I. Die kommende Revolution wird der Totalität der bürgerlichen Welt eine kommunistische Totalität entgegensetzen
Bei der Ablösung der feudalen durch die bürgerliche Epoche wurden nicht nur die Eigentumsverhältnisse umgewälzt. Mit diesen änderten sich vielmehr sämtliche Lebensbereiche der damaligen Gesellschaften. Die bürgerlichen Revolutionäre siegten, indem sie am Ancien Régime nicht nur diesen oder jenen Aspekt kritisierten, sondern in Opposition zur alten Ordnung eine neue, bürgerliche Staatsphilosophie, eine bürgerliche Moral, eine bürgerliche Kunst, eine bürgerliche Wissenschaft, ein bürgerliches Liebesideal, eine bürgerliche Familie, kurz: eine umfassende bürgerliche Welt ausbildeten.
Die heutige Gesellschaft ist bis in ihre kleinsten Verästelungen nicht nur von der kapitalistischen Ordnung geprägt, sondern durch diese hervorgebracht. Kommunistische und anarchistische Revolutionäre haben daher eine nicht weniger totale Aufgabe vor sich. Von der Kindererziehung bis zum Städtebau, von der Wissensproduktion bis zur Landwirtschaft, von der Sprache bis zur Sexualität müssen sich neue, kommunistische Ideen entwickeln, und es muss mit anarchistischen Handlungsweisen experimentiert werden; anders werden Staat, Lohnarbeit, Geld etc. nicht abgeschafft werden können. Die Aufgabe heutiger Revolutionäre ist sogar noch umfassender als die ihrer bürgerlichen Vorgänger, da diese bei allen Neuerungen doch nur eine Herrschafts- und Ausbeutungsform durch eine andere ersetzen, während jene danach streben, mit allen Formen der Knechtung des Menschen durch den Menschen Schluss zu machen.
Des Weiteren hatte die aufstrebende Bourgeoisie den Vorteil, bereits im Schoße der alten Ordnung allmählich soviel ökonomische Macht akkumulieren zu können, dass sie die schließliche Eroberung der politischen Macht bereits von einer soliden Basis aus angehen konnte. Die Protagonisten der kommenden Revolution haben eine solche Machtbasis innerhalb der alten Gesellschaft nicht. Sie werden sich die Produktionsmittel erst im Prozess der großen Umwälzung aneignen und auch erst ab diesem Moment mit der wirklichen Umgestaltung der Welt nach ihren Vorstellungen beginnen können. So richtig es ist, dass eine entstehende revolutionäre Bewegung schon jetzt damit beginnen muss, eine kommunistischen Totalität auszubilden, so darf dabei nicht der qualitative Umschlagpunkt vergessen werden, welchen die Revolution in diesem Prozess bildet. Jede Lebensreform kann allenfalls einen Vorgeschmack eines befreiten Lebens hervorbringen, solange die Eigentums- und Herrschaftsverhältnisse im Ganzen bestehen bleiben. Realistisch gesehen handelt es sich dabei immer nur um die mehr oder weniger gelungene, kollektive Lösung von Problemen aus der unmittelbaren Gegenwart, so dass selbst ein etwaiger Vorgeschmack mehr ideell gesehen werden muss – etwa in dem Gefühl der teilweisen Verbundenheit, das entsteht, wenn man zusammen feiert, isst, bestimmte negative Anschauungen teilt, sich an einigen Punkten versammelt oder gegenseitig in Situationen der Gefahr beisteht. Der Inhalt der unmittelbaren Gegenentwürfe oder eher Modifikationen der gegenwärtigen Formen des Alltagslebens wird sich in einer umfassenden Revolutionierung der Gesellschaft komplett austauschen. Dennoch ist ein Experimentieren mit neuen Verhaltensweisen und Beziehungen unbedingt notwendig, denn um die herrschenden Verhältnisse in ihrer Gesamtheit umzustürzen, bedarf es der freien Assoziation von Menschen, die sich selbst befreien wollen und irgendwo damit anfangen.
Damit ist es jedoch bei den aktuellen Kritikern des Bestehenden nicht weit her. Zerfallen in tausend Scherben scheint das, was einmal pathetisch „die Partei“ oder, schon etwas laxer, „die Bewegung“ hieß und heute höchstens noch „Zusammenhang“ genannt wird, vollkommen unfähig zur Assoziation. Auch von sich selbst befreienden Menschen kann nur in Ausnahmefällen gesprochen werden, wenn selbst diejenigen, die von sich behaupten, eine freie Welt zu wollen, sich den beschränkenden Verkehrsformen der Politgruppen oder Szene unterwerfen und somit Potenziale verkümmern lassen, die oft in den einzelnen, als eigenständig denkenden und handelnden Menschen, schlummern. Diese Defekte sind freilich nichts, was ausschließlich radikale Gesellschaftskritikerinnen betrifft oder gar allein auf deren persönliches Versagen zurückzuführen ist. Vielmehr setzen wir als bekannt voraus, dass Assoziationsunfähigkeit, mangelnde Individualität etc. triftige Ursachen haben, die in den allgemeinen Verkehrsformen der Epoche zu suchen sind. Um diese kümmern wir uns aber im Folgenden kaum – zum einen, weil das nicht unser Thema ist, und zum anderen, weil der Verweis auf solche gesellschaftlichen Ursachen oft als Entschuldigung genommen wird, wenn Leute sich nicht ändern wollen.
In den letzten Jahren haben wir mit einigen anderen versucht, einen anderen Weg einzuschlagen und im Club für sich jenseits der Fraktions- und Gruppenzwänge neue Formen der Diskussion und Assoziation ausprobiert. Dies ist gescheitert. Eine Zusammenfassung dieses kleinen Experiments kann an anderer Stelle nachgelesen werden. In diesem Text wollen wir stattdessen einige im Zusammenhang mit diesem Versuch entstandene Gedanken zum Elend des radikalen Milieus darlegen und wenigstens ansatzweise ein paar Ideen skizzieren, wie diesem abgeholfen werden könnte. Angemerkt sei noch, dass wir uns, wenngleich wir aus der praktischen Bewegung kommen, in den letzten zehn Jahren hauptsächlich in theoretischen Zirkeln herumgetrieben haben. Wenn also im Folgenden von Saalveranstaltungen und Zeitschriftenprojekten und nicht z. B. von der Organisation von Demos oder Sabotageakten die Rede ist, so heißt dies nicht, dass wir bestimmte Aktionsformen gegenüber anderen privilegieren wollen, sondern lediglich, dass wir darüber schreiben, was wir am besten kennen. Dabei hatten wir hauptsächlich die linksradikale Szene in Deutschland und Österreich vor Augen; in anderen Ländern sind die Probleme teilweise anders gelagert, zumal dort, wo sich anderweitig eine tiefe Erschütterung der Macht mit eindrucksvollen Aufwallungen ankündigt, wie in Spanien oder Griechenland.