Scheinrevolutionärer Quietismus oder spießiges Bildungsbürgertum
Bemerkungen anlässlich zweier kürzlich erhobener Einwände gegen unsere Tätigkeit
Der Aufsatz wurde in der Zeitschrift Phase zwei, Ausgabe 11, im Frühjahr 2004 veröffentlicht.
I.
Die herrschende Ordnung zeichnet sich seit langem durch das vollständige Fehlen ihrer grundsätzlichen Infragestellung aus. En passant kann sie daher ihre ohnmächtigen Gegner verhöhnen, indem sie gnädig darauf verzichtet, deren Recht auf freie Rede in irgendeiner Weise zu beschränken – sind diese doch ohnehin unfähig, sich untereinander zu verständigen, geschweige denn, eine Sprache zu finden, die auch außerhalb ihrer isolierten Zirkel verständlich wäre. Dass die wenigen, die zumindest formal noch immer die kollektive Aneignung der Produktion zum Ziel haben, sich nicht vernünftig unterhalten können, hat seinen objektiven Grund darin, dass ihr Plan dem einiger afrikanischer Steppenameisen gleicht, die einen Elefanten erlegen wollen. Die Diskussion um die Wahl der geeigneten Mittel zur Erreichung ihres Zwecks kommt nicht in Gang, da angesichts der Ungeheuerlichkeit des Vorhabens alle Vorschläge gleichermaßen lächerlich erscheinen. Wo kein Kräfteverhältnis existiert, kann es kaum gelingen, an den einzelnen hilflosen Versuchen das Verkehrte präzise zu benennen oder das implizit enthaltene Vernünftige herauszulesen. Auf der subjektiven Seite scheitert die Diskussion an der Schwäche der Beteiligten, die durch ihre Abgeschnittenheit von tatsächlichen Wirkungsmöglichkeiten kaum Gelegenheit haben, Verstand und Sinne zu schärfen. Es war deshalb bisher nicht einmal eine lockere Assoziation einer revolutionären Intelligenz im Wartestand möglich – der Anfang der 90er Jahre unternommene Versuch der Zeitschrift Konkret, einige der Ernsthafteren im produktiven Streit zu vereinen, scheiterte genauso wie dessen Wiederholung einige Jahre später durch die neu gegründete Jungle World. Auch die Zeitschrift Phase zwei, die aus dem Zusammenschluss einiger antifaschistischer Gruppen hervorging, der sich mangels gemeinsamer Substanz aufgelöst hatte, war bisher wenig erfolgreich im Bemühen, ebendiese Substanz hervorzubringen.
Unter diesen Umständen waren die zaghaften Versuche unserer kleinen Gruppe, direkt mit anderen Gruppierungen ins Gespräch zu kommen, naturgemäß fruchtlos. Es erschien uns daher erfolgversprechender, ohne Rücksicht auf ein ohnehin kaum zu bestimmendes Publikum einige konformistische Versuche oppositioneller Neuformierung zu denunzieren, in der Hoffnung, dadurch immerhin etwas Gärung in ein eng begrenztes Segment der Gesellschaft zu bringen. Bevor ein produktiver Verein einiger Intellektueller sich bilden kann, so die Einschätzung, müssen erst die diversen Sekten sich wechselseitig beschimpfen. Dies ist eine notwendige Forderung der aktuellen Zeit, in der jeder selbstverständlich die anderen Fraktionen als völlig unzureichend bekritteln kann, aber sich selbst zunächst von der Kritik ausnehmen muss, weil sonst die ganze Nichtigkeit des eigenen Tuns offenbar würde, was völlige Entmutigung zur Folge hätte. Die Fixierung auf den Kopf ergibt sich, weil an Praxis im emphatischen Sinn momentan nicht gedacht werden kann. Vielleicht aber könnte eine kritische Menge von Leuten, die immerhin wissen, in welcher Situation sich die Gattung befindet, solche Praxis zumindest wieder denkmöglich machen.
II.
