Ein Algorithmus, bei dem jeder mit muß
Vortrag von Helmut Höge bei der Vorstellung des Telegraph im Laidak
Folgender Text von Helmut Höge wurde bei der Vorstellung des Telegraph im Laidak am 19. Juli 2023 vorgelesen, er ist allerdings nicht im Heft enthalten.
„‚Heimat, Hightech, Highspeed‘ – dafür arbeiten wir“, sagte der grüne Ministerpräsident von Baden-Württemberg, während der bayrische CSU-Ministerpräsident meinte, „Hightech und Heimat“ seien in seinem Bundesland bereits „vereint“. Neuerdings heiße es auch noch „Laptop und Lederhose“, „Rosenkranz und Raumfahrt“, „Leberkäs und Laser“, „Gigabit und Gamsbart“, „WLAN und Weißbier“, „KI und Knödel“, ergänzte der Herausgeber des bayrischen „Unternehmer-Magazins“. Die rotgrüne Bundesregierung entschied sich unterdes für den Satz: „Das Leitbild der KI-Strategie ist ein europäisches KI-Ökosystem für Innovationen“.
Gegen die „KI-Strategien“ von Hollywood wehren sich gerade amerikanische Drehbuchautoren und Schauspieler. Die Autoren-Gewerkschaft WGA streikt schon seit Mai, kürzlich hat sich auch SAG-AFTRA angeschlossen, Hollywoods größte Gewerkschaft, die 160.000 Schauspielerinnen und Schauspieler vertritt.
Es geht ihnen vor allem um die Zusicherung, dass man sie nicht durch Künstliche Intelligenz (KI) ersetzt: „Es darf nichts produziert werden, das nicht von Menschen geschrieben ist“, lautet die Forderung der WGA. Die SAG-AFTRA-Vize-Präsidentin sagt es so: „Wir kämpfen gegen das Vordringen künstlicher Intelligenz und dafür, dass wir zustimmen müssen und bezahlt werden, wenn sie Scans verwenden, die sie von uns sehr bald machen könnten.“
Sie machen es bereits. Das Internet und das so genannte soziale Medium Facebook z.B. ist bereits voll davon. Anfänglich bestand diese „Plattform“ aus Eintragungen, theoretisch aus aller Welt, die aus parteipolitischen, linken und reaktionären Meinungen, Ideen, Kommentaren, Demo-Berichten, Witzen, Sprüche, Comics, Selfies, Aufrufen, Artikel, Tier-, Pflanzen-, Urlaubs- und Essens-Fotos bestanden. Dazwischen kamen dann immer mehr Werbeanzeigen.
Aber nun überwiegen Manga-Bilder von jungen Mädchen mit riesigen Brüsten in 2D, 3D und KI-generiert, sowie BMW-, Mercedes-, Lamborghini-, Motorrad- und Traktor-Models mit riesigen Brüsten, „Billionair Girls Club“, Serien mit dicken Frauen, die große Brüste und riesige Hintern haben, Serien mit dünnen Bikini-Frauen, Serien mit halbnackten Hollywood-Stars und Sternchen, Serien mit Pin-Up-Girls und Serien mit Retrogirls in Schwarz-Weiß. Jeder dritte Eintrag besteht aus Serien mit jungen Frauen, die meist künstlich vergrößerte Brüste und Lippen haben.
Darüberhinaus gibt es auf jeder Facebook-Seite zwei weitere Serien mit zahllosen „Reels“ – kurze Filmchen, die noch einmal die gleiche Mädchen/Frauen-Parade zeigen, wobei die meisten ihre Lippen und ihre Brüste ebenfalls „aufgeblasen“ haben. Ab und zu zeigt auch einmal ein Mann alberne technische Tricks oder ein neues Werkzeug. Oder die Parade posierender Frauen wird von Tier-Videos unterbrochen, auf denen es meist darum geht, dass Krokodile oder Raubtiere irgendein anderes Tier zerfleischen oder große Schlangen ein Tier erwürgen. Süße Katzen gibt es daneben natürlich auch. Die Mehrzahl der Reels zeigt jedoch Frauen, die ihre Lippen und Brüste mit Botox oder Ähnlichem vergrößern ließen. Mit Revolax aufgespritzte Lippen („Entenschnabel“ genannt) kosten zwischen 120 („Normale Technik“) und 200 Euro („Russian Lips“ oder „Davinci Lips“).
Bei dieser Bilderschwemme auf Facebook und anderswo scheint es genaugenommen um einen Wettbewerb zwischen Asien und Amerika zu gehen: Welches System hat die schärfsten jungen Frauen: Einerseits die immer realistischer und pornographischer präsentierten Manga- bzw. Hentai (Porno)-Mädchen aus Japan, Korea, Singapur, Thailand oder Vietnam, die getoppt werden von ganz realen Mangamädchen aus China (großteils von TikTok übernommen), die durch die dortigen Fußgängerzonen wie auf einem Catwalk spazieren. Und andererseits amerikanische junge Frauen, weiße wie schwarze, erstere mit ebenfalls künstlich vergrößerten Lippen und Brüsten. Eigentlich ist damit fast das ganze Facebook-Programm ein Systemwettbewerb von Schönheitschirurgen geworden.
Wenn der Dirigent Barenboim in Anlehnung an Goethe ein „West-Eastern Divan Orchestra“ gründete – für ein anspruchsvolles Kulturpublikum aus der oberen Mittelschicht, dann deuten die oben erwähnten Mädchen-Paraden auf einen West-Östlichen OP-Tisch für die Unterschicht hin, wobei mit der Künstlichen Intelligenz die Style-Leader oder Role-Models zunehmend gefakt werden. „Das Kino ist der Diwan der Armen“, meinte Roland Barthes. Auf der Leinwand oder auf dem Bildschirn treten ihre Vorbilder in Erscheinung. Auf Facebook kann man sich (von TikTok) neuerdings auch selbst „tolle asiatische Mädchen“ per Mausclick basteln – aus den drei Teilen Gesicht, Körper und Beine, sowie auch Mangamädchen als Wackelfigur fürs Armaturenbrett bestellen.
Als die Computerisierung um sich griff, zersetzte sie das Soziale. Aber vielleicht läßt sich das Soziale in den Sozialen Medien retten, hofften anfangs jedenfalls die jungen Netz-Werker des Chaos-Computer-Clubs und Internet-Theoretiker wie Geert Lovink. Inzwischen ist es still geworden um diese „Digitale Bohème“, Lovink sieht bereit das Internet als Ganzes vor dem Aus.
