Über bedenkliche Tendenzen in jüngsten Veröffentlichungen der BAHAMAS-Redaktion
Horst Pankow: Die Propaganda, der Kitsch und der Krieg – Teil II
Der Hinweis, bei der Beurteilung eines außenpolitisch agierenden staatlichen Souveräns komme es für linksradikale Kritiker staatlicher Souveränität darauf an, die eigene strategische Ausgangsposition – Kritik zum Zwecke der Abschaffung von Staatlichkeit – niemals aus dem Blick zu verlieren, mag banal und überflüssig erscheinen. Doch so ganz selbstverständlich dürfte die von einem solchen Hinweis geforderte grundsätzliche Negation nur für jene Linksradikalen sein, die ungeachtet jeder aktuellen Ausprägung der Konstellation internationaler Konkurrenz und in Absehung der konkreten Konstitution und Interessenlagen der konkurrierenden Staaten einzig das alle Konkurrenten einigende Prinzip der Verwaltung blind sich vollziehender Wertverwertung vor Augen haben. Diese geraten nur allzu leicht in die Lage, in der Dunkelheit fetischistischer Barbarei einer speziellen Form von Nachtblindheit anheimzufallen, welche das Erkennen des konkreten Verlaufs postimperialistischen Geschichtsvollzugs unmöglich macht. In den Texten der Krisis-Autoren beispielweise wird nicht erst seit dem 11. 9. 2001 das weltgesellschaftliche Verhängnis wieder und wieder geselbstmordet (1), damit es bis zu den nächsten Veröffentlichungen wieder auferstehen kann, um dann in apokalyptischen Schreckensbilder, die oft an die Weltuntergangsvisionen deutscher Expressionisten vor dem 1. Weltkrieg erinnern, wieder unterzugehen, um sodann ... Auch so kann pseudoradikaler Revolutionskitsch erzeugt werden.
Für antideutsche Linke hingegen scheint mir der Hinweis auf die kommunistische Zwecksetzung m. E. überhaupt nicht banal und überflüssig. Das ergibt sich schon aus dem von uns mit Bedacht gewählten Attribut. Aus der Erkenntnis, das volksgemeinschaftliche Vergesellschaftungsmodell des postfaschistischen Deutschlands könne in einer Situation der weltweiten Krise traditioneller Akkumulation und Verwertung als „wegweisendes Vorbild“ (2) dienen, ergibt sich mit Konsequenz der Wunsch, andere, nicht vom Nationalsozialismus ‚revolutionierte‘ oder nicht vom Geist der Volksgemeinschaft faszinierte Staaten möchten sich der Ausbreitung des deutschen Modells erfolgreich entgegenstellen. Sowohl der Wunsch als auch das Verharren der ihm zugrundeliegenden Absicht in der Form des Wunsches sind Folgen der realen Schwäche und Ohnmacht der antideutschen Position. Um sich nicht der Dynamik des Wunsches auszuliefern, die sich psychoanalytischer Erkenntnis zufolge auch in Träumen und Tagträumen erschöpfen kann, besteht – um ein Adornosches Aperçu zu variieren – unsere schier unlösbare Aufgabe darin, uns von der Macht der Deutschen nicht zu Tagträumern machen zu lassen.
