II. Momente einer kommunistischen Totalität sind heute vorhanden, allerdings in zersplitterter Form
Die letzte revolutionäre Welle, die in den 1960er Jahren begann, fand ihre Stärke darin, dass sie – zumindest dem Anspruch nach – eine totale Kritik der kapitalistischen Verhältnisse entwickelte. Jedoch zerfiel die damalige subversive Strömung schon bald in zahlreiche Einzelmomente. So entstanden Frauen-, Schwulen-, Umwelt-, Jugend-, Lehrlings- und einige weitere Bewegungen, die durch die Beschränkung auf ihren jeweiligen Bereich alle Gefährlichkeit einbüßten und mühelos in die alte Welt integriert werden konnten, zu deren Modernisierung sie beitrugen.
Die Fraktionen der heutigen europäischen und US-amerikanischen Linksradikalen haben ihre Wurzeln sämtlich in dieser revolutionären Welle von 1967ff. Sie bewahren einzelne Momente einer Negation des Bestehenden auf und haben diese teilweise sogar weiterentwickelt – jedoch jeweils getrennt für sich, ohne sie zu einer Totalität zu vereinen. Die theoretischen Marxisten wissen, dass es ohne eine Aufklärung des Bewusstseins keine Emanzipation geben kann und bemühen sich mit geduldiger Schulungsarbeit in Seminaren und Sommercamps, alle Vorurteile über Staat, Nation, Lohnarbeit, Kapital, Familie, Demokratie und sämtliche anderen Kategorien der bürgerlichen Welt im Mühlwerk dialektischer Kritik zu zerreiben. Den Hippies der Wagenplätze, besetzten Häuser und Landkommunen ist klar, dass eine rein kopfmäßige Veränderung höchst einseitig ist; sie experimentieren daher mit verschiedenen lebensreformerischen Versuchen, um die Leidenschaften vom Zwangskorsett bürgerlicher Familien- Beziehungs- und Alltagsformen zu befreien und in harmonischere und offenere Bahnen zu lenken. Die Linkskommunisten halten die Wahrheit fest, dass die Befreiung nur von der bewussten Aktion der Produzentinnen und Produzenten selbst erkämpft werden kann, deren Lebenslagen und Handlungen sie daher aufmerksam studieren und deren implizite Negativität sie durch behutsame Interventionen zu fördern versuchen. Die aufständischen Anarchisten haben erkannt, dass es ohne radikale Minderheiten nicht gehen wird; sie möchten daher durch mutige Nadelstichaktionen die Angreifbarkeit der herrschenden Ordnung und ihrer Verteidiger sichtbar machen und rücken die Verantwortung für die Aufrechterhaltung derselben durch jede Einzelne ins Blickfeld. Die Antideutschen weisen darauf hin, dass die Beherrschten nicht nur passive Opfer der schlechten Verhältnisse sind, sondern dass sie diese nicht selten durch barbarische Akte noch unerträglicher machen. Die Antiimperialisten sprechen aus, dass es trotz der Integration von allem und jedem ins bestehende System doch einen erheblichen Unterschied macht, ob man beispielsweise in Schweden oder im Gazastreifen sein Leben fristet; sie betonen, dass ein globaler Befreiungsversuch den Kampf gegen die Dominanz der Großmächte und ihrer Militärapparate über den Rest der Welt notwendig mit einschließen muss. Die feministischen Poststrukturalistinnen zeigen die Möglichkeit der Aufhebung der bornierten Zweigeschlechtlichkeit jenseits der herrschenden heterosexuellen, monogamen Begehrensstrukturen auf. Sie formulieren die Idee von einer Welt, in der von Individualität erst ernsthaft gesprochen werden kann, weil diese nicht mehr an eine bestimmte Identität gekoppelt ist und der Mensch seine Natur je individuell formt. Die Subkultur, die hauptsächlich in autonomen Zentren als Punk oder Hardcore anzutreffen ist, ermöglicht in einem mehr oder weniger geschützten Rahmen das Ausleben verdrängter sexueller und aggressiver Wünsche und Triebregungen und weist immer wieder darauf hin, dass die Versprechen der Kulturindustrie nach sexueller Befreiung, Rebellion gegen Autoritäten ohne Strafe sowie Bedürfnisbefriedigung ohne Lohnarbeit noch darauf warten, eingelöst zu werden.
