Lundi Matin
Der Coronavirus und der Ausnahmezustand in jedem Einzelnen
Exemplarisch für eine Fraktion des Anarchismus hier die Übersetzung eines Textes, der am 4. März auf Lundi Matin erschien
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„Der Körper ist das Ziel schlechthin der souveränen Macht.“
Wir wollen denen, von der extremen Rechten bis zur Linken, die vorgeben, daß unsere Imperien sich tatsächlich um ihre Bevölkerung sorgen – „dieses Mal wollen sie wirklich unser Bestes“ –, anders formuliert: daß unsere Imperien frei von Interesse in dieser Gesundheitskrise sind, antworten, indem wir ein paar Anmerkungen zu der hervorragenden Darstellung von Agamben in Il Manifesto vor drei Tagen hinzufügen.
Erinnerung für die Schüler in der ersten Reihe: Der Gesellschaftsvertrag, der das Netz der Macht am stärksten beeinflußt hat und beeinflußt, ist nicht derjenige von Jean-Jaques Rousseau sondern vielmehr der von Thomas Hobbes – ‚Der Leviathan‘ –, der unter anderem die utilitaristische Strömung inklusive des Panoptikums von Jeremy Bentham erzeugt hat. Dieses glänzende Werk des Urbanismus (Das Panoptikum!), das unseren Regierenden zur Verfügung steht, hat die Architektur des Großteils unserer Gefängnisse, aber auch unserer Schulen hervorgebracht. Wenig interessiert an der Politikwissenschaft und am Gefängnisurbanismus, fragt Ihr Euch, was denn die Verbindung zwischen dem Gesellschaftsvertrag und dem terroristischen Charakter dieser Grippe sei?
Erinnerung für die Schüler in der letzten Reihe: Das Wort ‚Strategie‘ ist abgeleitet von ‚Stratagem‘ („Verschwörungstheoretiker!“). Dies nötigt uns, in Betracht zu ziehen, daß die List des Gegners immer im Verhältnis steht zu unseren Wahrnehmungskräften, zu unserer Fähigkeit, zwischen den Zeilen zu lesen, und zum Sprech der Regierenden sowie zu ihren Boten ohne Eigenschaften. Leider ist es nicht so sehr die Verhältnismäßigkeit, die beschränkt ist, sondern vielmehr unsere Wahrnehmungskräfte. Dabei fallen immer nur diejenigen auf die List der Regierenden herein, die aus der Dummheit ihren Kampfsport gemacht haben.
„Die Strategie ist die Wissenschaft (der Weg oder die Methode: methodos), die sich auf die Mittel bezieht, die einem Strategen (dem Chef der Armee!) erlauben, sein Land zu verteidigen und den Feind zu bezwingen.“ – Über die Strategie (Anonyme byzantinische Abhandlung)
Davon ausgehend ist die Hauptproblematik, daß das Netz der Macht den Krieg in einer mehr oder weniger verborgenen und verhüllten Weise („unsere berühmten Wahrnehmungskräfte“) nicht gegen andere Staaten oder Imperien (klassische Definition des Krieges) sondern gegen seine eigene Bevölkerung führt. Wenn es nun aber keinen Feind gibt, muß man sich einen erschaffen, das erste Gesetz der Weltpolitik. Deshalb lädt Giorgio Agamben, wenn er sagt, der Ausnahmezustand sei das normale Regierungsparadigma geworden, uns genau genommen ein, die ständige Neuerfindung dieser Figur des Feindes zu bedenken, ebenso wie die neuen Terrorgesetze und die Militarisierung unserer Städte und der Polizei, die mit ihnen verbunden sind. Von Gummigeschossen über Data Mining bis zu Drohnen und 5G – macht Euch keine Sorgen: Wir kommen „nur zu unserm Besten“ Gattaca näher. Wie es der italienische Philosoph ganz richtig sagt: „Nachdem der Terrorismus als Grund für die Ausnahmemethoden erschöpft ist, scheint es nun so, daß die Erfindung einer Epidemie den idealen Vorwand bietet, um diese über alle Grenzen hinaus auszuweiten.“ Liest man nun die Liste der vorgesehenen Einschränkungen für die von der Grippe „betroffenen“ Orte (siehe dazu den Artikel von Agamben), kann man voraussehen, daß es den Philosophieprofessoren und den Aktivbürgern künftig unmöglich sein wird, ihren Zuhörern noch irgendetwas beschreiben zu können, was einer Polis oder einem Gemeinwesen ähnelt.