Der wichtigste Schritt zur Bewältigung dieser Aufgabe wäre zunächst einmal der kritische Nachvollzug der Attraktivität des deutschen Modells in der Welt. Bei manchen osteuropäischen Nationalismen, bei nahöstlichen steckengebliebenen Modernisierungsdiktaturen wie den Baath-Regimes, beim palästinensischen Staatsprojekt und beim international agierenden Islamismus mit seinem unverhüllten Vernichtungsanspruch gegenüber allem – als „jüdisch“ oder „zionistisch“ identifizierten – Besonderen scheint dieser Nachvollzug einfach. Er ist in der Tat einfach, weil die empirischen Belege als ‚positive‘ Ergebnisse von Geschichtsanalyse und Gegenwartsbetrachtung leicht zu bekommen sind. „Wegweisendes Vorbild“ bedeutet aber doch mehr. Diesen Terminus hatten wir eingeführt, um angesichts der weltwirtschaftlichen Verwertungskrise in Permanenz auf die bei nichtstattfindender Aufhebung kapitalistischer Ökonomie sich vollziehenden Transformationen auch innerhalb der traditionell nicht völkisch und romantisch konstituierten Nationalstaaten hinzuweisen. Die Verwertungskrise mit ihrer rasanten Entwertung des variablen Kapitals in den ökonomischen Zentren und der Verunmöglichung einer Inwertsetzung potentieller Arbeitskraft an den Peripherien – so unsere Schlussfolgerung – führt mit großer Wahrscheinlichkeit zu einer sich verbreiternden Adaption des deutschen Modells. Die Umwandlung des juristischen Verhältnisses von - Arbeitszeit gegen Lohn - Tauschenden, von durch die Ideologie eines „Gesellschaftsvertrages“ zu Gunsten eines vorgestellten gegenseitigen Nutzens miteinander verbundenen Staatsbürgersubjekten in Führer und Gefolgschaft und damit die forcierte Entwicklung pseudokollektivistischer Gesellschaften, die durch den Anspruch auf Anteil am vorhandenen Reichtum qua Existenz zusammengehalten werden, schien uns zu Recht die Tendenz der weiteren Entwicklung der Staatenwelt zu kennzeichnen. Wenn wir diese Einschätzung ernst nehmen, müssen wir davon ausgehen, dass eine solche objektive Tendenz auch die in der Vergangenheit - und z. T. noch in der Gegenwart - existierenden Unterschiede zwischen dem ‚klassischen‘ bürgerlichen Verwertungsmodell und der einstigen deutschen Besonderheit nivellieren wird. Und dann sind auch die USA von dieser Tendenz betroffen.
Kommt es zu einer Verschärfung der Konkurrenz zwischen den USA und der deutsch dominierten EU ist die Angelegenheit für Antideutsche zunächst einfach. Das gilt auch für die derzeitigen Differenzen der beiden Weltmächte bezüglich des Nahen Ostens. Die Kommentierung des US-Aufmarsches gegen den Irak durch die regierungsnahen Medien – und regierungsnah sind sie mit Ausnahme der Springer-Produkte (3) in dieser Angelegenheit wohl alle – ist nicht nur identisch mit der durch die Friedensbewegung, die von ihnen aufgeführten Gründe gegen einen Krieg der USA gegen den Irak lesen sich mittlerweile schon wie die Gründe für einen (künftigen) Krieg Europas gegen die USA: „Eine solche [von den USA angestrebte, H.P.] Marktneuordnung muss auf alle anderen Öl-Verdiener und Energieproduzenten höchst irritierend wirken. Werden nicht-amerikanische Firmen im Irak noch eine Chance haben ... ? Werden sich Investitionen in teuer zu erschließende Ölfelder – etwa in Sibirien, Mexiko, Norwegen oder Angola noch lohnen? Wäre es noch wichtig, Kaspi-Öl durch das unbefriedbare Afghanistan zu transportieren? Nicht zuletzt würde ein Ölpreis-Sturz das Schicksal des weltweiten Klimaschutzes auf Jahre besiegeln. Wer wollte schon fossilen Brennstoff sparen, wenn er als Schnäppchenangebot zur Verfügung steht? Auch um die Wettbewerbschancen erneuerbarer Energien stünde es mit einem Schlag denkbar schlecht. Alle Anstrengungen Deutschlands, sich mit Hilfe diversifizierter Energieimporte und –quellen vergleichsweise unanfällig für Hochpreiskrisen zu machen, wären zumindest auf absehbare Zeit vergebens gewesen ... ‚America first‘ lautet der Kernsatz der Politik Bushs. Das gilt zuallererst für die sichere und billige Versorgung des eigenen Landes mit dem wichtigsten Rohstoff für den Erhalt der Größe der Supermacht wie der alltäglichen Lebensart. ‚Kein Blut für Öl‘ sagten 1990 die Gegner des ersten Golfkrieges. Der Satz hat seinen Sinn nicht verloren.“ (4) Wo so unverschämt eindeutig deutsche Wirtschaftsinteressen (5) als die antiamerikanischen, die sie tatsächlich sind, aufgezählt werden, wo so dreist-dümmlich deutsch-europäische Bestrebungen nach autarker Energieversorgung („fossiler Brennstoff“, „erneuerbare Energien“) mit dem Propagandamittel „Klimaschutz“ vorgetragen werden, fällt eine Positionierung gegen das Unisono von eingestandenen Anhängern der Regierung und scheinoppositioneller Friedensbewegung zumal für Antideutsche nicht schwer. Außerdem würden wir es ja nicht bedauern, wenn das Husseinsche Baath-Regime fallen würde, vielleicht würde dadurch auch die Sicherheitslage Israels verbessert werden. Letzteres müsste allerdings ebenso gründlich nachgewiesen – und nicht nur behauptet – werden wie die Realisierungsmöglichkeiten der in der redaktionellen Erklärung konjunktivisch vorausgesagten weiteren erfreulichen Entwicklungen.