1996 schwärmte er noch ähnlich wie das „manager-magazin“ vom neuen elektronischen Zeitalter - und namentlich von seinem Vorreiter Don Tapscott und seinem Bestseller „Die digitale Revolution“. Die neuen Medien, prophezeite der, werden eine völlig neue Ökonomie hervorbringen, die die alten Wertschöpfungsketten durch -netze ersetzt und eine neue Unmittelbarkeit erlauben. Zudem werden in den Unternehmen Kommandohierarchien obsolet, wobei „zunehmend Kapital durch Geist geschaffen wird“ - Kreativität, die nicht mehr von oben „beaufsichtigt und befohlen“ wird. „In der modernen Wissensökonomie sind Lernen und Arbeiten hundertprozentig identische Aktivitäten“, deswegen werden die neuen „Unternehmen die zukünftigen Universitäten sein“. Tapscott erwähnt als Beispiel die Privathochschule von McDonalds, in der 2006 „eine Million Menschen lernten“, er nennt sie die „Net-Generation“.
Diese Scene ist zwar inzwischen von der Hightech-Entwicklung enttäuscht, aber, die sozialen Medien werden desungeachtet wohl als „Asoziales Medium“ weiter existieren: 1. für legale und illegale Geschäfte – Plusmachereien, und 2. für immer weitergehende Pornographisierungen. Die KI-Technik macht es bereits möglich, dass es z.B. hunderte von völlig realistischen Pornos mit Scarlett Johansson und anderen bekannten Schauspielerinnen bzw. „Celebrities“ gibt. Man braucht dazu bloß die Bilder von diesen Stars. Je prominenter jemand ist, desto mehr wird er abfotografiert und desto mehr Scans lassen sich von ihm/ihr machen. Man kann diesen Promis nur raten, sich das Copyright auf ihre Erscheinung und ihre Stimme zu sichern, damit sie an den auch „Deepfake“ genannten KI-Pornos und -Bildern von ihnen wenigstens noch etwas verdienen. Aber ob Fake oder Echt – sie bleiben attraktiv und taugen zur Nachahmung (für die Massen). Nicht zufällig werden in dem zwischen Asien und Amerika sich identitär auspendelnden Südkorea weltweit die meisten Schönheitsoperationen durchgeführt.
Scarlett Johansson ist nur eine von vielen Frauen und Stars, die Protagonisten von Sexvideos sind, die von künstlicher Intelligenz generiert wurden. Die Washington Post berichtet, dass ein „Deepfake“-Video, in dem Johanssons zu sehen ist, allein auf einer Pornoseite über 1,5 Millionen Mal aufgerufen wurde. „KI ist für Frauen ein Alptraum“, titelte die Zeitung.
„Tatsache ist, dass der Versuch, sich vor dem Internet und seiner Verderbtheit zu schützen, im Grunde ein hoffnungsloser Fall ist. Das Internet ist ein riesiges Wurmloch der Finsternis“, meint Scarlett Johansson. Zumal die rechtlichen Möglichkeiten, gegen „Deepfake-Pornographie“ vorzugehen, sehr begrenzt sind, und die KI-Bilderflut quasi stündlich steigt.
Mit KI erweitern sich die Anwendungsmöglichkeiten des Internets aber noch einmal erheblich. Die Journalistin Xiaowei Wang schreibt in ihrem Bericht über den Einsatz von KI-Überwachungstechnik in den Hühner- und Schweine-Farmen des ländlichen Chinas: „In den USA und in China ist die Verlockung durch KI schon allerorten mit Händen zu greifen“. Die USA haben deswegen jüngst den Chipexport nach China beschränkt. Die US-Regierung will damit das chinesische Entwicklungstempo bei der KI bremsen.
Jen-Hsun Huang ist der chinesisch-amerikanische Gründer und Chef des kalifornischen Chipkonzerns Nvidia, der seit kurzem zu den sechs wertvollsten Unternehmen der Welt zählt. „NVIDIA erfindet den Grafikprozessor und fördert Fortschritte in den Bereichen KI, Gaming, autonome Fahrzeuge und Robotik“, heißt es auf seiner Internetseite. Der Konzern entwickelte auch jene Chips, die KI-Modelle wie ChatGPT antreiben. „Bei der künstlichen Intelligenz handelt es sich um das größte Instrument zur Datenverarbeitung, das die Welt je gesehen hat. Die Chance, aus KI etwas wirklich Wertvolles rauszuholen, ist enorm“, sagte Huang dem Spiegel, der ihn fragte, ob der Erfolg seiner Firma vorübergehen könnte. „Im Gegenteil“, antwortete er. „Tatsächlich beginnt ein neues Computerzeitalter. Das ist der wichtigste Punkt der künstlichen Intelligenz: Man kann jetzt einen Computer bitten, einen Computer zu programmieren. Und das geht auch noch super einfach. Nun können nicht nur Spezialisten, sondern Lehrer, Künstler, Buchhalter ein Programm schreiben. Alle können künftig mit KI ihre Arbeit verbessern und produktiver werden. Einer unserer neuen H100-Computerchips kann Hunderte von herkömmlichen Prozessoren ersetzen. Die Energieeffizienz lässt sich damit enorm steigern. Weltweit gibt es Rechenzentren im Wert von etwa einer Billion Dollar – und die müssen nun alle beschleunigt werden. Gleichermaßen steigt mit KI die Effizienz von Software. Deshalb wird früher oder später jeder Computerchip ausgewechselt werden, jede Software mit KI ausgerüstet. All das wird unser Wachstum mindestens eine Dekade lang treiben.“
Mit KI wird die vierte Industrielle Revolution eingeleitet, die viele Berufsgruppen arbeitslos machen wird. Wie sahen die Anfänge dieser Entwicklung aus?
Der Krieg ist der Vater aller Dinge, sagt man. So gäbe es z.B. die ganze Rockmusik nicht ohne „entwendete Heerestechnik“, wie der Medienforscher Friedrich Kittler meinte. Und Computer und Gentechnik gäbe es nicht ohne die Waffenlenkforschung im Zweiten Weltkrieg – u.a. in Peenemünde. Dort war Helmut Gröttrup der Chefingenieur für die Funksteuerung der Raketen.