Dadurch, dass die verschiedenen Fraktionen jeweils nur einzelne Aspekte der Totalität negieren, sind sie von vornherein unfähig, zu einer ernsthaften subversiven Kraft zu werden. Mehr noch: Durch die Vereinseitigung erweisen sich selbst die Einzelmomente, die oben als partielle Wahrheiten der Fraktionen herausgestellt wurden, bei näherem Hinsehen als falsch. Die Texte der Theoriemarxisten sind oft so jargonhaft und vorhersagbar, dass man sich fragt, ob sie von einem lebendigen Menschen geschrieben oder von einem Computerprogramm generiert wurden; die Lebensreformer verstricken sich in die ungeschicktesten Widersprüche und bilden nicht selten eine Szenemoral heraus, die der bürgerlichen an Repressivität in nichts nachsteht; die Linkskommunisten changieren zwischen folgenloser Kontemplation und ebenso folgenlosem (sub)gewerkschaftlichen Aktionismus; die Insurrektionalisten landen früher oder später entweder im Knast oder sind nur mehr damit beschäftigt, Soliarbeit für ihre eingekerkerten Gefährten zu machen; Antids und Antiimps verkommen zu lächerlichen Karikaturen, die sich mehr oder weniger offen einer bestimmten Fraktion der herrschenden Mächte als imaginäre Hilfstruppen andienen. Die Poststrukturalistinnen entpuppen sich dadurch, dass sie den Begriff der gesellschaftlichen Totalität nicht anerkennen, als Bürgerrechtlerinnen, die nicht die gesellschaftliche Grundlage der (Re)produktion in Frage stellen, sondern nur ihre diskriminierenden Auswirkungen auf bestimmte gesellschaftliche Gruppen. Wobei sie allerhöchstens erahnen, dass die Aufhebung der Diskriminierung einer Gruppe die Diskriminierung der nächsten direkt nach sich zieht. In der Subkultur werden Frauen ausgegrenzt und sexuelle Übergriffe sind aufgrund des Auslebens verdrängter Triebregungen quasi notwendiger Bestandteil der Szene. Doch auch in den aus dieser Situation heraus entstehenden feministischen Varianten geht es oft nur darum, die Subkultur von Mainstreameinflüssen rein zu halten und sie mit ihrem prekären Lebensstil um ihrer selbst willen zu pflegen. Arm, aber sexy. In dieser Aufzählung haben wir sicher den einen oder anderen Splitter vergessen, aber wir belassen es dabei, da klar geworden sein dürfte, worauf wir hinaus wollen.
Der aktuelle Stand der Organisation: Die Gruppe
Wer sich heute als eher undogmatischer linksradikaler Mensch organisieren möchte, der wird Mitglied einer Gruppe. Diese Gruppen ordnen sich in der Regel einer der oben beschriebenen Scherben zu, sodass es z. B. linkskommunistische, anarchistische, poststrukturalistische, antideutsche, antiimperialistische u.s.w. Gruppen gibt. Gegenüber der Partei, die heute den Ruf des Autoritären hat und des Stalinismus verdächtigt wird, gilt die Gruppe als eher zwanglos und basisdemokratisch. Jedoch bringen auch die Gruppen autoritäre Züge hervor, weshalb sie nicht nur wenig geeignet erscheinen, den Zustand der Zersplitterung zu überwinden, sondern im Gegenteil diesen oft weiter verfestigen. Es lassen sich insbesondere die folgenden konterrevolutionären Momente benennen, die den gegenwärtigen revolutionären Gruppen in mehr oder weniger ausgeprägter Form eigen sind:
Zum Ganzen aufgeblähter Teilaspekt