„Der andere, nicht weniger beunruhigende Faktor ist der Zustand der Angst, der sich in den letzten Jahren nachhaltig im Bewußtsein der Einzelnen ausgebreitet hat und der sich in ein tatsächliches Bedürfnis nach einer Kollektivpanik verwandelt, zu welcher wiederum die Epidemie einmal mehr den idealen Vorwand gibt. So wird in einem perversen Teufelskreis die Freiheitsbeschränkung, die durch die Regierungen auferlegt wird, im Namen eines Wunsches nach Sicherheit hingenommen, der von eben diesen Regierungen erzeugt wurde, die nun auf den Plan treten, ihn zu befriedigen.“
Dieses „tatsächliche Bedürfnis nach einer Kollektivpanik“ ist der Kern des Hobbe’schen Gesellschaftsvertrags. Um vom Naturzustand (gekennzeichnet durch den Krieg aller gegen alle) zur Zivilgesellschaft (gekennzeichnet durch die Ablehnung des Krieges aller gegen alle) zu kommen, muß, der Vernunft gemäß, ein Vertrag angenommen werden, bei dem alle ‚gewinnen‘, weil die Bürger, die sich ihm unterwerfen, Sicherheit und Freiheit erlangen, wenn sie vom Mythos des Naturzustands zur künstlich erzeugten Zivilgesellschaft übergehen. Eine Fiktion wird durch eine andere ausgetauscht, aber diese Erzählungen erzeugen offenbar reale Effekte. Mit dem Ziel, die Stabilität des Staates zu sichern, muß der Prinz die Angst erzeugen und beherrschen und dabei und damit den Schutz seiner Bürger garantieren, anders gesagt: den Letzteren wird garantiert, keines gewaltsamen Todes zu sterben (nach Hobbes der typische Tod im Naturzustand). Es ist kein Zufall, daß Hobbes einer der ersten war, der den Körper als Metapher für den Staat betrachtet hat, und daß seine Philosophie die am meisten studierte in den politikwissenschaftlichen Fakultäten von Paris bis Melbourne ist.
Ob es sich um den politischen Körper oder den Körper der Einzelnen handelt: Der Neusprech verkauft uns, daß man sich um uns kümmert, während es offensichtlich ist, mindestens seit den Forschungen von Canguilhem und Foucault, daß der Körper das Ziel schlechthin der souveränen Macht ist: „Der historische Moment in den Diszipinen ist derjenige, in dem eine Kunst des Körpers geschaffen wurde, die nicht mehr nur auf den Ausbau der Fähigkeiten des Körpers und auch nicht mehr auf die Verstärkung der Unterwerfung abzielt, sondern auf die Bildung eines Verhältnisses, das den Körper mittels desselben Mechanismus stetig gehorsamer und nützlicher macht und umgekehrt.“ Das zeigen die vielen Hundertausend Chinesen, die sich ohne Nachhilfe der Polizei freiwillig in Quarantäne setzen, die mächtige Rückkehr der Denunziation, „der praktische Nutzen“ der zwei Milliarden „öffentlichen“ Kameras. Die uns hier und jetzt betreffende Biomacht stellt eine Vertiefung der Disziplinarmacht und der Kontrollgesellschaft dar, insofern sie sowohl auf das Individuum wie auch auf die Gesellschaft ausgeübt wird und dabei radikal die Regeln des Gesellschaftsvertrags verändert: Aus dem Wechselspiel