Unsere Versuche, das oben grob Ausgeführte zu befördern, sind nicht unangefochten geblieben. Zwei zentrale, sich scheinbar ausschließende Einwände wurden formuliert. Den ersten kann man in einer kleinen Erklärung (1) der Zeitschrift Bahamas nachlesen, in der uns vorgeworfen wird, wir würden unablässig von der Menschheitsemanzipation reden, obwohl diese doch aufgrund der autoritären Verfassung fast aller Weltbewohner absolut nicht auf der Tagesordnung stehe. Der Kommunismus sei aktuell nichts weiter als eine leere Abstraktion, die wir ständig im Munde führten, um uns um eine realistische Einschätzung der Welt zu drücken. Die Folge sei eine quietistische (2) Haltung, wir würden uns also am Kommunismus berauschen und zeigten Gleichgültigkeit gegenüber den aktuellen Tageserfordernissen (Solidarität mit Israel und den Vereinigten Staaten, d.i. Kritik an der regressiven Welt, die in Europa sich vorbereitet und in der islamischen Welt schon recht unerquickliche Blüten treibt.) Die Bahamas meint deshalb, „nachdrücklich allen Versuchen“ widersprechen zu müssen, „jenen tätigen Antifaschismus der US-Army und der IDF … gegen einen Sack voll Flöhe auszuspielen, auf dem dick das Wort Kommunismus gemalt steht.“ Statt von weltfremden Utopien zu faseln, solle man sich bescheiden: „Als Antideutschen und schon deswegen Kommunisten muss es uns in dieser Zeit reichen, dass es ein besseres Leben für die irakischen Kurden und ein sichereres für die Israelis gibt, und dass den islamischen oder panarabischen Revolutionären und Old Europe Schaden zugefügt wird“. Würde man den Jargon der Vergangenheit lieben, so ließe sich zusammenfassend sagen, dass wir hier einer linken Abweichung (3) bezichtigt werden.
Der von der Bahamas vorgenommen Beurteilung der Weltsituation widersprechen wir nicht und wir teilen insbesondere deren Einschätzung, dass die Bewahrung der blutig durchgesetzten US-Hegemonie, mit ihren im Windschatten des war on terrorism gelungenen diplomatischen Erfolgen, gegenwärtig allen anderen Alternativen vorzuziehen sei. Der Vorwurf, wir spielten unser abstraktes Ideal gegen den konkreten Antifaschismus aus, ist somit gegenstandslos. Zweifellos gewährt das Handeln der USA der Menschheit Zeit. Wird diese jedoch von niemandem genutzt, so ist die Katastrophe nur aufgeschoben, weil jeder weiß, dass der Weltpolizist die Regression nicht ewig aufhalten können wird. Die Maßhalteparole der Bahamas ist somit lächerlich: Selbstverständlich kann es „uns“ nicht „reichen“, wenn auf der Welt Dinge geschehen, auf die wir keinen Einfluss haben und die schon bald wieder obsolet sein könnten. Dass jede partikulare Verbesserung prekär ist und nur die Umwälzung des Ganzen Rettung bringen könnte, braucht nicht eigens ausgeführt werden; die lange Geschichte des Elends des Reformismus ist bekannt.
Worauf es ankommt, ist folgendes: Die grobe Beurteilung der Außenpolitik ist notwendig, um sich überhaupt in der Welt zurechtzufinden und um das hiesige Massenbewusstsein ideologiekritisch zerpflücken zu können. Erstens kann man dabei aber nur dann zu einer qualitativen Einschätzung des Gegenstands kommen, wenn man ihn unter der Fragestellung betrachtet, inwiefern er der antizipierten Emanzipation nützen könnte oder nicht. Ohne dieses Kriterium, das die Bahamas in ihrer Erklärung gegen uns zurückweist, wird die Betrachtung orientierungslos. Wird nun zweitens ausdrücklich gefordert, sich mit der Konstatierung „erfreulicher“ Entwicklungen auf der Bühne der Weltpolitik zu begnügen, so verewigt man damit die eigene Rolle als passiver Zuschauer von dem eigenen Willen entzogenen Vorgängen. Die Beschäftigung mit den auswärtigen Angelegenheiten dient dann dazu, von der eigenen Situation und den sich dort stellenden Problemen abzulenken. Im Falle der Bahamas soll die Aufforderung, wir müssten uns zügeln, wohl in Wirklichkeit die eigenen Anhänger beruhigen, dass auch in Zukunft nicht mehr von ihnen verlangt werden wird, als sich – zur symbolischen Unterstützung resp. Verurteilung irgendwelcher Entwicklungen weit draußen in der Welt – als braves Publikum zu Kundgebungen oder Veranstaltungen einzufinden, also in völliger Passivität zu verharren.
