KNUTSCHT WEITER!
NACH RONALD M. SCHERNIKAU
Im Jahr 1984 hatte der schwule Kommunist und Dichter Ronald M. Schernikau einen Text veröffentlicht, der auf die Panik vor dem Horrorvirus seiner Zeit reagierte: HIV. »Fickt weiter!« empfahl er seinen Mitmenschen – entgegen der allgemeinen Stimmung. Nun gibt es wieder ein vermeintliches Horrorvirus und eine in keinem Verhältnis stehende Panik, die den Ausnahmezustand der Regierungen zu legitimieren hilft. Weil unsere Zeiten weitaus prüder sind als die Schernikaus, tritt das Knutschen an die Stelle des Fickens. Von beiden rät die Regierung einer der modernsten Städte der Welt mit dem Hinweis auf den medizinischen Nutzen der Masturbation inzwischen ab. Allerorten wird die soziale Distanz geübt. Kommunisten werden mehr und mehr gemieden wie eine ansteckende Krankheit, insbesondere auch in linken Kreisen. Die eigene Meinung ins Internet zu schreiben, dürfte alsbald für gesünder erklärt werden als politische Versammlungen. Wer aber das bessere Leben will, wird es auch riskieren müssen. Die Verführung der Macht liegt darin, eine Existenz ohne Risiko zu versprechen, die folgerichtig auf das Opfer hinausläuft. Die Entscheidung über Leben und Tod wird an die Verfügenden delegiert, die das Leben selbst kassieren. So verlieren wir die Vorstellung, dass es noch etwas zu gewinnen gäbe. Und dann haben wir alles verloren.
eigentlich ganz schön! mal wieder was zum fürchten. es nutzt sich ja alles ab (daher die horrorfilme). der neue grund ist: corona.
corona kommt aus dem chinesischen und heißt: hust hust (haha). Die vermeintliche todesrate dieser vornehmlich bei alten und kranken männern auftretenden krankheit gibt stoff für illustrierte serien in den geschichtslosen massendrucken dieses landes.
und auch das allgemeine ortsblättchen fühlt sich bemüßigt, mitzuteilen: »auch junge menschen können schwer erkranken, das ist aber weiterhin die sehr große ausnahme.« na prima! laßt die alten ruhig abkratzen, wir bleiben ja verschont, das fatale an dieser logik: sie ist richtig.
denn wann haben sich die alten darum gekümmert, daß mit den 400 jährlichen morden die schon erwähnten massendrucke gefüllt werden, nicht aber mit den über doppelt so vielen jungen selbstmördern (dies als ein allererstes beispiel)? tun wir doch nicht so, als hätten wir ein recht auf aufmerksamkeit; wer sich um die welt nicht kümmert, wundere sich nicht, wenn sich die welt nicht um ihn kümmert.
wer das auto kauft, kauft den autounfall. das ist kein argument? es ist das einzige. der einzige grund, ein auto zu kaufen, ist: die welt nicht mehr sehen wollen, wer nicht anders kann, als ein auto kaufen und los damit fahrn, der muß ein auto kaufen und los damit fahrn.
wer in die sauna geht, kriegt fußpilz. wer nicht anders kann, als in die sauna gehen und los machen, der muß m die sauna gehn und los machen. wenn ich in den park gehe und mich von fünf fremden abknutschen lasse, will ich den speichel von fünf fremden. ich weiß, der mensch ist sterblich: aber vielleicht ich nicht? der einzige grund, speichelaustausch mit vielen zu haben, ist: einen abend, einen monat, ein leben lang nicht anderes mit der welt zu tun haben wolln, als daß sie mich küsst.
ach wissen sie, seit meine frau in der loge den regenschirm hat stehen lassen, gehen wir ja nicht mehr in die oper.
wer auf der welt bleiben will, muß eben diese nehmen. wer sich um die welt kümmern will, kann eben an politik nicht vorbei; wer an politik nicht vorbeikommt, kommt an kommunisten nicht vorbei; wer an kommunisten nicht vorbeikommt, muß eben diese nehmen (dies als ein allererstes Beispiel), wir haben keine wahl.
die kommunisten, die krankheiten, die welt, die hab ich mir nicht ausgesucht. woran ich sterbe, bestimmt jemand anders. es hilft kein meckern auf xi jinping oder corona. wenn wir mit der welt etwas zu tun kriegen, ist klagen nicht angesagt, aussuchen können wir uns, wovon wir leben.
mal ganz im klartext: wer jetzt aufhört zu knutschen oder leute zu treffen, sollte aufhörn zu rauchen trinken essen arbeiten autofahrn spraydosen benutzen lackfarbe plastik radios kinos menschen. der sollte anfangen, endlich an sich zu denken; also an hunger und krieg, oder nur an den schlaf in der nacht, ein gesicht, etwas offenes.
und während er damit anfängt, sollte er ruhig weiter knutschen.
6.4.2020