Nach dem Krieg bemächtigten sich die Amerikaner der ersten Riege der Peenemünder – 120 Techniker insgesamt (u.a. den Leiter General Walter Dornberger, die SS-Offiziere Wernher von Braun und Arthur Rudolph). Letzterer entwickelte dann die Pershing-Rakete und die Saturn-V-Mondrakete. Beide Ingenieure waren Kriegverbrecher, Rudolph mußte erst 1991 entehrt die USA verlassen. Dornberger war an der Entwicklung eines Vorläufers des Space-Shuttle beteiligt, Nach 1965 ging er als Rentner zurück nach Deutschland, wo man eine Patriot-Flugabwehrraketen-Stellung bei seinem Geburtsort Gießen nach ihm benannte.
Die zweite Riege der Peenemünder, Helmut Gröttrup und rund 600 seiner Mitarbeiter, griffen sich die Sowjets. Das war ein glücklicher Zugriff. Die Amerikaner wußten nicht, dass im deutschen Ingenieurwesen die zweite Riege stets besser als die erste ist, weil diese vor allem mit Budget-, Verwaltungsaufgaben und Politikerpflege befaßt ist, während die zweite die eigentliche Forschung macht (wie auch heute noch an den Unis). Deswegen waren die Sowjets 1957 die ersten bei der sogenannten Eroberung des Weltraums – erst mit Hunden und dann 1961 mit dem Kosmonauten Gagarin, der im Gegensatz zu den Hunden den Flug überlebte. Die Gruppe um Gröttrup wurde von ihnen 1945 zunächst in einem „Institut Rabe“ bei Bleicherode konzentriert und dann in der Mehrzahl an einem Standort auf der russischen Insel Gorodomlia im Seeliger See.
Die dritte Riege griffen sich die Franzosen. Eine weitere Gruppe arbeitete im Auftrag des ägyptischen Präsidenten Nasser an einer Rakete gegen Israel. Sie wurde teilweise vom israelischen Geheimdienst mit Paketbomben dezimiert. Einige Mitarbeiter fanden in den siebziger Jahren in der Abschreibungsfirma von Lutz Kayser, OTRAG (Orbit-Transport-Aktiengesellschaft) eine neue Anstellung. Aufsichtsratsvorsitzender dieses Konsortiums für den Bau von „Billigraketen“ war der Peenemünder Kurt Debus, sein alter Raketentechniker Richard F. Gomperts wurde Konstruktionschef. Als Versuchsfeld hatte die OTRAG ein Gelände in Zaire von der Größe Österreichs erworben, für das sie mit dem Staatspräsidenten Mobutu ausserdem eine „freie Uranausbeutung“, „gesperrten Luftraum“ und die „Durchführung beliebiger Arbeiten“ aushandelte.
Gestützt auf Geheimdiensterkenntnisse outete 1976 ein Mitarbeiter der New York Times, Szule, die Firma von Lutz Kayser als „ein Unternehmen der Rüstungskonzerne Messerschmitt, Bölkow, Blohm“ (die dann zusammen mit der Dornier GmbH als Deutsche Aerospace AG, DASA, firmierte und zur Daimler-Benz AG gehörte). Die OTRAG-Experimente beendete später der Bürgerkrieg in Zaire.
Die DASA gründete 1990 eine „Deutsche Agentur für Raumfahrt-Angelegenheiten“, die DARA GmbH, in deren „Sonderauftrag“ der Dornier-Wissenschaftler Dr. Dieter Genthe 1991 eine Studie „Zur Realisierbarkeit eines Raumfahrtparks/ Space Parks in der BRD“ erstellte. Diese Studie wurde dann Grundlage für eine „Betriebsgesellschaft Raumfahrtpark Peenemünde“, die der Landkreis Ostvorpommern, die Kommune Peenemünde und die Kreissparkasse Wolgast 1994 gründeten.
Die Historikerin Regina Scheer, die im Auftrag der Bundeszentrale für politische Bildung die Gedenkstätten Mecklenburg-Vorpommerns katalogisiert und dabei auch Peenemünde besucht hatte, erfuhr dort zu ihrem Schrecken, dass inmitten der „Waffenverherrlichung“ eine neue Gedenkstätte „für die Opfer von Krieg und Gewaltherrschaft“ geplant war, wobei man an erster Stelle auch noch der „Opfer der Vertriebenen aus Pommern“ zu gedenken beabsichtigte. Regina Scheer wandte sich daraufhin an die jüdische Gemeinde in Mecklenburg-Vorpommern und diese informierte das Simon-Wiesenthal-Center in Los Angeles, wo ein Rabbiner, Abraham Cooper, sogleich die Bundes- und Landesregierung sowie deutsche Firmen aufforderte, „kein Geld für ein Museum zu spenden, das eine Terrorwaffe in den Mittelpunkt stellt, die einst mehr als 2000 Briten und zehnmal mehr Zwangsarbeiter in Deutschland tötete“.
Das Dara-Konzept wurde stattdessen 2004 mit 600 Millionen Euro als „Space Park“ in Bremen realisiert – ging aber nach kurzer Zeit pleite. Das „Historisch-technische Museum Peenemünde“ gilt dagegen seit einiger Zeit als die beliebteste deutsche Freizeit- und Urlaubs-Ausflugsstätte, ihr erster Direktor wurde ein westdeutscher Wehrdienstverweigerer.
Während Gröttrups Truppe auf Gorodomlia hingebungsvoll an einer sowjetischen Rakete arbeitete, führte seine Frau Irmgard ein Tagebuch, das sie nach der Repatriierung ihrer Familie in Westdeutschland veröffentlichte – unter dem Titel „Die Besessenen im Schatten der roten Rakete“. Im Anhang finden sich „Tarif- und Arbeitsverträge“, die ihr Mann für seine deutschen Mitarbeiter entwarf. Als ihre Familie 1953 wieder in der BRD eintraf – und von der CIA verhört wurde, wobei man ihrem Mann einen lukrativen Job in den USA anbot, war sie es, die entschied: „Wir bleiben hier!“ Daraufhin mußten sie die Villa, die man ihnen in Köln zur Verfügung gestellt hatte, räumen. Auf Gorodomlia hatte Irmgard Gröttrup irgendwann angefangen, einen Raben zu zähmen. Diesen nahm sie mit nach Deutschland, wo sie zunächst im Ostberliner Hotel Adlon unterkamen. Wegen des Rabens, der alles vollschiß, mußten sie jedoch das Hotel wieder verlassen – und zogen nach Westberlin.