Weil die Abwehr von Emanzipation nicht rational ist, muss sie konfus werden. Die Redaktion der Zeitschrift Bahamas wirft uns vor, positiv zu werden, weil wir die Welt vom Licht der Befreiung begreifen. Wider holt die Truppe tief Luft, um sich – abermals recht „nachdrücklich“ – zu verwahren „gegen die Unterordnung der Wahrheit unters vorab gesetzte revolutionäre Ziel, das als zum Existential aufgeblasener praktischer Umsturz wie das lichte Morgenrot Denken und Kritisieren leiten soll.“ Die Revolution oder wie das Leipziger Bündnis gegen Rechts in dieser Zeitschrift einmal aufklärte, der Tag des jüngsten Gerichts, ist nicht positiv. Er ist die Grenze der Erkenntnis und was sich dahinter befindet ist zwar zu antizipieren, aber immer falsch. Positiv ist selbstverständlich die Redaktion der Bahamas, wenn sie unmittelbar dies und das lobt und sich damit zufrieden gibt. Wir haben umgekehrt diese scheinbare Position ihrerseits in den Strudel der Negativität gerissen, indem wir darauf hinweisen, dass es den Bewohnern des tristen Flecken Kurdistan nur dann langfristig besser gehen wird, wenn die Welt eine ganz andere Entwicklung nimmt.
III.
Der zweite Einwand gegen unsere Versuche ist wichtig, wurde aber bisher meist mündlich formuliert. Es muss deshalb zur Verdeutlichung ein Statement aus einem jener neumodischen open-speech-Foren herangezogen werden. Im Frankfurter sinistra-Forum meldete sich – anlässlich eines kleinen von uns verfassten Pamphlets (4) gegen Studierende – eine Frau namens Silke zu Wort: „Mal vom tatsächlich peinlichen Stil dieses Flugblatts abgesehen, finde ich den ständigen Bezug auf Goethe, Schiller, Hegel etc. sehr aufschlussreich. Das kam auch schon in früheren Texten dieser Gruppe zum Ausdruck. Es scheint sich bei den Mitgliedern dieser Gruppe um konservative Bildungsbürger zu handeln, die in spießiger Weise auf die gute alte Zeit von Schiller und Co. verweisen (und auf ihr angebliches Checker-Wissen darüber). Zusammenhängend mit diesem Anachronismus gibt es eine bedenkliche Ablehnung der modernen (Pop-)Kultur. Aber im Grunde passt dieser Kulturkonservatismus zu den adk’s, schließlich kam aus diesen Reihen auch der Lob-Artikel der deutsch-nationalen und antikommunistischen ‚WELT‘ in der bahamas.“ Während die Bahamas uns vorwirft, wir seien weltfremde Utopisten, in Gedanken immer schon im Jenseits und deshalb unfähig, hier und jetzt notwendige Entscheidungen zu treffen, so lautet das Verdikt nun umgekehrt: wir seien rückwärtsgewandt, anstatt für das Neue einzutreten, paktierten mit den Mächten der Vergangenheit bzw. mit den Ideologen, welche diese rechtfertigten. Verwendete sie die traditionelle Ausdruckweise, so müsste Silke uns der rechten Abweichung (5) zeihen.
Weil uns der Gedanke, dass momentan der ganz andere Zustand eine Abstraktion ist, nicht so fern liegt, wie es sich Natascha Wilting, Clemens Nachtmann und unsere anderen Genossen von der Redaktion Bahamas in ihrer ärgerlichen Schrift einbilden, gaben wir einige Hinweise, wie dieser negative und notwendig jenseitige Begriff trotzdem konkretisiert werden kann; wie die immer erst einmal abstrakte, sich dem falschen Weltzustand willkürlich entgegenstellende Negation zur bestimmten Negation werden könnte. Unsere oben genannte Kritikerin will dagegen alles der alten Welt Zugehörige unterschiedslos verwerfen und echauffiert sich deshalb darüber, dass wir die bürgerlichen Aufklärer loben. Nun sind deren Werke tatsächlich Bestandteil des zu überwindenden und wie alle Hervorbringungen einer auf Gewalt und Ausbeutung beruhenden Gesellschaft notwendig falsch. So bemühten sich etwa alle klassischen Aufklärer, die bürgerliche Regierungsgewalt ordentlich zu legitimieren. Aber gerade indem sie die Herrschaft vernünftig zu begründen und damit an einen universellen menschlichen Zweck rückzubinden versuchten, weisen ihre Schriften über die jeweils positiv gegebene Obrigkeit hinaus und brachten Mittel zu deren Infragestellung hervor. So schrieb etwa der Dichter Wieland: „In diesem Sinne ist leidender Gehorsam oft (und nur allzu oft) unvermeidliches Loos der Menschheit, und nothwendige Bedingung des bürgerlichen Lebens. Aber zu einem Gehorsam, der immer bereit wäre, alles, auch das Unerträgliche zu leiden, ungeachtet es nur auf uns anköme es nicht zu leiden – das ist, zu einem Gehorsam, der die Menschen zu etwas weniger als Vieh, zu bloßen Maschinen, herabwürdigte, dazu kann uns nichts verpflichten.“ In dem Augenblick, indem der Fortschritt der Produktion die Mittel für ein besseres Leben bereitstellt, sodass es nur noch auf uns ankömmt, unser Leiden zu beenden, verwandelt sich solche Legitimation der Autorität in deren schärfste Kritik, denn sie erkennt keinen Grund für den Gehorsam mehr an, es sei denn, die Menschen verwandeln sich selbst in Maschinen, anstatt diese zu erobern.