von Rechten und Pflichten zwischen dem Staat und seinen Bürgern wird die Aufnahme der Pflichten in jeden Einzelnen, wobei die Mehrheit der Bürger unbewußt gegen die letzten Reste an Bürgerlichkeit und Rechten handelt. Sein Viertel gegen eine ‚Terrorgrippe‘ auf ‚freiwillige‘ Weise abschließen, ‚sich unter Nachbarn organisieren‘: Das ist im besten Falle freiwilliger Militärdienst, im schlimmsten Fall die Ausweitung des Konzepts der Lager auf den ganzen Planeten und zu allermindest das, was ich mir erlaube, noch krimineller und ganz im Anschluß an die Arbeiten von Agamben, den Ausnahmezustand in jedem Einzelnen zu nennen. Eine Grippe als Grund für einen globalen Ausnahmezustand, als Waffe zur Erzeugung einer allumfassenden Angst: Kein professioneller Verschwörer (von unten!) hätte gewagt, sich einen solchen Coup auszudenken. Von Euronews bis zur katholischen Universität von Louvain: Ohne Ende wird uns die Liste der einfachsten Vorsichtsmaßnahmen wiederholt, als ob wir achtzehn Monate alte Knirpse wären. Dennoch muß man sich mit einigem Ernst den dritten Rat, der den Bürgern des Reichs gegeben wird, anschauen (der erste: Händewaschen; der zweite: nicht in Nähe anderer Personen husten oder niesen), in der Bildsprache dem zweiten folgend, um wahrzunehmen, daß das Netz der Macht die verbreitete Psychose verschlimmern will: „den Kontakt mit Personen vermeiden, die Symptome von Atembeschwerden aufweisen“. Übersetzung: „Paßen Sie weiter auf bärtige Sunniten und Schiiten auf – die sind weiterhin Terroristen und nicht nur in syrischen Ruinenstädten sondern auch im Iran. Ungeachtet dieser Gefahr, liebe Bürger, stellen Sie das Jahr 2020 in das Zeichen des Mißtrauens gegenüber Hustenden.“
Verfallen wir nicht in Panik, nur weil sie das wünschen. Das zweite Gesetz der Thermodynamik hat wegen dieses Weltsystems sicherlich eine Beschleunigung erfahren, es ist allerdings noch lange nicht soweit, sein Werk vollendet zu haben.
29. Februar 2020, Fulvius Styx
PS: Keine Stellung zu beziehen heißt, für die bestehende Ordnung Stellung zu beziehen.
PPS: Vor allen Dingen das Desaster ist der dauerhafte Charakter dieser Katastrophe. „Dauerhaft“, insofern es sich dauernd erneuert, weil es rentabel ist.
PPPS: „Sicherheit ist Freiheit.“ Dieser Satz stammt selbstverständlich aus der berühmtesten Dystopie George Orwells – plagiiert von Manuel Valls. Er stellt die Richtlinie der Wirtschaftspolitiken Chinas, Europas und Amerikas dar.
PPPPS: Es gibt niemals die ganze Wahrheit über das Bestehende. In dieser spektakulär gewendeten Welt sind das Wahre und das Falsche austauschbar. Guy-Ernest Debord schrieb: „Das konkrete Leben aller ist in ein spekulatives Universum heruntergestuft worden.“ Wir sind alle Philosophen aus Zufall. Lernen wir Philosophen aus Notwendigkeit zu werden und fangen wir damit an, alles, was wir automatisch tragen, weitergeben und sogar verkaufen, in Frage zu stellen.