Helmut Gröttrup wurde wenig später von Siemens eingestellt – und dort schließlich Leiter einer Abteilung von zuletzt 400 Mitarbeitern, die sich mit elektronischen Rechenmaschinen beschäftigte. U.a. kreierte er dabei das Wort „Informatik“. Seine Computerbegeisterung ging so weit, dass er in einem Vortrag vor Hamburger Geschäftsleuten meinte: Die unternehmerische Freiheit sei ein bloßer Irrtum, der auf Informationsmangel beruhe. Um diesen zu beheben, ließ Helmut Gröttrup 1969 zusammen mit seinem Mitarbeiter Jürgen Dethloff einen „Identifikanden mit integrierter Schaltung“ patentieren, aus der dann erst die Chipkarte und schließlich die Mikroprozessorkarte entstand, mit der wir alle heute an den Bankautomaten zu unserem Geld kommen. Auch an der Entwicklung dieser Technik war Gröttrup maßgeblich beteiligt, nachdem er die Firma Siemens verlassen hatte. Er starb 1981.
Wie fing das alles an? „Wenn Gott rechnet und sein Denken wirksam werden läßt, entsteht die Welt“, schrieb Gottfried Wilhelm Leibniz 1687. 250 Jahre später, 1937, konstruierte Konrad Zuse in einer Kreuzberger Hinterhofwerkstatt „den ersten Vorläufer des heutigen Rechners, mit einem binären Zahlensystem und Programmen aus Lochstreifen, die Z1“, woran der Philosoph Thomas Fuchs in seiner Computerkritik „Verteidigung des Menschen“ (2020) erinnerte.
Während Konrad Zuse aufs Land zog und zu malen anfing, verlagerte sich nach dem Krieg die Weiterentwicklung von Rechenmaschinen in die USA, Kybernetik nun genannt, Steuerungskunst aus dem Griechischen übersetzt: die „Basistheorie der künstlichen Intelligenz“. Mit der Kybernetik beginnt die Dritte Industrielle Revolution, die man auch digitale Revolution nennt. In New York fanden zwischen 1946 und 1953 zehn so genannte „Macy-Konferenzen“ statt, auf denen sich die „technokratische Wissenschaftselite der USA“, darunter viele Emigranten aus Europa, traf.
Diskussionsgrundlage waren die Erkenntnisse aus der Waffenlenkforschung, der Kryptologie, der Experimentalpsychologie und der Informationswissenschaft. Zu den Teilnehmern gehörten u. a. John von Neumann, Norbert Wiener, Claude Shannon, Gregory Bateson und Margret Mead, als Konferenzsekretär fungierte zeitweilig Heinz von Foerster. Im Endeffekt entstand daraus die inzwischen nahezu weltweit durchgesetzte und empirisch fruchtbar gewordene Überzeugung, dass die Gesetze komplexer Systeme unabhängig von dem Stoff, aus dem sie gemacht sind - also auf Tiere, Computer und Volkswirtschaften gleichermaßen zutreffen. Mit den Worten des Genetikers und späteren Nobelpreisträgers Francois Jacob: „Heute interessiert sich die Biologie nicht mehr für das Leben, sondern für die Algorithmen der lebenden Welt.“
Es ging dann so weiter: 1956 fand in New Hampshire die „Dartmouth-Konferenz“ statt, wo unter der Leitung von John McCarthy, Marvin Minsky, Nathaniel Rochester (IBM) und Claude Shannon ein „Research Project on Artificial Intelligence“ (KI) stattfand. 33 Jahre später entwickelte Tim Berners-Lee am Genfer CERN „mit Hilfe der Verknüpfung von Rechnern die Grundlagen des ‚World Wide Web‘“, schreibt Thomas Fuchs.
Als einer der ersten Gegner dieses bald immer mehr Wissenschaftsbereiche erfassenden Paradigmenwechsels war bereits 1953 der Schriftsteller Kurt Vonnegut mit seinem Science-Fiction-Roman „Das höllische System“ aufgetreten, in dem er die Massenarbeitslosigkeit produzierenden Folgen des kybernetischen Denkens bei seiner umfassenden Anwendung beschrieb. Die Massen werden scheinbeschäftigt und sozial mehr schlecht als recht endversorgt, während eine kleine Elite mit hohem IQ, vor allem „Ingenieure und Manager“ (Problemlöser/Kreative), die Gesellschaft bzw. das, was davon noch übrig geblieben ist, weiter perfektioniert. Schon bald sind alle Sicherheitseinrichtungen und -gesetze gegen Sabotage und Terror gerichtet. Trotzdem organisieren sich die unzufriedenen Deklassierten im Untergrund, sie werden von immer mehr „Aussteigern“ unterstützt - und irgendwann schlagen sie los, d. h. sie sprengen alle möglichen Regierungsgebäude und Fabriken in die Luft. Ihr Aufstand scheitert jedoch. Nicht zuletzt deswegen, weil die Massen nur daran interessiert sind, wieder an „ihren“ geliebten Maschinen zu arbeiten. Und weil das Ziel ihrer Angriffe (so wie einst für die „Maschinenstürmer“ die mechanischen Webstühle) der „Zentralcomputer“ ist. Er wurde dann von IBM entwickelt. Danach brachten Microsoft und Apple dezentrale Personalcomputer auf den Markt. Auch diese PCs ersetzten massenhaft Arbeitsplätze.