Die sich hier stellende Frage lautet: Bedeutet eine Parteinahme gegen Deutschland auch eine Parteinahme für dessen Konkurrenten, eine Parteinahme, die auch eine – unseren Mitteln gemäße – aktive Parteinahme wäre? Eine positive Beantwortung dieser Frage beinhaltete m. E. den analytisch begründeten Ausschluß der Anfälligkeit dieser Konkurrenten gegenüber den Verlockungen des „wegweisenden Vorbilds“. Es sind dies ja Verlockungen, die sich aus der inneren Dynamik der Krisenhaftigkeit auch der mit Deutschland konkurrierenden Nationalstaaten ergeben. (6) Die USA sind davon nicht ausgenommen. Wie weit kann also im derzeitigen Zustand der Vereinigten Staaten noch – wie es bei unserer letzten Diskussion wiederholt konstatiert wurde - eine „Restvernunft“ ausgemacht werden, die es uns aus „revolutionstheoretischem Interesse“ nicht nur erlaubt, sondern sogar gebietet, sowohl den antiirakischen Aufmarsch als auch den „war on terrorism“ vorbehaltlos zu begrüßen?
In unterschiedlichen antideutschen Texten der letzten Zeit wird hinsichtlich des in ihnen behaupteten Restes traditioneller bürgerlicher Vernunft im politischen Leben der USA eine seltsame Gegenüberstellung betrieben: Auf der einen Seite werden unsympathische Phänomene wie Kommunitarismus, political correctness, christlicher Fundamentalismus und hier und da vielleicht noch anderes in der Minusspalte aufgelistet, der Plusspalte der Vergleichstabelle kann man vor allem entnehmen, dass die USA nicht so sind wie die Islamischen, sie diese sogar bekämpfen und für Israel eintreten, außerdem ein ominöses „Glücksversprechen“ (7) oder zumindest ein Rest oder gar nur ein „Widerschein“ davon seinen bescheidenen Glanz entfalte. Den meisten dieser Bilanzierungen mangelt es an thematischer Kohärenz und innerer Schlüssigkeit; sie zeichnen sich vor allem durch eine Eigenschaft aus, die linken Kritikern sonst am affirmativen Staatsbürgerbewusstsein auffällt: Das Urteil über einen Sachverhalt steht fest, lange bevor man sich der Mühe unterzieht, Begründungen zu finden und diese nachzureichen. Einiges spricht leider dafür, dass solcherart unausgegorene Bekenntnisse auf der Grundlage von elaborierteren und geistreicheren Erklärungen entstanden sind, wie die folgenden Passagen aus der redaktionellen Erklärung nahelegen: „Die Armen werden keinen Deut wohlhabender, wenn sie sich der Weltphalanx gegen Amerika, bestehend aus grantelnden Deutschen, blutrünstigen Islamisten und Zivilisationsverabscheuern aller Coleur in die Arme werfen, außer man glaubte ernsthaft, ein mit islamistischen oder anderer völkischen Erweckungslehren zugemülltes Gehirn würde über den leeren Magen triumphieren.“ Stimmt genau, nur werden sie auch kein bisschen wohlhabender, wenn sie sich irgendeiner demokratischen – Phalanx wäre hier wohl das falsche Wort – Allianz anschließen würden, und darüber, dass ein von demokratischen Heilslehren „zugemülltes“ Gehirn in den meisten Weltgegenden ohne ‚Bonität‘ so wenig reale Existenzmöglichkeiten vorfindet wie ein islamistisches, kann auch der anschließende Satz nicht hinwegtrösten: „Die Welt im Griff dieser moralischen Antikapitalisten würde weder sauberer noch satter: Sie würde den Gedanken an individuelles Glück endgültig vergessen machen und statt dessen eine ewige Jagd nach Schädlingen und Zersetzern aufs Programm setzen.“ Stimmt ebenfalls genau, doch das Ticket für die Teilnahme am pusuit of happiness hat eine ziemlich exakte Kennzeichnung: Money. Und die in kapitalistischen Gesellschaft üblichen metaphorischen Umschreibungen „armer Hund“ und „armes Schwein“ – um nur zwei Beispiele zu nennen – drücken aus, dass die Abwesenheit von Geld den Ausschluß aus der menschlichen Konkurrenzgesellschaft und damit die Verweigerung der Teilnahme bei der Jagd aufs große oder kleine individuelle Glück besiegelt. Daß dies die Voraussetzung der anderen Jagd, der auf „Schädlinge und Zersetzer“ sein kann, diese Jagd politisch-programmatischen Ausdruck auch im Westen finden kann, darüber sollte bei uns wohl kein Zweifel bestehen.
