Die Welt darf sich nicht ändern, und wenn sie in Scherben fällt
Antiamerikanismus als präventive Konterrevolution
Vortrag, gehalten auf der antideutschen kommunistischen Konferenz „Gegen die antisemitische Internationale“ am 7. Juni 2003 in Berlin. [ungekürzte Version]
I.
Die Berliner Zeitung berichtet über den Tag der offenen Tür im Cottbuser Gefängnis. Die Besucher sind empört. „‚Luxuriös‘, so nennen sie es. Die schöne Sporthalle. Die Neun-Quadratmeter-Einzelzellen. Computerkurse und Ausbildung für die jugendlichen Häftlinge (…) Ist dies nicht ein Knast? Und im Knast sitzt man, sonst gar nichts. So sehen es die Lausitzer Leute. (…) Sie treten in die Zellen und öffnen den Schrank. Dann stecken sie den Kopf hinein und beklopfen das Holz. Männer drücken auf die Matratzen, guck mal, Manne, ganz schön dick. Und das Klo, extra abgeteilt, wie zu Hause, Mensch.“ Wie zu Hause? Im Gegensatz zum Knastinsassen wird der Cottbuser Bürger von keinem Wärter daran gehindert, seine Wohnung mit separater Toilette zu verlassen, wann immer er will. Keineswegs ist es ihm verboten, Besuch zu empfangen, mit dem er sich nach freiem Belieben und ohne Beaufsichtigung vergnügen kann. Trotzdem fühlt der Mann sich wie im Gefängnis.
Dieser merkwürdige Sachverhalt ist als Konsequenz einer verpassten historischen Chance zu begreifen. Eine bestimmte Produktionsweise, schreibt Marx, bringt im Lauf ihrer Entwicklung irgendwann „die materiellen Mittel ihrer eigenen Vernichtung zur Welt. Von diesem Augenblick regen sich Kräfte und Leidenschaften im Gesellschaftsschoße, welche sich von ihr gefesselt fühlen.“ Für den Menschen, der von solchen Kräften und Leidenschaften ergriffen worden ist, stellt die alte Ordnung ein Gefängnis dar. Angesichts der sich ihm jetzt eröffnenden Möglichkeiten kommt ihm seine bisherige Lebensweise erniedrigend und menschenunwürdig vor. Diese Situation war in Europa ab Mitte des 19. Jahrhunderts gegeben. Der Kapitalismus hatte riesige Sklaven aus Stahl geschaffen, seither ist es geschichtlich überholt, dass Menschen Sklavenarbeit leisten und in Armut leben müssen. Damit hatte die Gesellschaftsordnung die materiellen Mittel ihrer Vernichtung erzeugt, denn beklagt werden Not und Entbehrungen zwar immer, ein Motiv für Rebellion stellen sie aber erst im Moment ihrer objektiven Überflüssigkeit dar. Logische Folge eines solchen Zustandes ist, dass die Menschen die sie unnötiger Weise einschränkende Eigentumsordnung abschaffen. Sind sie jedoch zu ängstlich und verzagt, um sich ernsthaft mit den herrschenden Mächten anzulegen, entscheiden sie sich also dafür, die Verhältnisse unangetastet zu lassen, die sie an der Verwirklichung ihrer Wüsche hindern, so erfordert dies zwingend, dass sie diese Wüsche und die Möglichkeit ihrer Realisierung vergessen. Dies hat zur Folge, so schreibt Wolfgang Pohrt, „dass die Menschen ihr Selbstbewusstsein verlieren, weil sie sich wie unfreie, willenlose Wesen verhalten. Nehmen sie die Verhältnisse hin, von denen sie sich gefesselt fühlen, werden sie Gefangene. Mit der Zeit entwickelt sich bei ihnen ein Insassensyndrom, sie empfinden die Welt als Zuteilungsstelle und sich selber als Empfänger. Wer reicher ist, fühlt sich besser abgefüttert, selber essen kann er auf legalem Wege nicht.“ Dies ist der Grund, warum der Mann aus Cottbus mit seinem im weltweiten Vergleich sehr privilegierten Leben nicht mehr anzufangen weiß als der Strafgefangene, dessen Dasein sich im Wesentlichen auf die Befriedigung der kreatürlichen Bedürfnisse – schlafen, essen, scheißen – beschränkt. Mit den gefährlichen Wünschen muss aber auch die Wut darüber, ums Leben betrogen zu sein, aus dem Bewusstsein getilgt werden. Deshalb ist dem Cottbuser seine bemerkenswerte Erkenntnis nicht etwa Anlass, sich ein paar unfreundliche Gedanken über die Verhältnisse zu machen, in denen er gefangen ist, sondern einzig zu der Forderung, dem Knastbruder möge es noch schlechter gehen.