1973 veröffentlichte der US-Autor Thomas Pynchon einen großartigen Peenemünde-Roman: „Die Enden der Parabel“. 1984 schrieb er in der New York Times Book Review unter der Überschrift „Is it o.k. to be a Luddit?“: „Wir leben jetzt, so wird uns gesagt, im Computer-Zeitalter. Wie steht es um das Gespür der Ludditen? Werden Zentraleinheiten dieselbe feindliche Aufmerksamkeit auf sich ziehen wie einst die Webmaschinen? Ich bezweifle es sehr...Aber wenn die Kurven der Erforschung und Entwicklung von künstlicher Intelligenz, Robotern und der Molekularbiologie konvergieren. Jungejunge! Es wird unglaublich und nicht vorherzusagen sein, und selbst die höchsten Tiere wird es, so wollen wir demütig hoffen, die Beine wegschlagen. Es ist bestimmt etwas, worauf sich alle guten Ludditen freuen dürfen, wenn Gott will, dass wir so lange leben sollten.“
Aber noch ist es nicht so weit. Erst einmal leben immer mehr Menschen in einer Welt, in der maschinelles Lernen und bestimmte Formen künstlicher Intelligenz zunehmend ihren Alltag bestimmen. Die US-Chinesin Xiaowei Wang erwähnt „Empfehlungsalgorithmen, lustige Gesichtsfilter und Selfie-Apps wie Snapchat oder Meitu, Bilderkennung an der automatischen Kasse. Weil ‚Künstliche Intelligenz‘ ein vager Begriff ist, ist er auch ein beliebtes Schlagwort, um tiefsitzende Ängst vor einer ungewissen Zukunft zu schüren. Einige glühende Verfechter der KI orakeln, wir stünden ‚unmittelbar vor einer Revolution, die von der Künstlichen Intelligenz angestoßen wird‘.“ Diese erhoffte man sich wie oben bereits erwähnt auch am Anfang des Internets und der „sozialen Medien“.
Die Programmierin Wang ist sich sicher: „KI wird Pausenbrote zubereiten und Pakete packen“. Der Schriftsteller Wladimir Kaminer besuchte kürzlich das Filmstudio Babelsberg und dort eine KI-Entwicklungsfirma. Anschließend schrieb er, dass die Überwachungstechnik KI eher für etwas anderes als für Pausenbrote zubereiten und Pakete packen eingesetzt wird: „In meiner Kindheit in der Sowjetunion war viel von der Roboterisierung der Arbeitsprozesse die Rede, es ging in erster Linie darum, dass die Maschinen uns die schwere Arbeit abnehmen, Straßen fegen, Röhren legen und Brücken bauen. Sie sollten Post austragen und Brote backen, während wir von der lästigen Pflicht des Frühaufstehens und der körperlichen Anstrengung befreit uns dem Kaffeetrinken widmen und kreativen Tätigkeiten nachgehen. Genau das Gegenteil ist dabei herausgekommen: Die KI übernimmt die kreativen Berufe, sie möchte malen, dichten, Musik machen, Bücher schreiben und tanzen. Und wir sollen fegen und backen. Zurzeit hinkt es noch ein wenig bei der Stimmwiedergabe, erzählten mir die Babelsberger KI-Entwickler. Eine Stimme ist schwieriger zu berechnen als das Aussehen. Wenn jemand klar und deutlich wie ein Nachrichtensprecher spricht, dann ist es kein Problem so eine Stimme nachzumachen. Doch einen russischen Akzent kann die KI zum Beispiel noch nicht glaubwürdig imitieren.“
Dafür kann sie jedoch schon mal dazu beitragen, dass wir auf unseren Abbildern alle schöner aussehen: So lassen sich laut Wang z.B. mit der „Beauty-App von Meitu im Handumdrehen Selfies bearbeiten“, d.h. aus asiatischen Gesichtern dem modischen Ideal entsprechend „kaukasische Gesichtszüge“ (mit blasser Haut und großen runden Augen) herstellen. „Diese Schönheitsstandards, die durch die bequemen Gesichtsfilter der App im Nu zu haben sind, dominieren auch die Werbeplakate von Schönheitschirurgen, die heute überall in den chinesischen Städten zu sehen sind: brünette Frauen mit perlweißer Haut und der heißbegehrten schmalen Nase“.
In China wie in den USA gibt es immer mehr Einkommensschwache, vor allem Frauen, die sich eigene Produkte ausdenken, die sie im Internet per Livestream anbieten. Dazu meint Wang: „Menschen, die vom Livestreaming leben, stehen unter hohem Druck, ein bestimmtes Aussehen zu haben. Manche Livestream-Stars lassen mehrere plastische Operationen pro Jahr über sich ergehen, und viele aufstrebende Sternchen unterwerfen sich drastischen Maßnahmen, damit ihr Gesicht am Ende die hochbegehrte Form hat – übergroße Augen und ein spitzes Kinn.“
Neuerdings widmet sich die plastische Chirurgie auch noch den Hintern: Auf der Internetseite des US-Lifestyle-Magazins für Jungen-Mädchen „refinery29.com“ schreibt Zoe Huxford: 2014 erklärte die Vogue pralle Hintern in einem Artikel für „offiziell allgegenwärtig“ und die „Ära des Big Booty“ damit für eingeläutet. In dem Jahr hatte der „Reality-Star Kim Kardashian das Internet fast zum Erliegen gebracht, als sie das Cover des Paper Magazine zierte. Auf dem Titelbild war eine geplatzte Champagnerflasche zu sehen, die sich in ein Glas ergoss, das auf ihrem berühmten Hintern stand. In der Folge stürzten sich Frauen aus aller Welt auf den Operationstisch, um sich einem Brazilian Butt Lifting zu unterziehen. Ein BBL ist ein kosmetischer Eingriff zur Vergrößerung des Gesäßes. Während des Eingriffs entnehmen die Chirurgen Fett aus anderen Körperregionen wie dem Bauch, den Hüften oder den Oberschenkeln der Frau. Anschließend wird das Fett auf den Po übertragen, um einen größeren, wohlgeformten Po zu erhalten.“