PPPPPS: Wenn Agamben sagt, der Ausnahmezustand sei das normale Regierungsparadigma geworden, muß man verstehen, daß das Netz der Macht mittels der Krise regiert. Anders gesagt: Es hält eine imaginäre Katastrophe aufrecht, deren Probleme uns selbstverständlich betreffen, die wir aber nicht zu fassen kriegen. Sei es hinsichtlich der Umwelt, der Medizin, des Terrorismus oder der Finanzen: Wir, die Leute von unten, haben nicht den geringsten Einfluß auf Entscheidungsprozesse. „Du sprichst viel vom Bürger, aber das bleibt doch recht abstrakt…“ Der Bürger ist vor allem die juristisch-politisch-ökonomische Fiktion, die wir aus den Gesellschaftsverträgen und der Aufklärung geerbt haben und die sich mit der Französischen Revolution und den modernen Nationalstaaten materialisiert, genauer: wieder materialisiert hat. Das Individuum, das integrierte Dasein, ganz, nicht getrennt, in ein Verhältnis der Unterwerfung unter den Staat gebracht, ein Verhältnis des Gebens und Nehmens (der Vertrag) von Rechten und Pflichten. Diese Unterwerfung qua Zustimmung ergibt, zumindest auf der Ebene der Grammatik der Institutionen und in der Sprache des Netzes der Macht, die Figur des Subjekts. Die Künste des Krieges und Regierens wurden in den letzten Jahrtausenden so weit entwickelt, daß diese Fiktion, dieser Mythos und diese Figur von uns geglaubt werden, sie sind von uns im Westen bis zu einem Punkt naturalisiert worden, daß wir ihre Positivität nicht mehr in Frage stellen, genausowenig wie die Orte ihrer Praxis.
Der Bürger ist vor allen Dingen das Wesen, das seinen Namen und Status durch seine Geburt erfährt. Die Geburt, der Ort der Geburt werden ihm von da ab zur Marke, zum Chiffre, zur Spur der Souveränität. Oder der erste Atemzug zum legalen Aufenthalt. Seine letzte Handlung vor der Umweltkrise war die Wahl. Heute sortiert er seinen Müll und – wenn es der Geldbeutel erlaubt – versucht, sich biologisch zu ernähren. Gibt es sonst noch was Legales? Nichts… Jeder Bürger, wenn er denn einer ist, ist illegal und revolutionär, insofern er vor allem einen Ersatz für die Polis, für das Gemeinwesen erfinden muß. Anders formuliert: Er muß gegen die aktuelle Gestalt der Bürgerlichkeit kämpfen.
Anderswo am selben Ort bringt der Fremde, der Migrant, der Nichtseßhafte, der sogenannte Sans-Papiers diese juristisch-politisch-ökonomische Konstruktion in eine Krise. Mit dem, was von den alten und gegenwärtigen Kolonisationen bleibt, aus denen das kapitalistische Abendland schon immer bestanden hat, bringt er es zu Fehlern. Und auch wenn niemand von uns weiß, warum ein Teil des Netzes der Macht verkündet hat: „Eine Epidemie der Stufe 5 ist eine gute Option“, wird „das Ereignis Coronavirus“ auf schreckliche Weise die Grenzkontrollen verstärken, das heißt, die Bewegungsmöglichkeiten und die Aufnahme von Migranten werden weiter erschwert. Die außergewöhnlich hohe Zahl von Nichtseßhaften erfordert Sondergesetze und -maßnahmen, die bald Stück für Stück in das nationale wie internationale Recht, in das akademische Lehrprogramm und in die Medien aufgenommen werden, um „das Problem“ zu kanalisieren und es zu begrenzen, indem es in Sprache und in der herrschenden gesellschaftlichen Vorstellung vergrößert wird. Der selbe Vorgang findet in Bezug auf die Gestalt des Demonstranten oder Aufständischen auf nationaler und des Terroristen auf internationaler Ebene statt. Man gibt ein Profil der Bedrohung, um es bis ins Letzte auszuweiten, die Vorstellungskraft der Mehrheit zum Narren zu halten und sie mit der extremsten Bedrohung zu unterhalten: Uns.
PPPPPPPS: „Wir als extremste Bedrohung?“ Die Erschöpfung des Mehrwerts bringt das Netz der Macht dazu, ohne Pause kleine Formen der Untragbarkeiten zu erfinden, damit man seine eigenen vergißt.