II.
Da der Widerspruch zwischen möglicher Freiheit und tatsächlicher Unfreiheit nicht nur bestehen bleibt, sondern sich mit jedem neuen Produktivkraftfortschritt weiter verschärft, bedarf es einer immer größeren Kraftanstrengung, um den Gedanken an Emanzipation zu verdrängen. Nichts wird dem seelischen Gleichgewicht des heutigen Menschen daher gefährlicher als der Verdacht, andere könnten sich als eigenmächtig handelnde Subjekte erweisen. Dies rührt an seine unterdrückten Leidenschaften, die wieder an die Oberfläche zu kommen drohen, was alle mühsamen Anpassungsleistungen zunichte machen würde. Am liebsten sieht man andere daher als Opfer, als welches man sich auch selbst fühlt. Diese Haltung äußert sich nicht nur im Privaten, die große Politik wird nach demselben Muster wahrgenommen. So wird etwa hierzulande gern Mitgefühl für die in der Vergangenheit ermordeten Juden bekundet, während man es den lebenden Juden Übel nimmt, dass sie sich nicht willig ihrem Schicksal ergeben, sondern sich gegen ihre Mörder zur Wehr setzen. Ähnlich war die Reaktion auf die Anschläge vom 11. September: Zuerst gab es allenthalben Solidaritätsbekundungen, als die Amerikaner jedoch zum Gegenangriff übergingen, schlug die Stimmung um. Stellvertretend sei hier Christoph Diekmann zitiert, ein Theologe, den Die Zeit als „authentische Stimme des deutschen Ostens“ anpreist. Angesichts des Afghanistankrieges findet dieser es „Unfassbar, in welch kurzer Zeit die USA ihren Opferstatus verspielten.“ Opfer zu sein ist für ihn ein Status, ein Privileg, für das man dankbar sein muss, weil es einem allgemeine Anteilnahme sichert und die Zumutung erspart, für das eigene Tun verantwortlich zu sein. Vollkommen unverständlich ist es ihm daher, wie die Amerikaner so dumm sein konnten, diesen Besitz durch eigenmächtiges Handeln leichtfertig zu verspielen. Sie hätten doch wissen können, dass alle Welt sie dann für arrogant, überheblich und starrköpfig hält.
Noch größer als beim Afghanistan-Feldzug war die Empörung angesichts des Irakkriegs. Besonders verstörend wirkte dabei der von den Neokonservativen in der US-Führung durchgesetzte Strategiewechsel in der Außenpolitik. Die bisherige Politik der Bewahrung des status quo durch die Stützung autoritärer Regime im Orient, so die Analyse der Neokonservativen, habe letztendlich nur dem Aufstieg der Islamisten genutzt. Stabilität und Kontrolle ließen sich demnach nicht wiedererlangen, indem man wie bisher brutale Despoten unterstütze, die jede gesellschaftliche Veränderung durch Terror verhinderten. Stattdessen müsse es darum gehen, gemäß der Strategie des regime change einen kontrollierten gesellschaftlichen Wandlungsprozess in den Ländern der Region einzuleiten. Die erste Etappe in diesem Plan der aktiven Vorwärtsverteidigung der amerikanischen Hegemonie war der Sturz des Ba’th-Regimes. Er hat der Welt in Erinnerung gerufen, dass gesellschaftliche Verhältnisse von Menschen gemacht sind und auch von Menschen verändert werden können, wenn sie den Willen dazu haben und die Kräfteverhältnisse es zulassen.