Die Neue Zürcher Zeitung titelte: „Ein Herz für den Hintern: Warum Frauen ein grosses Gesäss anstreben. Der neue Fetisch von Frauen ist der dicke Hintern. Die plastische Chirurgie hilft nach. Schon wird kritisiert, dass sich Weiße dafür bei schwarzen Schönheitsidealen bedienen.“
Anderswo erfährt man: „Das angesagteste Fitnessstudio in Los Angeles ist derzeit Bünda: Portugiesischer Slang für Hintern, die ‚Heimat des besseren Hinterns‘ - ein Fitnessstudio, das sich ganz der Arbeit am Hintern widmet.“
Auf „mic.com“ heißt es: „Während Fettabsaugungen, Gesichtsstraffungen und Brustimplantate in den letzten 30 Jahren einen enormen Aufschwung erlebt haben, wird der Po immer mehr zur neuen ‚Problemzone‘, die es zu beheben gilt. Einem Bericht der Amerikanischen Gesellschaft für Ästhetisch-Plastische Chirurgie zufolge wurden allein 2013 in den USA mehr als 11 000 Operationen zur Gesäßvergrößerung durchgeführt, 58 % mehr als 2012. Laut einem Bericht der International Society of Aesthetic Plastic Surgery (Internationale Gesellschaft für Ästhetisch-Plastische Chirurgie) sind die USA im Vergleich zu Brasilien im Rückstand, wo 2013 63.925 Po-Vergrößerungen durchgeführt wurden, fast fünfmal so viele wie in den USA. Bei der Gesäßvergrößerung werden Implantate, Fetttransfers oder manchmal auch eine Kombination aus beidem eingesetzt, um den Po zu vergrößern und seine Form zu verändern. Leider können sich viele Frauen die Kosten der plastischen Chirurgie nicht leisten und entscheiden sich stattdessen für billigere, gefährlichere Optionen.“
Oder nur für eine kosmetische Behandlung, Butt Facial genannt, um ihrem Hintern eine „geschmeidige Pfirsichhaut“ angedeihen zu lassen. „Peelings, antibakterielle Salicylsäure-Seren und entgiftende Masken zählen da ebenso zur Prozedur, wie moderne Facial-Techniken à la Microdermabrasion, bei der abgestorbene Hautzellen und Verhornungen entfernt werden oder die sogenannte Microcurrent Therapie, die Fettzellen reduzieren, die Haut straffen und die Muskeln noch ein wenig mehr hervorheben soll. Kostenpunkt: rund 150 Euro“, berichtet „stylight.de“
Schon bald machte sich der Wunsch vor allem nach größeren Hintern auch in Europa bemerkbar. Der Guardian schreibt: „Der Trend zum Big Butt hat auch britische Fitnessstudios erreicht“, die jetzt eine Reihe von Kursen anbieten, die sich ausschließlich auf die Gesäßmuskulatur konzentrieren, von ‚BadAss‘ bis zum ‚Kylie Butt Lift‘ - benannt nach Minogue, nicht Jenner. Aber es ist der Aufstieg von Jenner und der Kardashian-Familie, deren Hintern mit ihren Bankguthaben gewachsen sind, der zu einer seismischen Verschiebung in der Workout-Kultur geführt hat. Während viele Frauen natürlich schon immer stolz auf gut entwickelte Gesäßmuskeln waren, hat die Betonung eines festen oder ‚saftigen‘ Hinterns nun den flachen Bauch als heiligen Gral der Fitness in den Mainstream-Frauengesundheits-Magazinen abgelöst. Aber etwas stimmt daran nicht. In einem nigerianischen blog schreibt eine Frau: „Komisch, dass dicke Lippen und ein großer Hintern schlecht waren, als sie noch eine natürliche Eigenschaft schwarzer Frauen waren, aber zum Schönheitsstandard wurden, als sie durch eine Operation erreicht werden konnten. Kim wird gelobt, weil sie sich einen Hintern gekauft hat, und Kylie wird gelobt, weil sie sich Lippen gekauft hat. Schwarze Frauen werden verteufelt und diskriminiert, weil sie einen natürlichen großen Hintern und natürliche große Lippen haben. Ich bin darüber hinweg.“
Aber viele andere afrikanische und afroamerikanische Frauen nicht, auf Facebook mehren sich noch immer Fotoserien aus Sierra Leone, Jamaica, Südafrika, Brasilien, Zambia und vor allem Ghana („Ghanamore“, „Ghana Vibes“, „Afro Pride“ etc.). Sie zeigen Frauen mit großen und immer größeren Hintern. Man könnte meinen, es erleichtert sie, dass ihre Hintern nun ein internationaler Trend sind, aber leider animieren die künstlichen großen Hintern von weißen Frauen (auf „Good for the eye“, „Playmate Beauties“, „Leather and Nylon Women“, „Ferrari-Frauen“ etc.) sie nur, auch ihre Hintern künstlich zu vergrößern.
Dazu heißt es auf dem nigerianischen blog: „In Afrika gilt eine Frau als attraktiv, wenn sie eine Sanduhrfigur mit großen Brüsten und Gesäß hat. Aus diesem Grund sind viele afrikanische Frauen auf einen großen Hintern fixiert und sind bereit, dafür extreme Anstrengungen auf sich zu nehmen. Wer einen flachen Hintern hat, gilt nicht als schön, sondern nur als trocken. Frauen, die von Natur aus nicht so begabt sind, wollen also zur begehrten Gruppe gehören. Um Männer anzuziehen. Raten Sie mal, welches Geschlecht die Schönheitsnormen für Frauen fördert? Die Männer. Ein typischer afrikanischer Mann mag eine Frau mit einem großen Hintern. Ein großer Hintern lässt die Frau weiblicher erscheinen, eine Ansicht, die viele Männer in den Wahnsinn treiben kann. Mit diesem weiblichen Killer-Merkmal kann eine Frau fast jeden Mann bekommen, den sie will. Alles, was sie tun muss, ist, ihr Hinterteil zur Schau zu stellen und zu beobachten, wie das männliche Geschlecht um sie herumschwirrt wie Bienen an einem Bienenstock. Natürlich will keine Frau ignoriert werden, und so greifen die Verzweifelten, die sich keine teuren Schönheitsoperationen leisten können, zu Maggi-Würfeln.
