Kommentar einiger Stellen des konspirationistischen Manifests
Referat bei der Veranstaltung zum Konspirationistischen Manifest im Jockel am 2. Juni aus. Weitere Zettel, Referate, Bericht und Kommentar rund um diese Veranstaltung gibt es hier.
Im folgenden sollen anhand einiger Zitate aus dem Konspirationistischen Manifest drei zentrale Punkte vorgestellt werden, die mir für das Verständnis des Textes relevant erscheinen.
(1) Die Seele als Hauptangriffspunkt der Herrschaft
(2) Die Erfahrung als Rekonstituierung der Seele
(3) Die Verschwörung als Ansatzpunkt der Desertation aus den herrschenden Verhältnissen.
(1) Die Seele als Hauptangriffspunkt der Herrschaft.
Seite 182 – 2. Der Krieg gegen die Seelen
Margaret Thatcher, die Tochter eines Methodistenpredigers, rutschte in einem Interview anlässlich ihrer zweijährigen Mahtübernahme Folgendes heraus: „Die Wirtschaft ist die Methode; das Ziel ist es, die Seele zu ändern.“
Als Gorki in sein Geburtsland zurückkehrte, belehrte Stalin, ein ehemaliger Student des Priesterseminars, die zu Ehren des Schriftstellers versammelten Intellektuellen mit seinem berühmten Einwurf: „Die Produktion von Seelen ist wichtiger als die Produktion von Panzern […]. Der Mensch wird durch seine Existenz neu erschaffen, und ihr müsst behilflich sein bei der Neuerschaffung seiner Seele. Das ist das Wichtige, die Produktion menschlicher Seelen. Und deshalb erhebe ich das Glas auf euch, Schriftsteller, auf die Ingenieure der Seele.“
Wenigstens in der Frage der Seele waren sich Thatcher und Stalin einig. Wahrscheinlich auch in einigen anderen. Diese Seelensache ist heute mehr denn je eine politische, ja sogar eine strategische Frage.
Kaum eine Frage wird so missverstanden wie diese. […] Man neigt dazu, die Seele als den Inbegriff der Innerlichkeit und damit als etwas höchst individuelles zu betrachten. […] Die Seele gehört aber tatsächlich gänzlich zum von Beziehungen bestimmten und kosmischen Charakter des menschlichen Säugetiers. […] es bedeutet, an dem teilzuhaben, was uns umgibt.
Anmerkungen:
Das Manifest schlägt damit einen radikalen Perspektivwechsel vor. Nämlich die globale kapitalistische Welt nicht in erster Linie unter dem Gesichtspunkt des Kapitalismus, also der Ökonomie oder der politischen Akteure, die uns scheinbar permanent verarschen, versuchen zu verstehen. Der Kapitalismus bleibt unser Hauptproblem, aber die Kritik der politischen Ökonomie bringt uns bei seiner Überwindung nicht weiter. Deshalb müssen wir ihn unter dem Aspekt der Seele begreifen: Wie produziert unsere westlich-moderne Zivilisation Seelen?
Die Seele lässt sich behelfsmäßig unter dem, was gemeinhin in linker Theorie unter dem Begriff des Subjekts gegriffen wird, verstehen. Es geht also um Verhalten, Bewusstsein, Psychologie, Verstand/Vernunft, Emotionen, Affekte und Zugriff auf das erkenntnistheoretische Denken der Menschen.
Die Seele ist also keine esoterische Größe. Sie ist konstitutiv relational mit anderen Menschen und der Umwelt, also eine bestimmte Form lebendig zu sein und sich in ein Verhältnis zu seiner Umgebung zu setzen.
Der Neoliberalismus als Ideologie hat das verschärft, was das Manifest mit der Moderne aufkommen sieht und in der Covid-Pandemie zu seinem Höhepunkt gefunden hat: Nämlich den Prozess die Subjekte nicht mehr zum Handeln zu zwingen, sondern sie zum vermeintlich freien Handeln zu führen, wobei die „freien“ Entscheidungen oft mit den Interessen der Herrschenden übereinstimmen. Dafür braucht es Herrschaftsmechanismen, die das Milieu, die Umwelt, die Lebenswelt des Einzelnen, unsere Empfindungen, in diesem Sinne gestaltet. Gerade angesichts der instabiler werdenden Welt ist diese Form der in die Menschen hineinverlagerten Herrschaft, wichtiger denn je, um den Auswirkungen dieser Instabilitäten Herr zu werden.