Es dürfte wohl auch kein Zweifel darüber bestehen, auf wen sich das folgende Zitat eines Jungle-World-Artikels von Anton Landgraf bezieht: „Wer in dieser Entwicklung [dem antiirakischen Aufmarsch, H.P.] die ‚List der Geschichte‘ am Werk sieht, muss allerdings eine Antwort auf die Frage haben, wohin die Reise geht. Die Etablierung bürgerlicher Verhältnisse diene als Voraussetzung emanzipatorischer Politik, denn nur dann sei es möglich, irgendwann die kapitalistischen Verhältnisse zu überwinden. Fraglich ist diese These schon deshalb, weil damit implizit die Möglichkeit einer nachholenden Entwicklung vorausgesetzt wird. Was aber wäre, wenn diese Voraussetzungen schon längst nicht mehr gelten? Wenn die nachholende Akkumulation gar nicht mehr möglich ist? Wenn selbst Staaten wie Argentinien wegen der Weltkrise kollabieren, warum soll dann der Mittlere Osten ausgerechnet durch einen Krieg in ein prosperierendes Gebiet verwandelt werden?“ (8) Der frühere BAHAMAS-Autor, der die Adressaten seiner Fragen vielleicht aus dem guten Grund, eine gewisse, heutige MitarbeiterInnen möglicherweise irritierende, Episode seines früheren Lebens verschweigen zu wollen, nicht beim Namen zu nennen wagt, stellt gleichwohl drei richtige Fragen. Auch wenn man die Verwandlung des Mittleren Ostens in ein „prosperierendes Gebiet“ nicht für einen ausschlaggebenden Grund antideutscher Unterstützung eines US-Militärschlages hält, bleibt dennoch offen, welche positiven Effekte man denn von solchen Aktivitäten erwartet. Zunächst sind keine zu erkennen, denn anders als in der Erklärung behauptet, dürfte die Sicherheitslage Israels sich nicht wesentlich verbessern, weil Iraks feindlicher Nachbar Iran, der wesentlich aktiver bei der Unterstützung des palästinensischen Terrorismus agiert, einer der Hauptprofiteure einer Beseitigung des irakischen Baath-Regimes sein wird. Überhaupt fehlt unsererseits eine Einschätzung der Spekulationen über die Gestaltung des Irak nach dem geplanten Krieg – US- oder internationales Militärregime, Aufteilung des Landes in zwei föderative Bundesstaaten, Verteilung von Territorium an Nachbarstaaten oder alles zusammen oder was ganz anderes ...
Um Mißverständnissen vorzubeugen: Ich würde einen Sturz der derzeitigen irakischen Herrschaft selbstverständlich überhaupt nicht bedauern. Um die Durchführung dieses Sturzes durch die USA begrüßen und unterstützen zu können, sollten aber nicht nur die oben angeführten Fragen zuvor geklärt sein, sondern auch die folgenden:
Liegen die Gründe für das derzeitige Agieren der USA beim Irak oder bei der Initiativmacht selbst? Das heißt: Stellt der Irak wirklich die von den USA behauptete Weltbedrohung dar oder braucht die derzeitige US-Regierung einfach einen schnell zu erlangenden und die übrige Staatenwelt ebenso wie das innenpolitische Publikum beeindruckenden Erfolg? (9)
Welche zukünftigen Konsequenzen wird die neue außenpolitische US-Doktrin des „Präventivschlages“ zeitigen. Hat die Gestaltung dieser Doktrin – zumindest in ihrer rhetorischen Rechtfertigung – nicht Anleihen bei der in der 90er Jahren von deutsch-Europa beharrlich und schließlich erfolgreich gestellten Forderung nach einem Präventivschlag gegen „die Serben“ genommen. Wird deutsch-Europa nicht schießlich die US-Doktrin inhaltlich beerben und unter Berufung darauf seinerseits eigene Präventivkriege führen?
