Auszug aus dem Manifeste conspirationniste
Kapitel 2: Der Verschwörungswahn ist der Name des Bewusstseins, das nicht entwaffnet, Abschnitt 3: „Alles konspiriert“
‚Ich ist ein anderer.‘ Diese Wahrnehmung und Feststellung Arthur Rimbauds – die Version unserer Epoche für das vedische tat twam asi – ist wohl eine der Grundlagen, warum die Verfasser des Manifeste conspirationniste darauf verzichtet haben, ihre Namen preiszugeben. Eine andere ist, wie sie mit ihren Worten eine Aussage über unser aller Lage eines der Intention nach Staatsfeinds auf dem Lehrstuhl selbst erklären: ‚Es gibt aus der Verstrickung keinen Ausweg.‘ beziehungsweise weniger dotiert fatalistisch ‚Du hast keine Chance, aber nutze sie.‘ So hätten wir alle als gemeinsam Gefangene das ‚Manifeste‘, was ein ungewöhnliches ist – allein deswegen, weil es über dreihundert Seiten hat –, selber schreiben können. Aber die inadäquate Länge des Texts deutet schon an, daß es mit manifest-eigenen Handlungsanweisungen im Moment schwer ist, weswegen man neben dem Texteverfassen und -lesen eben das Handeln nicht vergessen sollte. Dennoch sei die Lektüre des Manifeste hier angeraten und ein übersetzter Auszug hier handgereicht. Man lernt beim Lesen immerhin vieles über die Wirklichkeit der Verschwörung.
Es hat etwas Verrücktes, zu sehen, wie sich die Verfechter eines Regimes, das aus den „dreizehn Komplotten des 13. Mai 1958“ geboren ist – die Fünfte Republik –, in einen Kreuzzug gegen den Verschwörungswahn stürzen.
Oder aber es ist im Gegenteil absolut logisch.
Nur diejenigen, die die Freuden und Mächte der Verschwörung in vollen Zügen genießen durften, können sich nun darum bemühen, diese für sich allein zu behalten.
Wenn Verschwörungstheorien so banal und so beliebt sind, dann deswegen, weil sie sich in ihrer Gänze durch diese beliebte Banalität begründen: Keine Macht erhält sich anders als dadurch, dass sie sich gegen diejenigen verschwört, über die sie ausgeübt wird – Lohnabhängige, Staatsbürger, Klienten, Bevölkerung, Patienten, Angeklagte oder Gefängnisinsassen. Ernsthafte Emanzipation gibt es wiederum einzig durch das Wachstum einer Kraft, die dunkel ist, weil sie unberührt bleibt von den Strahlen der Macht: also einer Verschwörung.
Ohne eine Miene zu verziehen, ordneten sie einen Kreuzzug gegen Verschwörungstheorien an. Diesem ging die während Jahrzehnten organisiert betriebene Verminderung historischen Bewusstseins als seine notwendige Bedingung voraus.
Auf unserer Seite sollten wir sicher die Unterscheidung zwischen Komplott und Verschwörung genauer fassen. Der Komplott evoziert das Bild der Verschworenen, die im selben Zimmer versammelt sind und ihrem expliziten und geteilten Willen folgend einen genauen Plan schmieden. Er beruht auf einem gemeinsamen Geheimnis, welches folglich ohne weiteres verraten werden könnte. Die Verschwörung hingegen hat es nicht nötig, dass sich ihre Mitglieder versammeln. Sie schwebt. Ihr Element ist die Luft. Ihre Eintracht bleibt stillschweigend, diffus, schwer zu fassen wie eine Idee. Eben das macht sie so gefährlich. Objektive Verschwörungen sind das Ergebnis von Reflexen, von Repräsentation, von sozialen Strukturen, und sie vermögen alle Hindernisse, die der Durchsetzung ihres Programms entgegenstehen, geschickter aus dem Weg zu räumen als sogar ein Komplott. Man wäre mit großen Schwierigkeiten konfrontiert, wollte man ihnen eine Herkunft nachweisen, ihnen einen Sitz zuordnen, einen ihrer Gegenstände isolieren. Die gegenwärtige Welt ist ohne jeden Zweifel das Ergebnis von zwei Jahrhunderten einer objektiven Verschwörung von Ingenieuren, die alles umfängt und nirgendwo ihr Zentrum hat. Was könnten sie auch anderes tun? Es ist ihre Natur. Sie müssten wenn schon aufhören, so ingeniös zu verfahren; sie müssten sich selbst verraten. Die Verschwörungen mit ihrem transversalen Charakter gehen über die bewussten Absichten der an ihnen Beteiligten hinaus. Vielleicht zerfallen sie in eine diskrete Vielzahl lokaler Komplotte. Nichts gleicht mehr einem konzertierten Manöver, einer zentralisierten Verschwörung als die Einhelligkeit der täglichen journalistischen Fälschung, die sich in erster Linie aus einem Struktureffekt ergibt, aus ideologischer Uniformität, aus sozialer Auslese, aus professioneller Unterwürfigkeit, welche allzu gut mit koordinierten Operationen der Manipulation harmonieren.