Unsere sinistra-Kritikerin wiederum scheint an den Aufklärern gar nicht so sehr deren notwendige Befangenheit in der Vorgeschichte zu stören. Beachtung verdient ihre folgende äußerung: „Zusammenhängend mit diesem Anachronismus gibt es eine bedenkliche Ablehnung der modernen (Pop-)Kultur.“ Die heutige Populär- d.i. Volkskultur ist das rauschlose Betäubungsmittel, das Methadon des Volkes, welches die von der Herrschaft Verstümmelten benötigen, um das Diesseits ertragen zu können. Es ist eine Weltflucht ohne Transzendenz: die Handlung der soap operas, welche die Fernsehzuschauer ohne Hoffnung konsumieren, darin einen Ersatz für ihr entfremdetes Leben zu erhalten, spiegelt ihnen nur die Trostlosigkeit des eigenen Alltags mit seinen banalen Sorgen und schalen Genüssen zurück. Gerade weil heute ein gutes Leben für alle problemlos möglich wäre, darf die sich selbst unbewusste Metaphysik kein versöhntes Jenseits mehr versprechen, weil sonst eine unerträgliche Spannung erzeugt würde, die den Fortbestand der Ordnung gefährdete. Wenn also unsere Forums-Schreiberin die Ablehnung des Pop bedenklich findet und eine Abneigung gegen die Klassik verspürt, so deshalb, weil sie instinktiv ahnt, dass eine ernsthafte Beschäftigung mit dieser ihr die illusionären Befriedigungen madig machen würde. Sie würde dadurch in Negation zu ihrem bisherigen Dasein gebracht und wäre gezwungen, dieses zu ändern – und davor hat sie wie alle verständlicherweise Angst. Nicht wir wünschen uns also zurück in eine „gute alte Zeit“, sondern umgekehrt wünscht sich unsere Kritikerin, dass man die heutige Nullzeit nicht zu sehr in Frage stelle. Die sich radikal und absolut gebende abstrakte Negation entpuppt sich hier als dem Bestehenden noch vollkommen verhaftet – die Momente der verkehrten Gesellschaft, die sie ganz unmittelbar berühren, werden von ihr gar nicht als solche bemerkt – sie sind für sie wie die Luft, die sie atmet.