Der vielleicht grundlegende Mangel der Gruppen besteht darin, dass sie sich in den meisten Fällen ihrer Partikulärität und Einseitigkeit nicht bewusst sind. In der Regel wird ein Teilbereich für das Wesen der Sache genommen; die Gruppen meinen, ihr jeweiliges Tun und Denken sei bereits die Totalität des revolutionären Projekts oder zumindest dessen allein Erfolg versprechende Vorbereitung. Was man selbst macht, wird als das einzig Wahre gesehen: „Wenn doch nur alle so fleißig Israel unterstützen / die heterosexuelle Matrix dekonstruieren würden wie wir!“ Bei praktischen Gruppen führt das oft dazu, sich in sog. Einpunktbewegungen zu verlieren: Kämpfe, die vielleicht ursprünglich einmal sogar ein wenig Potential hatten, über die Partikularität hinauszugehen, werden als Kampagnen weitergeführt, mit dem Resultat, dass sich die Aktivität in einen lächerlichen Reformismus verliert, während man andererseits ständig von einer möglichen Radikalisierung dieser punktuell handelnden Bewegungen zu hören bekommt, die dann nie eintritt. Bei theoretisch ausgerichteten Gruppen führt dieser Alleinvertretungsanspruch manchmal dazu, dass sie meinen, in einer bestimmten gedanklichen Herangehensweise den Universalschlüssel zum Verständnis der Welt gefunden zu haben und sich nun daran machen, wie einst Eugen Dühring ein ganzes System der Wissenschaften zu erschaffen, das jeden nur erdenklichen Aspekt in ihrem eigenen Jargon wiedergibt. Diese Gruppen bilden manchmal Schulen und finden Anhänger in verschiedenen Städten. Ein Beispiel dafür wäre die Gruppe Exit mit ihrer Wert/Abspaltungstheorie oder auch der Gegenstandpunkt. – Es ist offensichtlich, dass die Weigerung der Gruppen, sich als Scherbe unter anderen zu erkennen, es von vornherein unmöglich macht, die eigenen blinden Flecken wahrzunehmen und zu überwinden.
Streben nach Reinheit
Weit entfernt davon, ihre jeweilige Vereinseitigung als Mangel wahrzunehmen und ihr durch Auseinandersetzung mit anderen Kräften entgegenzuwirken, streben die aktuellen Gruppen oder Strömungen tendenziell danach, sich rein zu halten. Zeitungen, Bücher, Internetseiten, Sommercamps oder Kongresse sollen oft nicht dazu dienen, mit anderen Menschen ins Gespräch zu kommen, sondern eine Linie vorzugeben. Wenn keine Linie erkennbar ist, sollen immerhin möglichst viele Leute mobilisiert werden, auch wenn man nicht genau weiß, wofür. Obwohl implizit immer alle gegenüber allen sehr kritisch eingestellt sind, ist explizit keine Kritik erwünscht, somit auch keine Auseinandersetzung. Auch vom Podium darf keine Kritik an den Veranstaltern kommen, denn dankbar hat die eingeladene Referentin zu sein. Denn Referenten gelten manchmal als „extern“ und haben, wie ansonsten die Ausländer, weniger Rechte. Allenfalls das Publikum mag eine gut vorgetragene Polemik, wird es doch so aus der Reserve gelockt. Als Argument gegen kritische Worte vom Podium wird gern die viele Arbeit angegeben, die von den Organisatorinnen in das jeweilige „event“ gesteckt wurde. Dabei wäre es doch ein Leichtes, nicht nur die inhaltliche, sondern auch die Orga-Arbeit zu verteilen. Selten gibt es aktuell Diskussionen in Zeitungen oder Zeitschriften, die strömungsübergreifend sind. Lieber Zensur als Auseinandersetzung. – Der Grund für diese Haltung ist offenbar eine tief sitzende Unsicherheit über die eigenen Positionen, denn wäre man sich seiner Sache sicher, so bräuchte man die Kritik nicht zu fürchten.