Genau daran aber will niemand erinnert werden. „George Bush argumentierte in seiner Rede an die Nation normativ, sprach über das, was sein soll, und nicht, was ist“, schreibt ein Michael Werz im Züricher Tagesanzeiger. Dass der amerikanische Präsident die gegebene Faktenlage der Welt nicht einfach hinnimmt, macht ihn allgemein suspekt. Denn, wer normative Maßstäbe an gesellschaftliche Verhältnisse anlegt, der spricht nicht wissenschaftlich, sondern ideologisch, der taugt nicht zum Beruf des Menschenverwalters. Womöglich ist er ein Umstürzler, am Ende gar: ein Kommunist. Tatsächlich: „Zuweilen scheint es,“ so bestätigt Werz den Verdacht, den man über die US-Administration hegt, „Zuweilen scheint es, als sprächen konservative Bolschewisten von der Notwendigkeit der Weltrevolution.“ Dass Bush und seine Berater gefährliche Ideologen sind, meint auch der Grüne Daniel Cohn-Bendit erkannt zu haben. Aufgebracht wirft er den Amerikanern vor: „Jetzt verhält sich ihre Regierung wie die Bolschewiken der russischen Revolution! Sie wollen die ganze Welt verändern! Wie sie, erheben Sie den Anspruch, die Geschichte werde zeigen, dass die Wahrheit auf Ihrer Seite liege.“ Offensichtlich hat die US-Politik seine Erinnerungen an die Zeit des Pariser Mai wachgerufen, als auch er einen regime change herbeiführen wollte. Dass ausgerechnet der US-Imperialismus, gegen den er damals antrat, um die Welt zu verändern, heute seine damaligen Ideale für sich zu beanspruchen scheint, erinnert ihn an den schmählichen Verrat an der eigenen Jugend, deren schon damals kümmerlichen Wünsche und Hoffnungen er sich zugunsten der Karriere aus dem Kopf geschlagen hat. Er ist nicht der einzige, der der US-Administration den Wunsch, die Verhältnisse umzugestalten, übel nimmt. Andreas Zielke meint in der Süddeutschen Zeitung, die Amerikaner planten „eine jakobinische Wohlfahrtsdiktatur im Globalmaßstab“. Sein Kollege Stefan Kornelius fasst zusammen: „Der Wunsch nach dem Regimewechsel ist deshalb Ausdruck eines Gestaltungswillens, wie ihn die Welt nur in den seltensten Momenten der Geschichte erlebt hat“. Diese seltenen historischen Momente, in denen Menschen den Versuch unternahmen, aus ihrem Gefängnis auszubrechen und sich selbst zum Subjekt ihrer Geschichte aufzuschwingen, diese Augenblicke der Revolution müssen aus dem Gedächtnis getilgt werden. Anders wäre die Tristesse der geschichtslosen Jetztzeit nicht zu ertragen. Die Amerikaner stören, weil sie festgestellt haben, dass die Rede vom Ende der Geschichte ein für sie gefährlicher Irrtum war und aus dieser Feststellung praktische Konsequenzen ziehen, ohne auf die Meinung der Welt zu achten. Indem selbst Linke bemängeln, der Feldzug sei nicht demokratisch legitimiert, verweigern sie sich der Einsicht, dass auch Revolutionäre sich über den Mehrheitswillen hinwegsetzen werden müssen, wenn sie sich zur Änderung der Welt ermächtigen. Auch die Revolution wird nicht vorab durch eine UN-Resolution legitimiert werden. Der Antiamerikanismus ist konterrevolutionär, nicht weil die USA eine revolutionäre Macht wären, sondern weil er dazu dient, die Verdrängung der objektiven Emanzipationsmöglichkeiten der Epoche aufrechtzuerhalten, denn diese müssten, wenn sie nur allgemein im Bewusstsein wären, unweigerlich zur Revolution führen. Antiamerikanismus ist Antikommunismus in Zeiten der Abwesenheit des Kommunismus. Er ist die politische Manifestation desselben Grolls, der sich bei den Eingangs erwähnten Knastbesuchern privat äußerte.
III.