Weil man die von mir in diesen Text implizit aufgestellte Behauptung einer grundsätzlichen Nichtberechenbarkeit auch der US-Politik selbstverständlich nur als Tendenz, die jeder spätbürgerlichen Gesellschaft und ihrer Politik innewohnt, deduzieren kann, kommt es für ihren Nachweis ebenso wie für den Nachweis des Gegenteils auf die Bewertung aktueller Entwicklungen und Vorkommnisse an: Daraus ergeben sich dann die folgenden Fragen:
Wie ist es mit dem US-Interesse an „Selbsterhaltung“, das ja in der Erklärung als Ausweis der „Kalkulierbarkeit“ angeführt wird, bestellt? „Selbsterhaltung“ war schließlich auch das Motiv für all die barbarischen antikommunistischen Aktivitäten der US-Außenpolitik, aus Gründen der „Selbsterhaltung“ stattete man Militärgorillas, Contras, Mudjaheddin und nicht zuletzt auch den heutigen „Schurken“ Saddam Hussein mit (Vernichtungs-)Waffen aus.
Kann man mit Recht davon ausgehen, dass bei den Eliten der USA – wie in der letzten Diskussion von einigen behauptet – ein „Umdenken“ stattgefunden hat oder derzeit stattfindet? Ist es wirklich so, dass die von jedem moralischen Beurteilen freie Außenpolitik der USA gegen sozialreformerischen und/oder –revolutionäre Bestrebungen durch eine explizite Umorientierung zu Ungunsten des Islam ersetzt wird oder werden wird? Dies müsste anhand aktueller Fakten empirisch belegt werden. Der Verweis allein auf S. Huntington reicht dazu m. E. nicht aus, denn „The Clash of Civilizations“ ist schon ein paar Jahre alt und dessen Bedeutung wird heute selbst von seinem Autor ziemlich niedrig gehängt (10). Wie ist in diesem Zusammenhang die US-Politik gegenüber Afghanistan zu bewerten, die zwar eine Zerschlagung der Taliban-Herrschaft mit sich brachte, die aber auch das auf deutsche Initiative von einer Stammesversammlung installierte ‚moderat‘-islamische Karsai-Regime inklusive Sharia, Religionsministerium und –polizei akzeptiert?
Wie kann überhaupt das „revolutionstheoretische Interesse“ formuliert werden, das uns motivieren soll nach einer „Restvernunft“ in der US-Politik zu fahnden. Reicht nicht die Feststellung eigener Schwäche, die es bewirkt, dass wir darauf angewiesen sind, dass andere mit ihren eigenen – für uns unzureichenden und m. E. unberechenbaren – Mitteln gegen die islamische Barbarei vorgehen, aus?