Der eigene Verein als Selbstzweck
Aufgrund der fehlenden wirklichen Praxis, welche, angesichts des Ausbleibens einer aktuellen revolutionären Situation, objektiv schwer zu entwickeln ist, wird die Gruppe oft fetischistisch aufgeladen. Wichtiger als die Frage, ob eine Handlung zur Sache beiträgt, wird der Erfolg der Gruppe in der Konkurrenz zu anderen Gruppen. Anstatt die Gruppe als Hilfsmittel für einen umfassenderen Zweck zu begreifen, wird der Zuwachs an Mitgliedern oder Prestige oder auch schlicht der Fortbestand der eigenen Organisation unter der Hand zum wesentlichen Zweck. Dies führt häufig dazu, dass die eigene Praxis durch Werbung und Manipulation überhöht wird. Trifft man zum Beispiel jemanden in Athen aus einer kleinen Splittergruppe und tauscht sich aus, ist man direkt „organisiert mit internationalen Aktivisten“. Nach außen darf an keiner Aktion Kritik laut werden. Nie darf eine Sache scheitern. Gut ist zum Beispiel, wenn viele zur eigenen Veranstaltung kommen oder der eigene Aufruf „grenz- und spektrenübergreifend“ gelesen wird. Welchen Inhalt das Ganze hatte und ob bei der Veranstaltung Leute damit angefangen haben, etwas miteinander auszuhecken, ist weniger von Bedeutung.
Nach innen hat die Überhöhung der Gruppe die Funktion, den Narzissmus der einzelnen zu befriedigen. Das Ego fühlt sich geschmeichelt, indem es das Gefühl bekommt, an etwas von Relevanz teilzuhaben; das linke Über-Ich, das beständig fragt: „Und was tust DU für die Revolution?“, wird durch die Antwort: „Na ich bin doch in Gruppe xy“ beruhigt. Dies allerdings um den Preis, dass oft schon das Herumsitzen auf einem Plenum zur Praxis hochstilisiert wird. – Hier mag, jenseits aller Gruppendynamik, ein Grund dafür zu finden sein, warum in Gruppen oft nur wenige Macher und noch weniger Macherinnen zu finden sind und viel mehr passive Mitglieder. Das ewige Lamentieren über die geringe Verbindlichkeit gehört genauso zur Gruppe wie der Frust auf die autoritären Macker. Irgendwann ist es unklar, ob die Alphatierchen und Papa-Schlümpfe die Autorität und die Aufgaben an sich ziehen, weil sie einfach viel machen oder weil sie die anderen in ihrer Eigenständigkeit unterdrücken und die dann keine Lust mehr haben. Die Gruppenpsychologie weiß dazu bestimmt noch einiges zu sagen.
Verhinderung von Individualität
Die Kehrseite der Überhöhung der Organisation ist die Verhinderung der möglichen Individualität ihrer Mitglieder. Sicher sind die Menschen heute generell recht normiert, sodass es auch ohne Politgruppen mit der Individualität nicht weit her wäre. Man erlebt es aber doch immer wieder, dass junge Leute, die zwar viele Flausen im Kopf haben, aber dabei doch einigermaßen eigenwillig erscheinen, sich einer Gruppe anschließen und schon bald zu verdinglichten Funktionären werden, die eine verdinglichte Sprache gebrauchen. Schon kennen sie keine „Menschen“ mehr, sondern nur noch „Proletarisierte“, und gebrauchen bloß noch Phrasen, die dann zum geflügelten Szenewort werden, z.B., dass irgendetwas doch „kein Argument sei“. Ein beliebter „running gag“, solange es einen nicht selbst betrifft.
Dazu passt, dass es in manchen Kreisen Mode geworden ist, Texte nur noch mit Gruppennamen zu unterschreiben. Sicher trägt im Idealfall die Diskussion, die der Veröffentlichung solcher Texte vorausgeht, zur gedanklichen Klärung bei, von der alle Beteiligten profitieren. Jedoch werden dabei meist abweichende Positionen oder allzu individualistische Ausdrucksweisen herausgesäubert. Der Gruppenkonsens kann Ausschläge in diese oder jene Richtung kaum verkraften.
Letztendlich können in Gruppen außer den Machern nur diejenigen bleiben, für die Dabeisein alles ist, weil sie fest an die Organisation glauben, diejenigen, die keine eigene Meinung haben, oder die irgendwie Wurschtigen, die für sich eine Nische gefunden haben. Für den Erhalt oder manchmal auch für die Verteidigung der Gruppe wird dieser, wenn schon nicht alles, so doch vieles untergeordnet. Schon haben wir den Parteisoldaten geformt, dem es oft mehr darum zu gehen scheint, in einer wichtigen Gruppe zu sein, als darum, was diese real macht. Wirkliche inhaltliche Gemeinsamkeiten und Freundschaften gelten dann irgendwann als weniger wichtig als die Zugehörigkeit zur Gruppe. Klar, manche versuchen auch u-bootmäßig, die Gruppen zu unterwandern, um ihnen zu größerer Offenheit zu verhelfen. Gedankt wird es ihnen nicht. Schnell gilt man als tragische Figur.