Aber die Feinde der Freiheit können sich nicht darauf beschränken, die Erinnerung an die bürgerlichen und proletarischen Revolutionen zu tilgen. Ihre Feindschaft richtet sich selbst noch gegen die ältere Gestalt des Freiheitsgedankens, die aus Epochen stammt, in denen die Menschheitsemanzipation noch nicht als praktische Aufgabe auf der Tagesordnung stand und deshalb in ein mythisches Himmelreich verlegt werden musste. Der bereits zitierte Stefan Kornelius bezeichnet die Neokonservativen als „amerikanische Befreiungstheologen“, die sich dank ihrer vermessen-ideologischen Sichtweise nicht den Tatsachen der Welt beugen wollten. Während der islamische Tugendterror allenthalben verständnisvoll als Ausdruck einer fremden, und schon deshalb bewahrenswerten Kultur aufgenommen wird, ist die Empörung darüber groß, dass George Bush für sich in Anspruch nimmt, auch den lieben Gott auf seiner Seite zu haben. Eilig werden in den Zeitungen sachkundige Theologen zum Interview gebeten, die dann nachweisen, dass es sich dabei um eine ketzerische Zweckentfremdung der Religion handle. Bekanntlich waren der alten Religion, als sie noch groß war, zwei Aspekte zu eigen: zum einen rechtfertigte sie das diesseitige Elend als gottgewollt, zum anderen weckte sie die Hoffnung auf ein glückliches Leben im Jenseits. Dieses Versprechen im Diesseits einzulösen, war die Motivation aller aufklärerischen Religionskritik. Heute jedoch schreibt etwa ein Niklas Bender in der FAZ über ein Buch, welches sich positiv auf die neue US-Strategie bezieht: „Statt einen wirklich offenen ost-westlichen Prozess zu initiieren, der die eigenen Moralgebäude nicht preisgeben muss, wird die Menschheit vom Telos der Geschichte her entworfen. So bekommen auch die religiöse Begriffe einen unangenehmen Beigeschmack.“ Die Sichtweise der Aufklärung auf die Religion wurde also ins genaue Gegenteil verkehrt: Anstatt in ihr die Idee vom Telos der Geschichte, also den Gedanken der Emanzipation der menschlichen Gattung zu erkennen, der leider noch in einem mythischen Hokuspokus verkleidet ist, gefällt Herrn Bender und seinesgleichen der mythische Hokuspokus, dem leider noch immer der unangenehme Beigeschmack des Gedanken der Menschheitsemanzipation anhaftet. Der Wahrheitsanspruch der Religion wird verworfen, anstatt ihn, wie die Aufklärung, säkularisiert zu bewahren. Höchstens noch als Beruhigungsmittel dienen die religiösen Formen, an deren Inhalte man zwar nicht glaubt, die einem aber wie die Meditationskurse an der Volkshochschule oder die Sitzungen beim Psychologen helfen sollen, den Alltag durchzustehen. Was an Georg Bushs Reden stört, sind also keineswegs die religiösen Motive an sich, sondern ausgerechnet, dass sie mit dem Gedanken an Freiheit verbunden sind.
IV.
Im Unwillen, von solchen Gedanken auch nur ansatzweise behelligt zu werden, wünscht man hierzulande der amerikanischen Aktion im Irak von Herzen alles Schlechte. Kai Hafez, ein Nahostexperte aus Erfurt, meint, die Pax Americana sei schon deshalb zum Scheitern verurteilt, „weil sie die Grundwidersprüche von Zwang und Freiheit zu vereinen sucht“. Herr Hafez meint also nicht etwa, dass die Mittel der Amerikaner ungeeignet seien, um Freiheit zu ermöglichen. Ebenso wenig stellt er das Ziel der USA in Frage, indem er behauptet, es ginge ihnen in Wahrheit gar nicht um Freiheit, sondern um etwas ganz anderes. Nein, er leugnet ganz prinzipiell die Möglichkeit, dass durch Zwang jemals Freiheit erreicht werden könnte. Dies ist nichts anderes als die vorbehaltlose Unterwerfung unter die herrschenden Zwänge und die grundsätzliche Absage daran, Freiheit praktisch zu verwirklichen. Hegels klassische Definition, wonach Freiheit gerade in der Einsicht in die Notwendigkeit besteht, wird verworfen und mit ihr die Möglichkeit des bewussten Handelns. Denn nur wer die Realität in ihrer Notwendigkeit erkennt, kann die Fähigkeit erlangen, in sie einzugreifen, indem er ihr an geeigneter Stelle und in zweckmäßiger Form Widerstände entgegensetzt. Nur die Einsicht in die Gesetzmäßigkeiten, nach denen die Welt funktioniert, ermöglicht es, bestimmte Zwänge als überflüssig zu erkennen und Mittel zu finden, um diese abzuschaffen.
