III. Was tun zur Überwindung der aktuellen Misere?
III. Was tun zur Überwindung der aktuellen Misere?
Das Zerfallen der Bewegung in Scherben muss kein Unglück sein, wenn die jeweiligen Scherben die abgespaltenen Anteile ihrer selbst erkennen und aufnehmen. Ziel müsste es sein, eine subversive Kraft zu schaffen, die die vorhandenen Splitter in sich aufhebt und dabei vollständig verwandelt. Dies ist das Gegenteil von allseitiger Akzeptanz und Toleranz, sondern bedeutet Streit. Also kein all-linker Pluralismus, dem es nur darum geht, dass alle etwas mehr miteinander reden, sondern im Gegenteil das Eingeständnis, dass alle Splitter gleich wenig taugen und dass, wenn sie sich nur gut verstehen würden, dies auch nichts an ihrer Unzulänglichkeit ändern würde.
Verhärtete Fronten können jedoch nur aufgebrochen werden, wenn man immer wieder das eigene Selbst und seine Gewissheiten in Frage gestellt, sonst ist keine Veränderung möglich. Danach scheinen jedoch nicht allzu viele zu streben, denn aktuell hängen die meisten, wenn schon nicht so fest an den bestehenden gesellschaftlichen Verhältnissen, so doch an den bestehenden Gruppen und der je eigenen Ideologie. In seltenen Fällen wird diese Aufhebung von Protagonisten der einzelnen Scherben selbst bewerkstelligt werden, wahrscheinlicher ist vielleicht, dass dritte Protagonisten auftauchen, die die Scheinwidersprüche der letzten politischen Generation von vornherein nicht akzeptieren. Trotzdem können Einzelne in diesem Prozess in der Lage sein, mit der neuen Entwicklung teilweise Schritt zu halten. Am ehesten geeignet, eine Änderung herbeizuführen, scheinen daher diejenigen zu sein, die mit den bisherigen Gruppen unzufrieden sind und eine neue Form der Zusammenarbeit wünschen. Oder fast noch besser: Menschen, die sich bisher in keine Gruppe hineinzwängen wollten. Solche, die zwar mit bestimmten allgemeinen Inhalten sympathisieren, aber ein Problem mit den oft autoritären Strukturen und dem Zwang zur Identifizierung und zur Einhaltung einer Linie haben.
Die eigene Partikularität erkennen
Der erste Schritt zum Besseren bestünde schlicht und einfach darin, zu erkennen bzw. sich einzugestehen, dass man selbst nicht mehr als eine Scherbe ist. Der Hochmut gegenüber anderen könnte dann ebenso abgelegt werden wie die Abwehr von Selbstkritik. Widersprüche – z.B. zwischen Revolution und Reform oder Antifaschismus und Kommunismus – könnten als in der Sache liegend erkannt werden und würden nicht mehr als bloße Denkfehler des Gegenübers abgetan. Erst unter der Voraussetzung dieser Selbsterkenntnis könnte das Experimentieren mit anderen Formen beginnen.
Miteinander reden, essen, leben
Erst einmal muss klein angefangen werden, denn selbst die Kontaktaufnahme ist nicht die leichteste Aufgabe. Es müssen Orte geschaffen werden, die ein Zusammentreffen negativer Geister unterschiedlicher Art ermöglichen. Dies könnten z.B. Kneipen oder Cafés sein, die nicht schon von vornherein als Stammlokale einer bestimmten Strömung gelten. In Ermangelung solcher Treffpunkte können die Kneipenabende nach den „offiziellen“ Veranstaltungen zur Kontaktaufnahme und -vertiefung genutzt werden; auch Partys und Essenseinladungen sollten zu diesem Zweck nicht unterschätzt werden. Zumal sich etwas zusammenbrauen muss, jenseits von theoretischen Erkenntnissen, und das passiert üblicherweise in sich überlappenden und durchdringenden gemeinschaftlichen Lebenszusammenhängen von den Schlafzimmern über die Küchen und Wohnzimmer zu den Partys und Kneipen. Solche Zusammenhänge sind immer die nötigen Voraussetzungen bestimmter praktischer Erhebungen.