Von diesem Punkt aus können wir all die materiellen Technologien in den Blick nehmen, die auf unsere Seelen zugreifen. Für die SchreiberInnen sind dies insbesondere die kapitalistische Infrastruktur, die Metropole als sozialer und architektonischer Raum und die Sozialtechniken, die auf unsere Psyche (sie würden eher Seele sagen, weil Seele für sie die Einheit von Körper und Geist ist) abzielen.
Insofern geht es darum zu desertieren, den nötigen Abstand von all dem gewinnen, was unsere Seelen so zurichtet, dass wir uns dem Gesetz des Kapitals (freiwillig) unterwerfen, um uns aus dieser Distanz die nötige Luft zum atmen und denken zu verschaffen.
(2) Die Erfahrung als Rekonstituierung der Seele
Seite 192 – 3. Das Virus der Szession und das sich entwickelnde Schisma)
Es ist ein Schisma am Werk, das sich immer weiter vertieft. Eine Teilung, die keiner von außen anerkannten oder erkennbaren Linie folgt. […]
Diejenigen die am stärksten entfremdet schienen, erweisen sich plötzlich als die Freiesten.
Diejenigen, die man für besonders gesetzestreu hielt, sind zu den verwerflichsten Gesetzesbrüchen bereit.
Der histortische Bruch folgt den intimsten Bruchlinien im Inneren der Menschen.
„Das Leben der neuen Menschheit findet in der Revolution statt, die Revolution wird aus dem Schisma geboren“, schrieb Amadeo Bordiga, der die Kommunistische Partei Italiens gründete, bevor er ihr eloquentester Kritiker wurde, am Ende seines Lebens in seinem Artikel „Die Zeit derer, die dem Schisma abschwören.“
Die Revolutionen wollten nie „das Wohl der Menschheit“ erreichen – was auch immer ihre großen, zweckdienlichen Erklärungen gewesen sein mögen. Wer „das Wohl der Mescnhheit“ herbeführen will, führt ein Sanatorium und keine Revolution herbei. Revolutionen wollten immer mit einer Existenzform Schluss machen, mit einer Art von Menschheit, die erstickend geworden war.
Seite 195
Das Schisma besteht also zwischen zwei Arten von „Wir“. Das repräsentative „Wir“ derjenigen, die ein Attribut teilen – Schweizer, Polizist, Jäger, LGBTQIA etc, auf Grund dessen sie Repräsentanten, Abgeordnete, Sprecher, Ikonen, Rechte oder Gewerkschafter haben können, und das erfahrungsbasierte „Wir“ derjenigen, die ein Erlebnis teilen und sich im Sprechen, in einer Geste oder in der Geschichte von jemandem wiederfinden. Überall in dieser Zeit werden die repräsentativen „Wir“ von den erfahrungsbasierten „Wir“ überschwemmt, die so plastisch, so instabil, aber so kräftig sind. Die Bewegung der Gelbwesten ging typischerweise von einigen viral gegangenen Videos von Einzelpersonen aus, die sich allein vor der Kamera zum Ausdruck brachten, deren Worte jedoch die gemeinsame Erfahrung wiedergaben. Sie minderte keinesfalls die Herausbildung eines erfahrungsbasierten „Wir“ von seltener Intensität, das verlangte, all jene gnadenlos zu verschlingen, die sich zu irgendeinem Zeitpunkt zu seinem Vertreter machen wollten. Die repräsentantiven „Wir“, auf denen diese Gesellschaft aufgebaut ist, verstehen diese historische Eruption der experimentellen „Wir“ nicht. Sie sind darüber buchstäblich entsetzt, traumatisiert und empört.
Anmerkungen:
Viele von uns teilen sicherlich die eingangs formulierte Erfahrung der Teilung, die so unverständlich war für uns, weil sie keinen vorhandenen Kategorien in unseren Köpfen entsprachen. Diese Erfahrung war eine beidseitige. Entsprechende Vorwürfe gegen diejenigen, die sich der Covid-Politik unterwarfen bzw. begeistert mitmachten, waren dann schnell „Angst“, „Dummheit“, „Feigheit“ o.Ä. Von der anderen Seite kamen Vorwürfe wie „zynisch“ oder „verantwortungslos“.
Die AutorInnen versuchen jenseits dieser individualistischen Schuldzuschreibungen, die nur Ausdruck, aber nicht Grund sind, dieses Phänomen als ein politisches zu begreifen. Die Mechanismen werden in Punkt (1) nur kurz angeschnitten, im Manifest nicht erschöpfend aber ausführlich dargelegt. In diesem Zitat wird die Teilung politisch beschrieben als ein erfahrungsbasiertes und ein repräsentatives Wir, dass sie am Beispiel der Gelbwesten beschreiben, aber aktuell überall auf der Welt in den globalen Aufständen, aber auch im Kleinen, wie beispielsweise den Silvesterkrawallen in Berlin zu beobachten ist.