Der Bundeskanzler fordert beispielsweise, man solle die Notwendigkeit seiner Sparmaßnahmen einsehen. Er hat damit vollkommen recht. Die bürgerliche Eigentumsordnung vorausgesetzt, folgt aus einer ökonomischen Krise logisch zwingend, dass die Leute den Gürtel enger schnallen müssen. Wer die Folge, also die Verarmung, nicht haben will, der muss etwas zur die Abschaffung der Prämisse, also der Eigentumsordnung, unternehmen. Dies ist heute sicher ein fast hoffnungslos schwieriges Unterfangen, aber nur in dem man sich den Zwang bewusst macht, ist es überhaupt anzugehen. Wer dagegen die Logik außer Kraft setzen und die Notwendigkeit der Folgebeziehung nicht einsehen will, etwa in dem er völlig realitätsfern Plakate hochhält, auf denen „Geld ist genug da“ oder ein sonstiger Unsinn steht, der hat vor den Zwängen kapituliert. Er tut so, als hätten sich die Herrschenden die Krise nur ausgedacht, um das Volk zu ärgern. Sobald er merkt, dass sich die wirkliche Welt nicht davon beeindrucken lässt, dass er ihre Gesetzmäßigkeiten einfach ignoriert, wird er wohl die USA oder die gierigen Juden für seine Misere verantwortlich zu machen, falls er dies nicht ohnehin schon tut. Wer wie der Nahostexperte die Amerikaner für ihre pragmatische Politik hasst, die den Zwang und die Gewalt ihres Agierens nicht verschweigen und dennoch den Anspruch erheben, Freiheit zu ermöglichen, zeigt damit, dass er sich als handelndes Subjekt vollkommen aufgegeben hat.
V.
Die völlige Anpassung an das Bestehende führt nun aber nicht dazu, dass sich zwischen Individuum und Gesellschaft eine, wenn auch negative, Harmonie einstellen würde. Der Grund dafür ist, dass zu den Notwendigkeiten, die man sich beharrlich weigert anzuerkennen, unter anderem die Tatsache gehört, dass Menschen einen Leib aus Fleisch und Blut besitzen, dessen Bedürfnisse sich zwar verleugnen und ignorieren, aber nie und nimmer aus der Welt schaffen lassen. Wer im Denken die Realität vollkommen ausblendet und deshalb im Handeln ihren Zwängen umso bruchloser unterworfen ist, der kann zwischen seinen körperlichen Begierden und der ihrer Erfüllung entgegenstehenden Realität keine Kompromisse finden, die ihm erst individuellen Gestaltungsspielraum ermöglichen würden. Die Bedürfnisse werden also radikal verdrängt. Da die unterdrückten Triebe nicht durch geistige Vermittlung zivilisiert und verfeinert wurden, sind die grobschlächtig, roh und aggressiv. Da die zurückgehaltene Aggression sich nicht in der aktiven Auseinandersetzung mit den Mächten der Realität konstruktiv äußern kann, ist sie ausschließlich destruktiv. Es wohnt also in jedem Autoritären ein heimlicher Anarchist, der nichts lieber wünscht, als die Ordnung kaputt zu schlagen, an der sein offizielles Ich so verbissen festhält. Je konformistischer und unterwürfiger der Angepasste sich verhält, desto bedrohlicher brodelt es unter der Oberfläche. Wie groß die Furcht davor ist, dass der Dampfkessel explodieren könnte, ließ sich jüngst angesichts der wütenden Reaktionen auf die Fernsehbilder von den Ereignissen in Bagdad nach dem Sturz des Regimes erahnen. Der ostdeutsche Friedensaktivist Friedrich Schorlemmer schreibt über die plündernden Massen: „Es ist die entfesselte menschliche Kreatur mit archaisch-irrationaler, destruktiver Gewalt, der man in der Tat nur mit Gewalt entgegentreten kann und schnellstens staatliche Institutionen bilden muss. Ein Tag Chaos richtet schlimmeren Schaden an als Jahre der Despotie das vermögen!“ So groß ist die Angst vor dem Chaos durch die Entfesselung der Triebe, dass selbst die schlimmste Diktatur als das kleinere Übel erscheint.