Das Individuum ist nichts, die Gruppe ist alles. Das führt dazu, dass sich selbst diejenigen, die sich keiner Gruppe anschließen mögen, sich nur auf eine solche bezogen sehen und sei es als Nichts. Fragt man irgendjemanden, ob er oder sie etwas Politisches macht, dann bekommt man entweder den Gruppennamen zu hören oder ein entschuldigendes Herausreden, dass man gerade in keiner Gruppe sei. Ausnahmen davon sind höchstens bekannte Autorinnen, Bloggerinnen oder Musikerinnen. Die Verwendung der weiblichen Form ist allerdings hier eher Hohn als Sichtbarmachung der Beteiligung von Frauen, denn meistens handelt es sich doch um Männer.
Solche oder ähnliche Kritik an der Gruppe wird von den Gruppen selbst oft etwas nonchalant weggewischt. Ja, ja, vieles daran würde schon stimmen, aber wenigstens tue man ja was. Das hört sich zwar stark nach Abwehr an, aber sie haben immerhin insofern Recht, dass ohne diese Gruppen die linksradikale Bewegung und die Idee des Kommunismus oder der befreiten Gesellschaft noch weniger wahrgenommen würde als jetzt schon. Genau wie auch etwas Wahres an der Bemerkung ist, dass die ewigen Kritikaster oft zu arroganten Dauernörglern werden, die auch keine Alternativen haben und oft früher oder später privatisieren.
Der aktuelle Stand der Debatte: Diskussionsveranstaltungen
Diskussionsveranstaltungen sind heute der bevorzugte Ort, wo Vertreter verschiedener Scherben aufeinandertreffen und – zumindest dem Anspruch nach – miteinander ins Gespräch kommen. Jedoch lassen die derzeitigen Veranstaltungen nicht darauf schließen, dass es ein ernsthaftes Interesse am Gespräch gibt. Eher scheint es darum zu gehen, dass ein Referent, eine Referentin, sich ausbreiten darf. Es soll in aller Breite einem mehr oder weniger interessanten Gedankengang gefolgt werden. Schon beim dritten Satz hätte man eine Bemerkung zu machen, aber erst nach einer dreiviertel Stunde darf das erste Mal eine Verständnisfrage gestellt werden. Wird dann aber gefragt, was der Mensch unter Gesellschaft, Kapitalismus oder Penisneid versteht, mag das auch wieder nicht recht sein.
Lang hat man ausgeharrt, die Langeweile ertragen, darauf gewartet, dass vielleicht doch noch was passiert, dann kommt sie endlich: die Diskussion. Doch was passiert: Statt einer lebendigen Auseinandersetzung gibt es ein müdes Frage-Antwort-Spiel. Streng wird darauf geachtet, dass es keine Co-Referate gibt. Eine Redeliste setzt jede spontane Diskussion außer Kraft, da es keinen Bezug mehr aufeinander geben kann, wenn man erst 10 Minuten nach Handhebung zu Wort kommt. Manchmal werden auch Fragen gesammelt, wodurch schon im Vorhinein jede Diskussion verunmöglicht wird. Die Formen, die die Diskussion strukturieren sollen, führen dazu, dass die Referentenzentrierung sich noch verstärkt. Auch alle diejenigen, die nicht schon im Vorhinein verschüchtert oder verschreckt sind von der Situation, sind es jetzt erst recht.
Beliebt ist auch die Delegation der Diskussion an ein Podium. Hier können dann irgendwelche Hanseln, die sich nicht zu blöd dabei vorkommen, einen Stellvertreterstreit fürs Publikum eröffnen, wobei letzteres in vollständiger Passivität verharrt. Hier geht es weder um Erkenntnis, noch darum, dass Leute miteinander ins Gespräch kommen, sondern vielleicht eher um ein Schauspiel. Man weiß es wirklich nicht so genau.