Die üblichen Vortrags- und Diskussionsformen haben sich als weitgehend untauglich erwiesen. Anstatt einen Starredner einzuladen, weil dieser Publikum „zieht“ und dabei nur eine passive Zuhörermasse anlockt, ist es besser, wenn jemand aus dem Bekanntenkreis selbst ein paar provisorische Thesen zum betreffenden Thema formuliert. Es gibt ja meist genug Leute, die sich mit diesem oder jenem auskennen oder gerade an einem Ort waren, von dem es sich zu berichten lohnt.
Durch die vorherrschenden Regelungen zur Strukturierung der Diskussion wird heute jede lebendige Debatte im Keim erstickt. Klar, der Mensch ist des Menschen Wolf, und Regeln sind Zeichen der Zivilisation. Aber könnte es nicht möglich sein, hier in noch höhere Sphären zu gelangen? Das sich selbst produzierende männliche Wesen kann vielleicht auch in die Spur gebracht werden, wenn alle ein wenig auf ihr Redeverhalten achten, und eine Redeleitung nur dann eingreift, wenn jemand nicht wahrgenommen wird und andere sich zu sehr in den Vordergrund drängen.
Bei den heutigen Publikationsorganen wäre man schon froh, wenn die Zensur durchlässiger wäre, und nicht alles nach Linie publiziert werden müsste. Lieber eine Gegenposition im Heft veröffentlichen, als einen eingereichten Artikel mit Zensur zu belegen. Viel eher müssten jedoch Publikationsorgane so geschaffen werden, dass es in ihnen möglich wäre, eine offene Diskussion über Strömungsgrenzen hinweg oder besser jenseits derselben zu führen.
Umfassende Diskussion und beginnendes Experimentieren
Die Diskussion sollte umfassend sein. Sie sollte nicht nur an der Theorie der Gesellschaft erarbeitet werden, sondern auch Fragen des Lebensstils, der Form, des Inhalts und der Taktik betreffen, denn alle Bereiche bedürfen einer komplette Umwandlung. Es geht um Fragen des Geldbeschaffens, der Arbeit, der Liebe und des Kinderaufziehens, der Freundschaften, des Zusammenlebens. Wie kann eine konkrete Solidarität aussehen, die niemanden überfordert? Wie kann mit den Lebensformen experimentiert werden, ohne dass daraus ein Programm entsteht? Niemand muss schon alles klar haben und schon jetzt „befreit“ leben, um darüber reden zu können oder einige zögerliche Schritte zu unternehmen. Es darf hier auch keine Norm geben, z.B., dass Lohnarbeit so weit wie möglich unterlassen werden soll. Zwar ist Arbeit, wie die Familie, eine große Integrationsmaschine, doch kann das prekäre Leben von staatlichen Sozialleistungen und Containern auch sehr zermürbend sein. Wichtig ist es, darauf zu reflektieren, was die jeweiligen Lebensbedingungen aus einem machen und wie weit man sich durch diese Bedingungen bestimmen lässt. Denn es ist nicht nur der Zeitfaktor, der einen von der Arbeit zermürbt und ausgelaugt zurücklässt, sondern vor allem auch die notwendige Identifikation mit der Arbeit, die mit den Idealen einer Anarchistin oft wenig zu tun haben. Hier kann es sicherlich auch sinnvoll sein mit Leuten, die einem ähnlichen Beruf nachkommen, darüber zu reden, wie damit ein Umgang gefunden werden kann.
Das führt direkt zu einem weiteren Problem, welches die Frage des revolutionären Übergangs betrifft. Es kann eben nicht mehr wie noch in der alten Arbeiterbewegung davon ausgegangen werden, dass einfach nur die Produktionsmittel angeeignet werden müssen, sondern oftmals erweisen sich Produktionsmittel als komplett ungeeignet oder benötigen eine vollständige Umwandlung. An Sparkassen und Versicherungen sind vielleicht wirklich nur die Computer zu verwenden, und die aktuelle Form der Energieversorgung läuft darauf hinaus, die Welt in einen für Menschen unbewohnbaren Ort zu machen. Und so sind solche, die sich hier mit Alternativen beschäftigen, auch eine Scherbe, selbst wenn sie sich dessen wie auch ihrer Teilhaftigkeit an einem radikalen Zusammenhang gar nicht bewusst sind.