Der Arzt Silas Joy hat über seinen Twitter-Account @OfficialSilasMD über die Gefahren des Big Butt-Gewürzes aufgeklärt. Frauen, die sich dieses Gebräu injizieren, hoffen oft, dass das Natrium und das Öl in den Würfeln ihren Hintern größer machen. Der Arzt erklärte jedoch, dass die Gewürzwürfel Salz enthalten, das von der Schleimhaut des Anus aufgenommen wird und in den Blutkreislauf gelangen kann. Übermäßiger Salzkonsum führt häufig zu Bluthochdruck, einer unter Afrikanern weit verbreiteten Krankheit. Bleibt sie unbehandelt, kann er zu komplizierteren Gesundheitsproblemen wie Schlaganfall und Herzerkrankungen führen, die tödlich enden können. Neben Bluthochdruck besteht auch die Gefahr schwerer Blutinfektionen durch Verletzungen, die von den für das Big Butt Spice verwendeten Spritzen verursacht werden. Bei diesen Infektionen kann es sich um HIV/AIDS, Hepatitis B und Hepatitis C handeln, und sie können schwere Folgen haben. Schließlich gibt es keinen Beweis dafür, dass das Big Butt Spice wirkt. Die Erbanlagen spielen eine große Rolle bei der Entscheidung, ob eine Frau einen großen Hintern haben kann. Wenn Sie unbedingt einen großen Hintern haben wollen und Ihre Erbanlagen nicht günstig sind, sollten Sie zu sichereren Maßnahmen greifen, wie z. B. Training oder kosmetische Po-Liftings in den Händen von zertifizierten Fachleuten, bis hin zu Schönheitschirurgen.“
Es kommt noch hinzu, dass dieser „Trend zu größeren Hintern“ bald vorbei sein könnte. Schon lassen amerikanische Celebritys mit dicken Hintern wie Kim Kardashian und andere ihre Hintern wieder verkleinern. Auf „littleoldladycomedy.com“ heißt es: „In jedem Jahrzehnt gibt es einen neuen großen Trend für Frauen - und wenn ich groß sage, meine ich das wörtlich. In den 80ern waren es große Haare, in den 90ern große Brüste, in den 00ern große Hintern und nun sind es große Lippen. In jedem dieser Fälle gilt: Je größer das jeweilige Körperteil, desto besser. Und obwohl man darüber streiten kann, ob diese Trends übertragbar sind (große Brüste sind schließlich zeitlos), wird die Bedeutung eines jeden Trends von der nächsten Modeerscheinung in den Schatten gestellt. Während zum Beispiel ein großer Hintern heutzutage immer noch begehrt ist, sind große Lippen zweifelsohne der angesagtere Look.“
Auf Facebook-Fotos und den Internetseiten mit Manga- bzw. Hetai-Bildern häuften sich jedoch erst die jungen Frauen mit vergrößerten Lippen und Brüsten und nun die mit großen Hintern. Und davon gibt es fast täglich mehr, wobei das Lenken der eigenen und der fremden Aufmerksamkeit auf den Hintern vielleicht schon mit den Tätowierungen begann, d.h. mit den anfänglich beliebten „Arschgeweihen“.
Das französische Autorenkollektiv Tiqqun hat sich Gedanken über die „Millennials“ gemacht, die in den 90er-Jahren bereits heranreiften. Ihr Buch darüber besteht aus „Grundbausteinen einer Theorie des Junge-Mädchens“. Die Gruppe Tiqqun geht davon aus, dass sich Jungs wie Mädchen angleichen und austauschbar werden, wobei die Mädchen Role-Models sind, denn: „Wenn das Spektakel [der kapitalistische Warenzirkus] ausposaunt, dass die Frau die Zukunft des Mannes ist, ist natürlich vom Jungen-Mädchen die Rede, und die Zukunft, die es verheißt, ist nur die schlimmste kybernetische Sklaverei“.
An anderer Stelle heißt es: „Die Schönheit des Jungen-Mädchens wird produziert. Es selber lehnt es nicht ab, daran zu erinnern: ‚Schönheit fällt nicht vom Himmel‘, das heißt, sie ist die Frucht einer Arbeit...Vom Muskeltraining übers Fettabsaugen bis zur Anti-Falten-Creme gibt es beim Jungen-Mädchen überall die beharrliche Bemühung, von seinem Körper zu abstrahieren und aus seinem Körper eine Abstraktion zu machen...Alles, was man machen kann, um sich mit seinem Bild in Einklang zu bringen...Das Gespenst des Mannes und der Frau geht auf den Straßen der Metropole um. Seine Muskeln kommen aus dem Fitness-Center und seine Brüste bestehen aus Silikon. ‚Die Biologisierung des Geschlechts im Besonderen und des Körpers im Allgemeinen macht den Körper des jungen Mädchens aus medizinischer Sicht zum idealen Laboratorium‘ (so Jean-Claude Caron in: ‚Le corps des jeunes filles‘).“
Die Jungen-Mädchen sagen Sätze wie: „Ich fände es toll, wenn alle Leute schön wären“, „Ich mache mit meinen Haaren, was ich will“, „Neue Brüste zu meinem 18. Geburtstag“, „Man muß an die Schönheit glauben“.
„Das Junge-Mädchen weiß allzu gut, was es im Einzelnen will, um irgendetwas im Allgemeinen zu wollen. Für das Junge-Mädchen geht es vor allem darum, seinen Wert geltend zu machen. … Die Biomacht ist in Cremes, Pillen und Spraydosen verfügbar. … In ganz allgemeiner Weise erfreuen sich die schlechten Substantialitäten spontan der Gunst des Jungen-Mädchens. Allerdings zieht es bestimmte vor. So etwa all die Pseudo-Identitäten, die einen ‚biologischen‘ Gehalt geltend machen können (Alter, Geschlecht, Größe, Rasse, Körpermaße, Gesundheit etc.)… ‚Alles schön, alles bio‘.“
Dazu gehört auch der Hintern des Jungen-Mädchens, die Gruppe Tiqqun hat das schon vor der Jahrtausendwende vermutet: „Der Hintern des Jungen-Mädchens genügt, um sein Gefühl zu begründen, dass es einzigartig und unvergleichlich ist“/ „Das Junge-Mädchen führt alle Größe auf das Niveau seines Hinterns zurück“/„Es scheint, dass sich die gesamte Konkretheit der Welt in den Hintern des Jungen-Mädchens zurückgezogen hat“/ „Der Hintern des Jungen-Mädchens ist ein globales Dorf.“
Ein Begriff des Medientheoretikers Marshall Mc Luhan, der damit 1962 die ganze (verbundene) Welt meinte, also dass ein Trend im Medienzeitalter sogleich global wird. Die Frankfurter Umsetzer der Ideen von Jungen-Mädchen „Ownlyou“ schreiben auf ihrer Internetseite: „An manchen Tagen fühlt man sich eher nach Booty und an anderen ist man mehr in einem Vulva Modus“. Demnach konzentrieren die Jungen-Mädchen ihre Achtsamkeit manchmal auf ihren Hintern und manchmal auf ihre Möse, die in den prüden amerikanischen Sozialen Medien allerdings nur angedeutet werden dürfen – durch Intimrasur und enge körperbetonte Kleidung.
Die Berliner Autorin Sofie Lichtenstein 2023 hat über den „Vulva Modus“ aufschlußreiche „Protokolle über geschlechtliche Handlungen“ veröffentlicht unter dem Titel „Bügeln“. Dazu hatte sie auf „Tinder“ kundgetan, dass sie Jungs und Mädchen zum Ficken sucht. Mit denen, die sich daraufhin meldeten und die sie akzeptabel fand, traf sie sich.