Als Reaktion auf die Mängel dieser referentenzentrierten Veranstaltungsformen werden mittlerweile eine Reihe von der Pädagogik entnommenen Vorgehensweisen (Karten-Malen, clustern, fish bowl, etc.) auch bei politischen Veranstaltungen verwendet, mit dem Ziel, eine stärkere Mitwirkung der Beteiligten zu erreichen. Damit ist jedoch in der Regel wenig gewonnen: Zum einen entsteht so höchstens eine Schein-Selbsttätigkeit, die nur unter Anleitung geschieht. Daraus ergibt sich der Eindruck, nicht Ernst genommen und wie Kinder behandelt zu werden. Zum anderen können auch die ausgefeiltesten Kommunikationsmethoden keinen relevanten Austausch herbeizaubern, wo kein gemeinsames Anliegen bzw. inneres Bedürfnis besteht.
Es darf jedoch angesichts der derzeitigen Veranstaltungs-Langeweile nicht vergessen werden, dass immer wieder vorkommt, dass große Prediger, manchmal sogar Predigerinnen auftauchen, die alle in ihren Bann ziehen, aufwühlen und aus der Lethargie reißen. Rudi Dutschke zum Beispiel soll bis zu dem auf ihn verübten Attentat so einer gewesen sein. Die Vortrags-Form ist also nicht generell zu verdammen. Allerdings taugt die Agitation durch charismatische Persönlichkeiten, auch im besten Fall, nur für den Anfang einer Bewegung: Soll sich diese intensivieren, so ist es erforderlich, dass möglichst viele Frauen und Männer eine eigene Stimme finden und an hundert Küchentischen und Kneipentresen ihre Gesprächspartnerinnen in Bewegung versetzen.
Abschließend ist vielleicht noch darauf hinzuweisen, dass die Veranstaltungen, wenn schon der Vortrag und die offizielle Diskussion wenig taugen, immerhin den Nutzen haben, dass unterschiedliche Leute zusammenkommen und dann hinterher in der Kneipe mitunter recht angeregte Gespräche führen können.
Beziehung der Splitter aufeinander
Mit den Diskussionsveranstaltungen wurde bereits die Frage gestreift, wie die einzelnen Fraktionen mit ihrer Zersplitterung umgehen bzw. wie sie auf andere Scherben reagieren. Dies soll nun genauer betrachtet werden. Es gibt dabei zunächst die Umgangsformen, welche den Zustand der Zersplitterung nicht infrage stellen.
Dazu gehört erstens die wechselseitige Ignoranz: Die jeweiligen Fraktionen sind sich selbst genug und kümmern sich nicht weiter darum, was andere Subversive tun oder denken. Diese Haltung ist sowohl bei Individuen als auch bei Gruppen oder ganzen Strömungen zumeist eine spätere Erscheinung: Nach einer Zeit des Suchens, der Auseinandersetzung und der Abspaltungen meint man, „den richtigen Weg gefunden“ zu haben, an dem man nun stur festhält. Da man sich so die Gefahr des Infragegestelltwerdens erspart, führt diese Einstellung zur Stagnation und geht mit einer Verknöcherung des Denkens, der Sprache und der Umgangsformen einher.
Eine zweite, weit verbreitete Umgangsweise der Linksradikalen untereinander ist die gegenseitige Missionierung. Sie erkennt den Zustand der Zersplitterung formal an, indem sie feststellt, dass es Linksradikale gibt, die etwas anderes tun oder sagen als man selbst. Da sie sich jedoch bereits selbst für eine fertige Totalität hält, meint sie, lediglich quantitativ wachsen zu müssen, indem sie die anderen Fraktionen des linken Milieus wie auch den Rest der Bevölkerung davon überzeugt, sich der eigenen Praxis anzuschließen und exakt das zu tun, was man selbst macht. An unserem Wesen soll die Welt genesen. Anders als bei der wechselseitigen Ignoranz findet hier in gewissem Maße eine Auseinandersetzung statt, die jedoch wenig produktiv ist, da die Infragestellung immer nur auf der Seite des Missionierungsobjekts stattfindet; die Waffen der Kritik nur auf den Gegner angewandt werden, nicht aber auf die eigene Position.