Sich Organisieren
Nachdem so viel Kritik an der Organisationform der Gruppe geübt wurde, drängt sich die Frage auf, wie eine sinnvollere Kooperation aussehen kann. Wichtiger als die formale Organisation ist dabei, dass wirkliche Bindungen zwischen Individuen entstehen. Sofern sich ein gewisser Gemeingeist herausbildet, ist es weder notwendig noch wünschenswert, dass die kooperierenden Individuen in allen Punkten das gleiche denken oder tun. Besser, als sich auf wöchentlichen Plena den Kopf zu zerbrechen, womit die Gruppe sich als nächstes beschäftigen könnte, scheint es uns, sich von vornherein nur für ein zeitlich begrenztes Projekt zusammenzufinden und sich dann zu treffen, wenn es nötig ist. Besser, als sich monatelang über ein theoretisches Grundsatzprogramm zu streiten, ist es, durch eine gemeinsame Praxis herauszufinden, mit wem man wie kooperieren kann. Auch hier sollten jedoch keine Dogmen aufgestellt werden. Wirkliche Lösungen müssen, wie bei allem anderen auch, erst noch gefunden werden.
Der nächste Schritt
Trotz ihres beklagenswerten Istzustandes halten wir es nicht für ausgeschlossen, dass sich aus gegenwärtigen radikalen Splittergruppen Leute finden werden, die ihre fragmentierte Starrheit überwinden und sich zur Totalität eines wirklichen revolutionären Projekts zusammenfügen. Wahrscheinlicher ist jedoch, dass, ähnlich wie auch bei der Revolution selbst, nicht der bloße voluntaristische Akt die Scherben durcheinanderwirbeln und sich erneut aufeinander beziehen lassen wird, sondern dass dazu ein eruptiver Impuls von außen nötig ist. Sei es das Auftauchen einer neuen revolutionären Kraft oder ein historisches Ereignis, dem man sich nicht entziehen kann und will. Man darf nämlich nicht vergessen, dass auch die radikale Szene insgesamt in Bezug auf die Gesamtgesellschaft nur eine Scherbe ist und dass auch alle anderen Sektoren der Gesellschaft in Bewegung geraten müssen, wenn eine wirkliche Umwälzung stattfinden soll. Die hier aufgeworfenen Fragen stellen sich daher etwa in Barcelona oder Athen viel konkreter, da sich die Radikalen dort plötzlich einem Resonanzkörper gegenübersehen, indem breite Sektoren der Gesellschaft durch die Krise bedingt in konfusen Aufruhr geraten. Insbesondere zeigt sich dort aber auch, dass die noch der Ebbe entsprungenen Gruppierungen, Strömungen oder die Szenen mitnichten in der Lage sind, mit der aufflackernden gesellschaftlichen Unruhe mitzuhalten.
Es kann aber auch gut sein, dass die heutigen Gruppen eine solche Situation vollkommen verschlafen, weil sie zu sehr damit beschäftigt sind, ihren eigenen Status quo zu erhalten. Diejenigen aber, die sich mitreißen lassen und dabei alle jetzigen Sicherheiten über Bord werfen, könnten zu etwas Besserem beitragen. In der Hitze der Auseinandersetzung kann es jedoch manchmal von Vorteil sein, sich schon länger mit den auftretenden Fragen und Antagonismen auseinandergesetzt zu haben. Letztendlich kommt es unmittelbar auch nicht auf die Anzahl alleine an, sondern viel mehr darauf, dass etwas Neues, etwas Kraftvolles entsteht, das in der Lage ist, einige Löcher in die alte Ordnung zu reißen, sodass sich überhaupt freie Alternativen abzeichnen können.