Vor allem muss der Konspiration ihre Aura des Außergewöhnlichen genommen werden. Die conspiratio ist im Lateinischen der Gleichklang, im musikalischen Sinn wie im Sinne der Übereinkunft zwischen den Wesen. In der Liturgie des frühen Christentums ist die conspiratio der Moment des osculum, des Kusses auf den Mund, den die Gläubigen austauschen. Sie werden so zu „einem einzigen Atemzug“, einem einzigen „Geist“. Der Kirchenhierarchie erschien das Ritual schon so früh so peinlich, dass sie es bald durch das fade „Frieden Christi“ ersetzte. Es überlebte nur in der mittelalterlichen Huldigung des Lehnsherrn durch seinen Ritter und auch heute noch unter den Mafiosi. Ein „Komplott“ ist im Altfranzösischen einfach eine Versammlung – eine Menschenmenge, ein Treffen oder eine Tischgesellschaft. Überall dort, wo Menschen die gleiche Luft atmen und den gleichen Geist teilen, entsteht eine Konspiration. Wo immer sie sich physisch versammeln, entsteht ein Komplott, zumindest potenziell. Dass diese Begriffe mit einer unheilvollen Bedeutung aufgeladen wurden, zeugt nur vom schweren Gewicht des Staates, das in unserem Vokabular liegt und folglich auch in unserem Blick auf die Welt. Denn nur aus Sicht des Staates stellt jede einzelne Verständigung und jede Versammlung eine Bedrohung dar.
Das Vermögen zur Verschwörung ist aller Existenz inhärent.
Es ist sogar das Zeichen von allem, was lebt.
Wenn alles lebt, dann deshalb, weil „alles konspiriert“, sagten die Stoiker.
Es gibt keine transparente menschliche Realität und kein transparentes Leben.
Hinter der Darstellung aller Dinge und der Erfassung alles Seins bleibt ein Rest.
Alles Durchsichtige ist in Undurchsichtigkeit eingepresst.
Wo Bühne und Zuschauer sind, sind Kulissen und Maschinen.
Wo ein Feld ist, ist auch ein Jenseits des Feldes.
Wo es offizielle Politik gibt, gibt es Geheimdienste.
Das Organigramm der Organisationen sagt letztlich wenig aus über die echten Hierarchien in Unternehmen, in Parteien, in Verbänden.
Eine Epoche, in der alle Sphären des Lebens ausgeleuchtet und publik gemacht sind, kann nur eine Epoche sein, in der sich der Komplott seinerseits in jeden Winkel der Existenz eingeschlichen hat.
Der Wahnwitz besteht nicht im Verschwörungsglauben, sondern im Unter-Verschwörungsglauben: darin, nur einen großen Komplott wahrnehmen zu wollen, wo es doch unzählige gibt, die sich in allen Richtungen zusammenbrauen, zu jeder Zeit und überall.
Nicht nur die Mafia vom Corps des Mines, die Athanor-Loge oder die Netze von Françafrique verschwören sich in Frankreich.
Jedes Mal, wenn Freunde offen miteinander reden, jedes Mal, wenn zwischen Menschen etwas passiert, auf der Straße, im Café oder in der Musik, haben wir es mit dem Beginn einer Verschwörung zu tun.
Wer Verschwörung sagt, meint nicht notwendigerweise gemeinsames Verhalten, sondern die Möglichkeit eines gemeinsamen Verhaltens.
Wie viele Streiks sind das Ergebnis von einem Glas Wein zu viel im Bistro, von einem zufälligen Gespräch an der Kaffeemaschine?
Schaut genau hin: Es gibt kein Abenteuer mit Gehalt, keine lebendige Revolte, keinen durchschlagenden Versuch, der seine Wurzeln nicht in der konspirativen Dimension der Existenz hätte.
Die Intriganten, die den Staat übernommen haben, sind entsetzt über jedes noch so geringe Einverständnis, das sich zwischen den Wesen entspinnt.
Daher die verbissene Anstrengung der letzten Jahre, alle physischen Orte zu leeren, an denen wir uns sammeln, sie zu schließen, zu überwachen, uns zwischen vier Wänden einzusperren – mit oder ohne Garten.
Daher die unter anderen Umständen unbegreifliche, wilde Rage des Staates gegen die Nachtschwärmer.
Jedes Chaos Engineering ist besser als das.
Die algorithmische Transparenz von Beziehungen zwischen Wesen seit dem Aufkommen von Smartphones und Ubiquitous Computing, gekoppelt an die Rückeroberung des öffentlichen Raums durch die Polizei, ist Ausdruck ebendieses Fiebers.
Denn alles schreit in seiner vollendeten Katastrophenhaftigkeit nach dem Umsturz der bestehenden Ordnung.
Deshalb ist unter dem Vorwand, eine Epidemie zu bekämpfen, eine bestialische präventive Konterrevolution in vollem Gange.
Für Unschuldige wird das immer schwer zu glauben sein.
Übersetzung: 16.2.2022
Weitere Übersetzungen: