.“ – „Ganz schwach ist der alte Mythos in seiner jüngsten Allmacht.“
Begriff und Sache des Kommunismus
Diskussion mit Horst Pankow, Autor, Konkret u.a. und Thomas Becker, Autor, Bahamas u.a.
„Der Kommunismus ist für uns nicht ein Zustand, der hergestellt werden soll, ein Ideal, wonach die Wirklichkeit sich zu richten haben [wird]. Wir nennen Kommunismus die wirkliche Bewegung, welche den jetzigen Zustand aufhebt“, so Marx und Engels in der Deutschen Ideologie. In unseren Zeiten, wo die Sache, also die wirkliche Bewegung, nicht vorhanden ist, kann notwendig auch ihr Begriff nur ein vollkommen abstrakter sein. Dieser mangelhafte Begriff ist aber das einzige, was an Emanzipation Interessierte heute haben: aufgrund seiner aktuellen Abgeschnittenheit von der Praxis ist der subversive Geist faktisch auf den Idealismus zurückgeworfen. Soll dies nicht der Endpunkt, das letzte Verfallsstadium der gescheiterten Aufklärung sein, sondern Keimzelle zukünftiger emanzipatorischer Praxis, so müsste der Begriff der befreiten Gesellschaft die Geschichte der gescheiterten Versuche, sie herbeizuführen, in sich aufnehmen. Nicht, um den historischen Kommunismus zu restaurieren: nach der deutschen Barbarei, zu deren Verhinderung er sich als unfähig erwies, wo er sie nicht aktiv vorzubereiten half, ist er praktisch widerlegt, ebenso wie alle ihm vorausgehenden Emanzipationsbemühungen. Die Praxis der Arbeiterbewegung stellt sich heute dar als Abfolge von Blamagen und Tragödien, ihre theoretische Reflexion mithin als eine Geschichte der Irrtümer und womöglich einiger richtiger politischer Einschätzungen, nicht als Geschichte der richtigen Einschätzungen mit einigen Irrtümern. Es kann daher nicht darum gehen, aus dem Studium der vergangenen Kämpfe unmittelbar Lehren für die Gegenwart zu ziehen. Eher wäre ein Gehalt erahnbar zu machen, der in den konkreten Handlungen und Gedanken allenfalls aufschien und den in adäquater Weise zu realisieren Aufgabe zukünftiger Bemühungen sein muss.
Die Neokonservativen der Vereinigten Staaten von Amerika – die Wiederkehr der Ideologie
Diskussion mit einem Vertreter der Antideutschen Kommunisten Berlin
Ganz Europa gibt sich empört. Während man sich selbst durch die Vergangenheit vollkommen diskreditiert hat und nun in Konsequenz zur Untätigkeit verdonnert ist, schreiben die US-Amerikaner Geschichte. An der Seite Israels bekämpfen sie die Feinde der Zivilisation, welche in dem Maße hervorgebracht werden, in dem diese sich als reproduktionsunfähig erweist. So wenig Aussichten diese Bemühungen wohl auf lange Sicht haben werden, so sind sie doch gegen die unheilvolle Entwicklung gerichtet, während die Feinde der USA den Untergang im Geiste vorwegnehmen und sich zu seinem Motor machen. Den Zorn der Antiamerikaner ziehen dabei insbesondere die sogenannten Neokonservativen auf sich, denen man die Kühnheit im Umgang mit der Welt neidet. Genau diejenigen, denen ihre eigene Ideologie so zur zweiten Natur geronnen ist, daß der Begriff schon keinen Sinn mehr ergibt, werfen nun Wolfowitz und Konsorten vor, sie seinen von messianischem Eifer besessen und der Ideologie verfallen. Klassisch hatte man die Ideologie als zugleich notwendiges wie falsches Bewußtsein bestimmt. Nur weil sich der Ideologe, wenn auch ein falsches, so eben doch überhaupt ein Bild von der Welt macht, ist dieser auch zu kritisieren. Indem die Europäern die Objektivität auszublenden und sich ihre Vorstellung von der Welt nach Maßgabe ihres chaotischen Innenlebens bilden, eliminieren sie die Voraussetzungen für Kritik. Sie haben sich mit dem Unheil vermählt und müssen daher die amerikanischen Intellektuellen bekritteln, welche ins Gedächtnis rufen, daß man sich dem natürlichen Lauf der Dinge auch widersetzen kann. Grund genug, die Ideologen aus den USA zu loben, welche uns die Möglichkeit der Kritik überhaupt erst wieder geben.