Peter Hacks: Über Corona
»Ich bringe noch das Beispiel des Corona-Virus bei. Da sind Leute, die vorgeben, im Zeitalter von Corona anders schreiben zu müssen als in präpandemischen Zeitaltern. Warum bloß? Daß, was sie mit dem Coronavirus meinen, in Wirklichkeit eine gesellschaftliche Sache ist, zeigt das unterschiedliche Verhalten von Ost- und Westdeutschen dem Coronavirus gegenüber. Hier in der DDR geht das Interesse an Corona über das Interesse jedes denkenden politischen Menschen an der Frage von Kapital und Arbeit nicht hinaus. Hier geht kein Mensch mit Corona zu Bett. Hier sagt kein Mensch, wenn er sich einen Schrank kauft: ›bald kommt sowieso das Virus, ich nehme den billigeren‹. Aber das ist eine typische Haltung eines Bürgers der Bundesrepublik. Für die Westmenschen ist Corona ein Symbol, an dem sie ihre gesellschaftlich verursachte Angst und Unsicherheit aufhängen. Das Coronavirus ist das Unvorhersagbare, Schlimme, also das, was jedes Mitglied einer anarchischen, krisengeschüttelten Gesellschaft stündlich erwartet; nun endlich haben sie für dieses unerklärliche Grundgefühl einen faßbaren Anlaß, einen Fetisch. Die Angst kristallisiert sich an Corona; das Virus ist nicht Ursache der Angst. Die Angst ist ja viel älter. Die Angst interessiert die Kunst sehr, Corona überhaupt nicht.«
Peter Hacks: Literatur im Zeitalter der Wissenschaften (das Wort »Atombombe« durch »Corona« ausgetauscht, genommen von Lyzis Welt)