Vielleicht ist es sinnvoll, am Ende noch einmal auf Lenin zurückzukommen. Einerseits, weil so zum Schluß eine Verbindung zu meiner Propagandakritik im ersten Teil hergestellt werden kann (obwohl ich mir eine solche formalistische Eitelkeit auch sparen könnte), andererseits weil in unserer letzten Diskussion die Bestimmung „revolutionstheoretischen Interesses“ mit Lenin und seiner bemerkenswerten Fähigkeit „Tagesaufgaben“ (ich bin nicht mehr sicher, ob dies die genaue Formulierung war, aber in die Richtung ging’s schon) zu formulieren verknüpft war. Lenin stellte seine „Tagesaufgaben“ unter das Primat des Herankommens an etwas, was er für „proletarische Revolution“ hielt. Dies versetzte ihn in den Stand einer Art intellektueller Freiheit, deren Simplifizierung als Skrupellosigkeit dem Phänomen, das immerhin Generationen späterer „Revolutionäre“ prägen sollte, wohl nicht gerecht würde. Lenins Begeisterung für das deutsche Postwesen, dessen Organisation er als vorbildlich für den Betrieb einer „Diktatur des Proletariats“ begriff, mag heute zurecht dem Verdikt des Schmunzelns überantwortet werden. Seine – selbstverständlich von der Erkenntnis der anstehenden „Tagesaufgaben“ diktierte – Inanspruchnahme der Hilfe des Deutschen Reiches bei der Vorbereitung des Oktoberumsturzes wohl weniger. Möglicherweise nehmen auch irakische Kommunisten iranische Hilfe in Anspruch. Die tagespolitischen Interessen dessen, was Lenin für „proletarische Revolution“ hielt, geboten es dann 1920 einen Vertrag mit Deutschland zu schließen, der diesem ermöglichte, das Versailler Abkommen zu umgehen, indem die Reichswehr ihr schweres Gerät in die junge Sowjetunion auslagerte und dort auch als „schwarze Reichswehr“ ihre künftige Kriegsfähigkeit erproben und erhalten konnte. Kurz zuvor war bekanntlich der einzige ernstzunehmende Revolutionsversuch in Deutschland blutig niedergeschlagen worden. Die Formulierung von „Tagesaufgaben“ antideutscher Linker – falls eine solche Begriffskonstellation nicht schon von vornherein einen unauflösbaren Widerspruch ausdrücken würde – hätte wohl von einem geringeren Maß an intellektueller Freiheit bestimmt zu sein.
(Oktober 2002)
Anmerkungen:
(1) Robert Kurz etwa glaubt in seinem Beitrag in Konkret 9/02 angesichts der blutigen Abrechnung eines Erfurter Schülers mit seinen Lehrer-Quälgeistern eine die westlichen Gesellschaften beherrschende „Kultur des Amoklaufs“ auszumachen.
(2) BAHAMAS Nr. 18
(3) Allen, die aus für mich schwer nachvollziehbaren Gründen in letzter Zeit die Lektüre der WELT empfehlen, sei ein aufmerksamer Blick auf die den aktuellen deutschen Antiamerikanismnus kritisierenden Kommentare vorgeschlagen. Dort heißt es nämlich in schöner Regelmäßigkeit, Deutschland könne es sich nicht leisten, „eine Auszeit“ bzw. „Urlaub von der Weltgeschichte“ zu nehmen.
(4) Maritta Tkalec: Muntermacher aus dem Irak. Kommentar in Berliner Zeitung vom 18. 9. 2002
(5) Ob die zu ihrer Definition gebrauchte Spekulationsgrundlage über die Entstehung der Preise von Öl und anderen Energieträgern überhaupt stimmt, scheint mir in diesem Zusammenhang nicht so wichtig.
(6) Ist es notwendig zu betonen, dass es eben auf diese innere Dynamik ankommt und nicht unbedingt auf freundschaftliche Beziehungen zu Deutschland?
(7) Seit der von uns nicht ganz unverschuldeten Inflation des Wortes in der jüngeren antideutschen Szene und nachdem ich davon Kenntnis erhielt, dass eine langweilige Architekturausstellung in der Berliner Akademie der Künste mit der Ankündigung einer Präsentation „urbaner Glücksversprechen“ Aufmerksamkeit zu erregen sucht, bin ich dafür, die Glücksversprechen der Und-mehr-Werbung zu überlassen. „Fahrkarten und mehr ...“, „miles and more“, „Kneipe und mehr ...“ o. ä. evozieren die unentgeltliche Erbringung von Dienstleistungen, die z. B. im Marktsegment Prostitution teuer gehandelt werden.
(8) Anton Landgraf: Kriege und Friedensfreunde. In. Jungle World Nr. 43, 16. 10. 2002
(9) Man befindet sich doch wohl noch durchaus diesseits der Schwelle, die berechtigtes Spekulieren von Verschwörungstheorien trennt, wenn man vermutet, dass der Abbruch des US-Vormarsches im 91er Golfkrieg nicht nur der behaupteten Einhaltung internationaler Vereinbarungen entsprach, sondern auch dem Willen, sich die Möglichkeit eines dirty little war für andere Gelegenheiten zu erhalten.
(10) Symbolische Bedeutung hat dieses Buch heute doch nur noch bei den Huntington-Huntington-Schreiern der antiimperialistischen Linken – übrigens „aller Coleur“.