Anders als die Kulturindustrie verdoppeln die Werke der Aufklärung das schlechte Diesseits nicht nur, sondern sind zugleich Zeugnisse von Menschen, die individuell die Versöhnung antizipierten, die praktisch nie gelingen wollte. Mag sein, dass die Kompositionen Beethovens nicht ohne Napoleon I. zu denken sind. Keiner kann aber im Ernst leugnen, dass gleichsam Zukünftiges in der Musik verborgen ist, die bereits über die Partikularität hinausschießt, als welche bisher Aufklärung nur wirksam wurde. Ebenso könnte man sich der Malerei und der Skulptur etwa des Michelangelo überhaupt nur nähern, wenn man diese als einzulösenden Vorschein auf künftige Zeiten nähme. Freilich wird sich dieser Gehalt nur demjenigen eröffnen, der die Vergangenheit unter der Frage studiert, was der Verwirklichung zukünftiger Freiheit dienlich sein könnte. Jede andere Beschäftigung mit der Geschichte ist tatsächlich Angelegenheit von Bildungsphilistern, welche die besten Bücher lesen können, ohne einen einzigen Gedanken zu begreifen. Heute gibt es solche Kulturkonservativen jedoch nicht mehr – ein Goethejahr ist genauso egal wie alles andere letztlich auch. Diesen erfreulichen Umstand könnten Kommunisten eigentlich nutzen, um die einst durch ihre inhaltsleere Anbetung entwerteten Kunstprodukte ins rechte Licht zu rücken. Sämtliche Aufklärer waren Kritiker des Zeitgeistes, was ins Bewusstsein zu bringen etwa Nietzsche sich bemühte, wenn er darauf hinweist, das alle Biographien des Geheimrats Goethe „Goethe gegen seine Zeit“ zu heißen hätten, statt „Goethe und seine Zeit“. Geschichte und in ihr die der geistigen Erzeugnisse wäre nach den schon damals unzeitgemäßen Momenten abzusuchen; eben nach dem, was Silke so schön als „Anachronismus“ bezeichnet. Es kommt darauf an, das zu finden, was im Stande ist, „unzeitgemäß – dass heißt gegen die Zeit und dadurch auf die Zeit und hoffentlich zugunsten einer kommenden Zeit – zu wirken“ (Nietzsche, Vom Nutzen und Nachteil der Historie für das Leben).
Karl Marx freilich kritisierte den Bezug auf die Vorgeschichte zu vermeintlich revolutionären Zwecken. Im Achtzehnten Brumaire des Louis Bonaparte schreibt er: „Die Tradition aller toten Geschlechter lastet wie ein Alp auf dem Gehirne der Lebenden. Und wenn sie eben damit beschäftigt scheinen, sich und die Dinge umzuwälzen, noch nicht Dagewesenes zu schaffen, gerade in solchen Epochen revolutionärer Krise beschwören sie ängstlich die Geister der Vergangenheit zu ihrem Dienste herauf, entlehnen ihnen Namen, Schlachtparole, Kostüm, um in dieser altehrwürdigen Verkleidung und mit dieser erborgten Sprache die neue Weltgeschichtsszene aufzuführen. … So übersetzt der Anfänger, der eine neue Sprache erlernt hat, sie immer zurück in die Muttersprache, aber den Geist der neuen Sprache hat er sich nur angeeignet, und frei in ihr zu produzieren vermag er nur, sobald er sich ohne Rückerinnerung in ihr bewegt und die ihm angestammte Sprache vergisst … Die soziale Revolution … kann ihre Poesie nicht aus der Vergangenheit schöpfen, sondern nur aus der Zukunft. Sie kann nicht mit sich selbst beginnen, bevor sie allen Aberglauben an die Vergangenheit abgestreift hat.“ Sicher werden künftige Revolutionäre gründlich mit den überkommenen Illusionen brechen müssen. Doch über den Alp vergangener Epochen kommt man nicht hinaus, indem man die Beschäftigung mit ihm verpönt. Die Vergangenheit kann nicht abstreifen, wer sie sich nie angezogen hat. Dies gilt umso mehr, als heute ein Enthusiasmus, wie ihn Marx an den Tag legte, unmöglich ist, weil es Wahnsinn wäre, das Herausspringen aus der Vorgeschichte unmittelbar zu erwarten. Gerade die allerersten Gehversuche eines kaum vorstellbaren neuerlichen Versuchs, dem Verhängnis zu entkommen, benötigen noch die Vergangenheit. Es muss ein Blick geübt werden, der die Geschichte in der Vorgeschichte zu erkennen vermag. Man bekäme dadurch ein Bewusstsein der gesellschaftlichen Agonie, welche aus sich selbst heraus gerade nicht begreif- und fühlbar ist. Das aktuellen Grauen in dem der Vergangenheit spiegeln zu lassen, macht dieses erfahrbar. Die von der Aufklärung einmal formulierten Sehnsüchte nach Befreiung tun ihr übriges hinzu, den jetzigen Zustand wirklich zu verneinen, weil dann neben der allgemeinen tristesse auch die verpassten Möglichkeiten der ins Unermessliche gesteigerten Naturbeherrschung ins Bewusstsein kämen und damit wohl auch ein Gefühl davon erzeugt würde, was es heißt, eine geschundene Kreatur zu sein. Etwa so, wie eine nicht erwiderte Liebe den ganzen Charakter durcheinander wirft, obwohl im Leben des Liebenden sich de facto nichts geändert hat – es ist nur eine neue Möglichkeit aufgetaucht, von der vorher höchstens eine Ahnung existierte. Man sähe sich so gezwungen, ein handelndes Subjekt zu werden, wobei dessen Scheitern zunächst im Vordergrund stünde.
