Der arabische Frühling

Der arabische Frühling erreichte Syrien Anfang 2011 und weitete sich nach kurzer Zeit auch auf die syrisch-kurdischen Kantone Cizîrê, Kobanê und Efrîn aus. In der kurdischen Bevölkerung dieser drei Kantone war der Protest [gegen die Ba’ath-Regierung] ausgesprochen stark und erfolgreich. Dies führte in gewissem Ausmaß zum Abzug der syrischen Armee aus den kurdischen Kantonen, ausgenommen einiger Gebiete in Cizîrê, aber das erkläre ich weiter unten.
Unterdessen haben die Menschen mit der Unterstützung der PYD und der kurdischen Arbeiterpartei (PKK – Partiya Karkerên Kurdistan), die Tevgera Civaka Demokratîk (Tev-Dem – Bewegung der demokratischen Gesellschaft) gegründet. Diese Bewegung wurde schnell stark und gewann zahlreiche Anhänger in der dortigen Bevölkerung. Sobald die syrische Armee und Verwaltung sich zurückgezogen hatten, wurde die Situation sehr chaotisch. (Ich werde erklären warum.) Das zwang die Tev-Dem dazu, ihre Pläne und Programme ohne weiteren Verzug umzusetzen, bevor sich die Lage verschärfen würde.
Das Programm der Tev-Dem war sehr umfassend und deckte jede einzelne gesellschaftliche Frage ab. Viele „einfache Leute“ mit verschiedensten Hintergründen waren involviert; darunter Kurden, Araber, Muslims, Christen, Assyrer, Jesiden. Die erste Aufgabe bestand darin, überall in den Vierteln, Dörfern, Landkreisen und den kleinen und großen Städten vielfältige Gruppen, Komitees und Kommunen einzurichten. Deren Rolle war es, sich in alle Fragen einzumischen, die sich der Gesellschaft stellen. Sie widmeten sich einer Anzahl von Themen, darunter: Frauen, Wirtschaft, Umwelt, Erziehung, Gesundheit und Pflege, Unterstützung und Solidarität, Zentren für die Familien von Märtyrern, Handel und Geschäfte, diplomatische Beziehungen mit dem Ausland und vieles mehr. Es gibt sogar Gruppen, welche Streitigkeiten zwischen verschiedenen Menschen oder Fraktionen schlichten sollten, um zu vermeiden, dass diese Streitigkeiten vor Gericht müssen, solange diese Gruppen nicht unfähig sind, sie anderweitig zu lösen.
Diese Gruppen haben normalerweise ihre eigenen wöchentlichen Treffen, um über die Probleme zu reden, denen sich die ansässigen Leute gegenübersehen. Sie haben ihre eigenen Repräsentanten in der „Volkskammer“ (Hauptgruppe in den Dörfern oder Städten).
Die Tev-Dem ist nach meiner Meinung das erfolgreichste Organ in dieser Gesellschaft und ist in der Lage, alle von ihr gestellten Aufgaben lösen. Die Gründe für ihren Erfolg sehe ich in folgenden Punkten:
1. Den Willen, die Entschlossenheit und die Kraft der Leute, die daran glauben, dass sie Dinge ändern können.
2. Die Mehrheit der Leute glauben, dass man auf allen Ebenen freiwillig arbeiten müsse, um dem Ereignis, dem Experiment zum Erfolg zu verhelfen.
3. Sie haben eine Verteidigungsarmee aufgestellt, die aus drei unterschiedlichen Teilen besteht: Die Volksverteidigungseinheiten (YPG), die Frauenverteidigungseinheiten (YPJ) und die Assaish (eine gemischte Truppe aus Männern und Frauen, die in den Städten und an allen Checkpoints außerhalb der Städte bestehen, um die Zivilisten vor äußeren Bedrohungen zu beschützen). Zusätzlich zu diesen Kräften gibt es noch eine nur aus Frauen gebildete Spezialeinheit, die sich den Fällen von Vergewaltigung und häuslicher Gewalt befasst.
Nachdem was ich gesehen habe, ist Syrisch-Kurdistan in der Zeit nach dem arabischen Frühling einen anderen und meines Erachtens den richtigen Weg gegangen und beides kann nicht verglichen werden. Es gibt einige wichtige Unterschiede:
1. Die Ereignisse in den Ländern des „arabischen Frühlings“ waren von großer Tragweite und viele haben die Tyrannei aus diesen Ländern vertrieben. Der „arabische Frühling“ im Falle von Ägypten erzeugte einen islamischen Staat und dann eine Militärdiktatur. Anderen Staaten erging es wenig besser. Dies zeigt, dass die Menschen mächtig sind und in einem bestimmten Augenblick zum Helden der Geschichte werden können, aber nicht in der Lage sind, dass zu erreichen, was sie langfristig wollen. Darin besteht einer der hauptsächlichen Unterschiede zwischen dem „arabischen Frühling“ und dem „kurdischen Frühling“ in Syrisch-Kurdistan: Letztere konnten ihre langfristigen Wünschen umsetzen – jedenfalls bislang.
2. In Syrisch-Kurdistan waren die Leute vorbereitet und wussten was sie wollten. Sie glaubten, dass eine Revolution vom Grund der Gesellschaft beginnen muss und nicht von ihrer Spitze aus. Es muss eine soziale und kulturelle ebenso wie eine erzieherische und politische Revolution sein. Sie muss gegen den Staat, die Macht und die Autorität sein. Es müssen Leute in den Gemeinden sein, die die abschließende Entscheidungsverantwortung haben. Dies sind die vier Prinzipien der Bewegung für eine demokratische Gesellschaft (Tev-Dem). Man muss all denen ein Vertrauensvorschuss geben, die hinter dieser großen Idee stehen und die Bemühungen unterstützen, dieselbe in der Praxis umzusetzen, egal ob das Abdullah Öcalan und seine Genossen sind oder irgendwer anderes. Zusätzlich hat haben die Leute in Syrisch-Kurdistan viele lokale Gruppen unter unterschiedlichen Namen gegründet, um ihre Revolution erfolgreich durchzuführen. In anderen Ländern des „arabischen Frühling“ waren die Leute nicht vorbereitet und wussten nur, dass sie die gegenwärtige Regierung los werden wollten, aber nicht das System. Außerdem dachte die überwiegende Mehrheit der Leute, dass die einzige Revolution die Revolution von oben ist. Es wurde nicht unternommen, lokale Gruppen aufzubauen, wenn man von kleinen Minderheiten von Anarchisten und Libertären absieht.