VI.
Wenn aber die Menschen finster entschlossen sind, der Herrschaft die Treue zu halten, was immer auch geschieht, so wird ihnen das am Ende doch nichts nützen. Die Welt wird sich auch ändern, wenn keine bewussten Akteure auftauchen, die sich zu Subjekten des Geschehens machen. Entweder die Menschen werden sich ihrer Lage bewusst und schaffen die Verhältnisse ab, oder sie lassen es bleiben und die Verhältnisse schaffen früher oder später die Menschen ab. Kürzlich fielen über dem Urwald im Kongo aus einem Flugzeug 160 Passagiere vom Himmel, weil sich eine Ladeluke während des Fluges öffnete. Die Crew wusste schon vor dem Start von der defekten Tür, kümmerte sich aber nicht darum. Dieses Ereignis zeigt drastisch, wie wenig ein Menschenleben im 21. Jahrhundert wert ist. In den Metropolen ist die Lage zwar vorerst noch nicht ganz so dramatisch, weil die staatliche Verwaltung und Ruhigstellung der Überflüssigen noch halbwegs funktioniert. Die aktuelle Finanzkrise des Staates lässt jedoch erahnen, dass man sich darauf nicht ewig verlassen können wird. Kommt die latente Krise erst in vollem Ausmaß zum Ausbruch, so ist mit gutem Grund zu befürchten, dass die Angst der Autoritären vor dem Chaos, aufgrund derer sie so verbissen an der Ordnung festhalten, am Ende erst recht dazu führen wird, dass alles in Scherben fällt. Wenn dann die verdrängte Aggression doch zum Ausbruch kommt, führt sie wohl die Menschen nicht zum Aufstand gegen die Herrschaft, sondern drängt sie, sich der Herrschaft anzubieten, um unter ihrer Regie alles totzuschlagen, was sie noch an Glück und Freiheit erinnert.
VII.
Ob dies zu verhindern sein wird, hängt davon ab, ob es gelingt, die gesellschaftlichen Widersprüche zurück ins Bewusstsein zu bringen, damit diese nicht an einem Ersatzobjekt abreagiert werden müssen. Dies gilt um so dringlicher, da zu befürchten ist, dass die militärisch überlasteten und ökonomisch labilen USA die Barbarei eines Tages nicht länger werden aufhalten können oder wollen. Dass die Produktionsweise weiter die alte antagonistische ist, lässt sich angesichts der heutigen Volksgemeinschaft der Autofahrer und Kinobesucher nur negativ am notwendigen Vorhandensein des Antisemitismus und des Kulturspektakels erkennen. Die teuflische Harmonie scheint perfekt, weil jedes Wissen über die eigene Rolle im Produktionsprozess fehlt, was die totale Vereinzelung der Individuen zur Folge hat, die gerade deshalb eine formlose Masse bilden, die sich der Herrschaft anbietet und auf den Befehl zur Gewalt zu warten scheint. „Vermutlich allerdings“, schrieb Adorno „ist die Harmonie nicht so dauerhaft, wie vorgespiegelt wird durch die Beteuerung vom Überholtsein jener kritischen Theorie, deren man endgültig ledig zu sein hofft, indem man sie zur Metaphysik relegiert. In Krisenzeiten mag der soziale Konflikt als einer von Klassen sich aktualisieren; ob abermals in den Formen der verwalteten Welt, bleibt abzuwarten.