Die dritte in diesem Zusammenhang zu nennende Beziehung ist der Kampf bis aufs Messer: Hier wird eine bestimmte Position als dermaßen falsch und gefährlich angesehen, dass ihre Vertreter nicht mehr als Missionierungsobjekte in Betracht kommen. Es geht dann darum, die entsprechenden Leute aus der linksradikalen Familie auszustoßen, indem man sie denunziert, isoliert, aus Treffpunkten herausschmeißt oder auch verprügelt. Dabei wird meist die Haltung zu einem isolierten Problem zu einer Frage „ums Ganze“ aufgeblasen, welche, ungeachtet aller anderen Lebensäußerungen der betreffenden Person oder Gruppe, allein darüber entscheiden soll, ob jemand „richtig“ oder „falsch“ liegt, „dazugehört“ oder nicht. Solche Einzelphänomene waren in letzter Zeit z.B. die Bewertung des Staates Israel, die Einschätzung dieser oder jener kriegerischen Auseinandersetzung oder die Frage, ob man einen bestimmten Vorfall als Vergewaltigung ansieht oder nicht. Die Folgen einer solchen Vorgehensweise liegen auf der Hand: Schwarz-Weiß-Denken, Verengung der Wahrnehmung, spiegelbildliche Vereinseitigung der Kontrahenten. Erfolgreich sind solche Ausmerzungskampagnen nicht: Weder hat der Herauswurf von wirklichen oder vermeintlichen Vergewaltigern den Sexismus aus der autonomen Szene verbannt, noch konnten die Feldzüge gegen Antideusche und Antiimperialisten die Linke von vermeintlichen oder wirklichen Kriegstreibern bzw. Antisemiten reinigen. Der Mangel dieser Versuche besteht darin, dass hier objektive Widersprüche als subjektive Verfehlungen von Individuen oder Gruppen verharmlost werden. Es wird eine Personifikation gesellschaftlicher Widersprüche betrieben, welche einem die Auseinandersetzung mit allgemeinen, also auch einen selbst betreffenden Problemen erspart.
Versuche der Aufhebung der Zersplitterung, die auf dem Boden der Zersplitterung verbleiben
Neben den oben beschriebenen – recht bewußtlosen – Umgangsweisen mit der Zersplitterung wird unter den Scherben zuweilen auch das Bedürfnis formuliert, zu einer höheren Form der Organisierung zu gelangen. Die beliebteste Form heutiger Assoziationsbemühungen, die über die Gruppe hinausgehen, ist das Bündnis. Dieses gibt es in zwei Varianten: Einmal als dauerhafte Zusammenkunft von Gruppen sehr ähnlicher Ausprägung, die sich auf eine inhaltliche und/oder praktische Linie einigen. Die Gruppen stammen dabei oft aus verschiedenen Städten oder Ländern. Dies wird bevorzugt vor der Zusammenarbeit mit Leuten aus der gleichen Stadt, die nicht derselben Strömung angehören – was noch einmal den Hang zur Ghettobildung und Reinhaltung des eigenen Milieus unterstreicht. Die eigene Partikularität wird nicht als solche eingestanden, stattdessen versucht man, durch den Zusammenschluss mit ähnlichen Partikeln zu einer Art Riesen-Scherbe zu werden. Im Übrigen gelten hier dieselben Gesetzmäßigkeiten wie bei der Gruppe.
Bei der anderen Variante besteht das Bündnis aus verschiedenen Scherben. Die Splitter bleiben hier wie sie sind, finden sich aber zeitweilig zusammen, z.B. für eine Kampagne oder zur gemeinsamen Aktion. Dazu gibt es einen Bündnisaufruf, der so allgemein gehalten ist, dass alle damit leben können und der deshalb schlechter ist als jede einzelne Gruppe für sich. Auch hier wird die Zersplitterung nicht wirklich überwunden, da die Widersprüche nicht ausgetragen, sondern zugunsten einer formalen, nichtssagenden Einheit unter den Tisch gekehrt werden.