Dabei geht es nicht darum, zu behaupten, dass es egal sei, ob du beispielsweise Frau oder Schwarz bist; die Unterdrückung und Ausbeutung dahinter existiert. Aber es geht darum nicht auf Grund dieser Attribute sich zuordnen zu lassen bzw. sich selber zuzuordnen. Denn diese Zuordnung wird durch die Herrschenden produziert. Dass du Frau bist ist nur im Interesse der Herrschenden. Klassisch könnte man sagen: Es geht nicht um die Diktatur des Proletariats, sondern um die Aufhebung aller Klassen. Die Repräsentation entfremdet deine Seele von dir selber und deinem Umfeld, weil man sich durch Attribute, die ja unserem Handeln vorausgehen, bereits einer bestimmten Umwelt, einer Erfahrungswelt oder einem Milieu, zuordnet.
Das erfahrungsbasierte Wir ist eines, das wie im Zitat beschrieben, relativ simpel von einer gemeinsamen Erfahrung ausgeht, einer gemeinsam konkret erlebten Unterdrückungs- oder auch lebensweltlichen Erfahrung.
Insofern geht es darum, eben allen Attributen, die uns der Gesellschaft zuordnen, zu verweigern. Das ist mit Konspiration gemeint. Allerdings ist diese Konspiration wie zitiert, instabil. An anderen Stellen im Manifest ausgeführt geht es nicht darum die nächste Gruppe zu finden in der man sich wohlfühlt, es geht nicht darum neue Freundschaften zu finden. Die Konspiration ist ein Suchen nach der gemeinsamen Erfahrung, die auch scheitern kann, weil man in Streit gerät oder merkt, dass die gemeinsame Erfahrung doch nur ein Attribut war; z.b. wir sind doch alle Schwurbler. Also eine sehr bescheidene und ernüchternde Schlussfolgerung angesichts der Positionierung der AutorInnen: Dieses Schisma ist (1) historisch und (2) Wir werden siegen; das heißt: die Revolution wird siegen.
(3) Die Verschwörung als Ansatzpunkt der Desertation aus den herrschenden Verhältnissen.
Seite 199 – 4. Sich verschwören, also
Das gegnerische Projekt ist aussichtslos, aber es ist mit erprobten Strategien, gewaltigen Mitteln und einem fanatischen Willen bewaffnet. Angesichts dessen reicht es nicht aus zu desertieren.
Es handelt sich um einen Krieg. Ein Krieg erfordert Strategien, eine Rollenverteilung und den Einsatz materieller und subjektiver Ressourcen. Nun besteht das allen tätigen und strategischen Aufgabenstellungen eigene Paradox darin, dass ihre öffentliche Formulierung ihrer praktischen Umsetzung entgegensteht.
Und so stehen wir am Ausgang dieses bescheidenen Manifests vor einer Art logischer Aporie.
Entweder man veröffentlicht eine revolutionäre Strategie und kann sie nicht umsetzen oder man formuliert keine Strategie und findet sich mit der Darlegung von Feststellungen, Analysen und Geschichten ab.
Wenn wir es ernst meinen, können wir zu keinem anderen Schluss kommen als zu methodischen Überlegungen, Methoden im Aufbau von Kräften, die im Stande sind, die notwendigen Strategien zu entwickeln, zu tragen und anzuwenden.
Anmerkung:
Das gegnerische Projekt hat uns also auf den Punkt zurückgeworfen, dass alle vermeintlichen Gewissheiten ad-acta gelegt werden müssen und wir auf die Konspiration als Praxis zurückgeworfen sind: Keine Bewegung, die den jetzigen Zustand aufhebt, keine revolutionäre Strategie, keine Kräfte, die in der Lage wären den globalen Kapitalismus zum Teufel zu jagen. Und nichtsdestotrotz meinen die AutorInnen es ernst: Wenn der Gegner aktuell so stark, so fanatisch ist, sich in einem Krieg [!] befindet, uns aber die Kräfte und Strategien fehlen, dann kann es aktuell nur darum gehen, sich Gedanken darüber zu machen, wie man diese Kräfte wieder herstellt und wie man Bedingungen schafft in denen überhaupt erst wieder Strategieentwicklung möglich ist. Das ist gleichzeitig sehr wenig aber gleichzeitig sehr viel verlangt. Verpflichtet es uns doch darauf, nicht zu behaupten, wir hätten die Wahrheit, wir wüssten wo es lang geht, sondern im Gegenteil auf eine offene Suche nach MitkonspirationistInnen und Disziplin und Ausdauer in der Analyse der herrschenden Verhältnisse.