“ Was der isolierte Professor nur abwarten konnte, ist unsere Aufgabe. Wenn der Antisemitismus Symptom einer Verdrängungsleistung ist, also Resultat eines in der Realität ungelösten Konflikts, der auf ein Ersatzobjekt verschoben wurde, so ist unsere einzige Möglichkeit, gegen ihn vorzugehen, den ihm zugrundeliegenden realen Konflikt zu thematisieren. In dem Maße, wie die Verdrängung der Einsicht in den gesellschaftlichen Stoffwechselprozess weicht, fällt auch die psychische Notwendigkeit der Verschiebungsleistung fort. Die Möglichkeit solcher Einsicht, also der gedanklichen Distanzierung von der herrschenden die Selbstverleugnung notwendig machenden Ordnung, sind jedoch äußerst begrenzt, solange die praktische Identifikation mit dem Aggressor bestehen bleibt. Zu dieser Identifikation aber, und damit zur Verdrängung ihres Hasses und ihrer Wut, sind alle Mitglieder dieser Gesellschaft einschließlich ihrer Kritiker bei Strafe des Untergangs gezwungen, solange sie es nicht schaffen, sich zum gemeinsamen Widerstand zu assoziieren. Die einzige Chance, den Sieg des Faschismus zu verhindern, wird also letztendlich darin bestehen, die verdrängte Aggression bewusst zu machen, so dass sich diese im Aufstand gegen die Herrschaft entlädt, anstatt im Pogrom. Diese Bewusstwerdung, also Stärkung des Ichs, damit dieses die Welt aushalten kann, wäre keine bloße Umlenkung als statisch gedachter Triebenergien, vielmehr würde durch sie deren Charakter vollkommen verwandelt. Auch wenn das Ziel des praktischen Umsturzes momentan nicht auf der Tagesordnung steht, müssen alle unsere Aktivitäten als Kritiker daran gemessen werden, ob sie, wie vermittelt auch immer, diesem Ziel nützen oder nicht. Tun sie es nicht, so sind sie so überflüssig wie ein Kropf.
Die Schwierigkeit unserer Aufgabe besteht darin, dass es bei den Adressaten momentan keine positiv benennbaren Anknüpfungspunkte gibt, da diese die Herrschaft nicht passiv erdulden, sondern diese wenn notwendig sich zu eigen machen, im Krisenfall immer bereit, ihre Wut gegen nicht Konformierende zu richten. Angesichts der Isoliertheit der Produzenten, der allgemeinen Asozialität, ist es wenig erfolgversprechend, den ökonomischen Konflikt direkt zu thematisieren. Genauso könnte es ein Kampf gegen Windmühlen sein, wenn die Kritik am Antisemitismus hauptsächlich dort geübt wird, wo sich des Ressentiment zum geschlossenen Wahnsystem verdichtet hat. Das Verdrängte wäre an scheinbar abwegigen Stellen bewusst zu machen, wo der Gegner die Attacke nicht erwartet und eventuell weniger verhärtet ist. Vielleicht wäre es zu diesem Zweck auch sinnvoll, nicht immer unter unserem aktuellen Label aufzutreten, damit wir nicht sogleich erkannt werden. Dies könnte unsere Chancen erhöhen, Gehör zu finden. Es geht nicht darum, den Adressaten Neuigkeiten zu erzählen, sondern darum, sie mit der Wahrheit über sich selbst konfrontieren, die sie insgeheim schon kennen, aber nicht wahrhaben wollen. Die Schmach muss noch schmachvoller gemacht werden, indem man sie schonungslos ausspricht. Die Erbärmlichkeit des Alltagslebens, die Jämmerlichkeit der Privilegien, um derentwillen man sich an die Ordnung klammert, müssen benannt werden. Dass dies bisher nur so zögerlich geschieht, mag damit zusammenhängen, dass wir als Kleinbürger, die wir sind, allesamt einen gehörigen Schrecken haben vor dem Aufstand, den vorzubereiten doch unsere Aufgabe ist. So berechtigt dieser Schrecken auch ist, so sollten wir doch nicht vergessen, dass die Alternative zur revolutionären Notbremse weitaus schrecklicher sein wird.