IV.
Die Ablehnung der Revolution wie die des Konservatismus zielen im Grunde auf dasselbe ab: sowohl die Abneigung, den vom Ziel der Befreiung geleiteten Blick in die Zukunft, als auch, ihn in die Vergangenheit zu richten, wendet sich dagegen, die Gegenwart als veränderbar zu begreifen. Sei’s, dass die Transzendenz aufgrund ihrer aktuellen Unerreichbarkeit verworfen wird, sei’s dass bei einer völlig abstrakten Negation stehen geblieben wird, anstatt zu versuchen, die Potenzen der Befreiung in der Immanenz aufzuspüren – in jedem Fall geht es um die Scheu vor der Anstrengung, die es bedeuten wurde, sich selbst zum tätigen Individuum zu bilden, anstatt weiterhin passiver Zuschauer von Akteuren zu sein, die wahlweise von Donald Rumsfeld oder Dieter Bohlen befehligt werden.
Sicher eine fast unlösbare Aufgabe, solange an Praxis im emphatischen Sinne nicht zu denken ist. Den behinderten Kommunisten bleibt nur, das einzulösen, was man an den Landsleuten bemängelt: Der Welt durch gelungene Sublimierung standhalten lernen, gerade indem man sich mit ihr nicht gemein macht. Dies wäre der recht hilflose Versuch, den Kreislauf zu durchbrechen, der darin besteht, dass sich junge Radikale erst einige Jahre in Pseudoaktivität ihre Hörner abstoßen um dann in der allgemeinen Romantik wieder unterzugehen, welche einsetzen muss, sobald bemerkt wird, dass die spröde Notwendigkeit von dem naiven Wünschen und Wollen nicht tangiert wird. Der erwähnte Vorwurf des Quietismus ist richtig und falsch zugleich. Abgeschnitten von Praxis kann ein meist junger revolutionärer Mensch nicht anders, als eine gewisse Stoik zu entwickeln. Nur so könnte es gelingen, dass die Einzelnen sich nicht im Alter von zwanzig Jahren einbilden, Kommunisten zu sein, was mangels einer gewissen Reife nicht möglich ist, sondern dass die Tätigkeit als Kritiker des Bestehenden erst mit Abschluss der Lehrjahre ernst zu werden beginnt. Der Aufsatz wurde in der Zeitschrift Phase zwei, Ausgabe 11, im Frühjahr 2004 veröffentlicht.
Fussnoten:
(1) Jenseits von Israel. Zur Klassenkampfpos(s)e der Antideutschen Kommunisten Berlin Die Widerlegung wenigstens einiger der in diesem Text enthaltenen konfusen Einschätzungen und Verdrehungen haben wir in dem Text Bestandsaufnahme des Haufens, innerhalb dessen wir bisher zu wirken versuchten vorgenommen
(2) Quietismus von lat. quies, „Ruhe“: religiöse Richtung, die in mystischer Versenkung Gott erleben will und äußere Kirchlichkeit ablehnt; i.w.S. Gelassenheit, Gleichgültigkeit gegenüber den herrschenden religiösen Dogmen, in fast allen entwickelten Religionen feststellbar. Auch allgemein für eine entsagungsvolle, auf „inneren Frieden“ gerichtete Lebenshaltung überhaupt.
(3) Der linke Radikalismus zeichnete sich historisch dadurch aus, dass er sämtliche übergangsforderungen ablehnte und keinen anderen Programmpunkt hatte als die soziale Revolution. In nicht revolutionären Zeiten ist der von Haus aus aktionistische Radikalismus zum Quietismus gezwungen, wie sich etwas früher die „Direkte Aktion“ nicht durch sonderlich viele direkte Aktionen auszeichnete.
(4) Siehe: Ihr schönen Studentinnen, ihr holden Studenten
(5) Der Begriff passt freilich nicht ganz, da, wer uns Rechtsabweichlertum vorwirft, sich selbst als Zentrist oder linker Maximalist verstehen müsste, während die zitierte Autorin wahrscheinlich einfach nur wirr ist. Wir möchten jedoch mit der Verwendung solch anachronistischer Phrasen etwas Ordnung ins Chaos bringen, in der idealistischen Hoffnung, dass dadurch irgendwann auch die Sache dem Begriff wieder gemäßer wird.