Einer hieß Bastian: „Er sieht okay aus. Auf einem der Bilder ist er sogar ganz ansehnlich. Buzzcut und Bart gehen immer“. Am nächsten Tag nimmt sie ihn mit zu sich nach Hause. „Wir sehen uns viele hundert Fotos an. Dann öffne ich Pornhub, um Bastian meine Favoriten zu zeigen. Ich spiele ein paar Oraljob-Videos ab, die er mit derselben asexuellen Neugier anschaut wie ich zuvor die Exhibitionistinnen-Fotos auf Reddit...Bastian geht ins Bad. Ich nutze den Moment, um das Licht zu dimmen und eine vielsagende Pose im Bett einzunehmen.“ Als die beiden nackt sind und sie ihm ein Kondom überziehen will, erschlafft sein Schwanz. „Kein Orgasmus heute für mich“, seufzt sie, aber am nächsten Tag hat sie „Fantasien mit Bastian. Fantasien, die in die Tat umgesetzt werden wollen. Mein Blick wandert zum Handy. Es liegt direkt neben dem Laptop. Ich nehme es in die Hand, öffne WhatsApp und fragte Bastian, ob er sich mit mit heute Abend treffen wolle...Wieder und wieder schau ich aufs Handy, wieder und wieder steigt die Anspannung. Herrgott, wie ich es hasse, wenn ich das tue. Dieses manische Abchecken von Benachrichtigungen und Onlinezeiten…“ Endlich. Sie trifft sich mit Bastian und sie gehen in ihre Wohnung, wo sie sich aufs Sofa wirft. „Bastian sieht mich an. Dann legt er sich auf mich...Hatte ich bei unserem ersten Mal keinerlei Erregung gespürt, empfinde ich jetzt maximale Geilheit...Ich höre mich stöhnen, will angepackt werden und anpacken, gefickt werden und ficken, die ganze Nacht mit ihm schwitzen, mich an ihm aufgeilen.“ Das geschieht auch, aber danach geht er und läßt nichts mehr von sich hören, außer Unverbindliches und Ausreden.
Klaus: Nach dem Billardspiel mit ihm sagt sie sich: „Ich bin bereit. Bereit, weil ich’s irgendwann im Verlauf des Abends ja einmal sei muss und mit Klaus inzwischen auch nichts anderes mehr anzustellen weiß, als Sex mit ihm zu haben...Schließlich dringt er ein, und ich bin erleichtert.“ Er spritzt jedoch nicht ab, „sondern hört einfach auf...Irgendwann steigt in mir die Befürchtung, Klaus könnte bei mir übernachten wollen.“
Johannes: „Wir unterhalten uns über Dinge, die uns nicht interessieren. Zum Beispiel, was wir beruflich machen...Ich ziehe mich aus und über seinen Schwanz ein Kondom. Sein Penis steht, ist aber nur halbsteif. Es passt zu Johannes, dass die an seinem Körper rasierten Stellen dem State of the Art von Mainstream-Pornos entsprechen.“ Bald spürt sie seinen Schwanz überhaupt nicht mehr. „Nach einem kurzen Smalltalk steht Johannes endlich auf, um aufzubrechen.“
Sie hat gerade ein Date mit der von ihr verehrten Chris, da schickt ihr Olaf eine WhatsApp-Nachricht nach der anderen. „Er postet seine Adresse, ohne dass ich ja gesagt hätte. Unvermittelt ploppt ein Dickpic auf. Ich erschrecke und stecke schnell mein Handy in die Gesäßtasche. Scheiße, Olaf: Bloß weil wir miteinander gevögelt haben, ist das keine Legitimation, mir unaufgefordert Schwanzbilder zu senden.“
Tom: Als sie mit ihm spazieren geht, ist sie in einer Verfassung, „in der ich mir augenblicklich das Gehirn herausficken könnte.“ In der Straßenbahn beschreibt sie ihm den Plot ihres nächsten „Buchprojekts“. Zu Hause „fackeln wir nicht lange und ziehen uns aus. Tom ist gut bestückt. Er kommt unbefangen und selbstbewußt gleich zur Sache, insbesondere verbal. Er kündigt an, er werde mich teasen. Ein Satz, der inhaltlich mehr umspannt als alles, was ich bisher beim Sex mit X und Y vernommen habe. Als Tom im Begriff ist, zu kommen, fragt er mich, wohin. Auf den Bauch, sage ich. Ich will besudelt werden.“
Als sie sich beim nächsten Mal treffen, kocht sie Spätzle mit Maggi-Sauce. „Nachdem ich seinen Teller gefüllt habe, setzen wir uns hin und unterhalten uns über die Anime-Serie ‚Neon Genesis Evangelion‘.“ Als sie sich anschließend küssen, kommt ihr alles wieder so vertraut vor, „wie ich es haben will. Ich habe mein Narrativ zurück...Wenige Augenblicke später muss ich schon über einen Satz nachsinnen, den er wiederholt gebraucht: ‚Ich will dir geben‘. In Gedanken besetze ich die leerstehenden Argumentstelle von ‚geben‘ mit dem erforderlichen Akkusativobjekt, das Tom mir vorenthält, ist ‚geben‘ doch immerhin ein ditransitives Verb.“ Dann will Tom wissen, ob sie ihn liebt. „Ich erkläre, noch niemanden geliebt zu haben, möglicherweise nicht mal verliebt gewesen zu sein.“
Während sie in der Bibliothek sitzt, bekommt sie eine Nachricht von Lukas auf Tinder. Er schreibt ihr, dass sie „arg stilvoll und attraktiv“ ausschaut. Aber er hat einmal zu viel „Quatschi“ statt „Quatsch“ gesagt.
Sie trifft sich mit Nils. In ihrer Wohnung spielen die beiden zunächst „Star Trek: Starfleet Academy“ auf ihren „Super Nintendo“. Es ist „mein erstes Mal, beliebte ich doch mit Fuckdates bisher ‚Mario Kart‘ zu zocken...bis auf das eine Mal, als ich die Frau, die mich nur beim Sex und nicht danach berühren wollte, zu mir eingeladen hatte. Wir spielten ‚Super Street Fighter‘ und wenn mich nicht alles täuscht, auch ‚Soul Calibur II‘ auf dem Gamecube, ehe ich das Gamepad beiseitelegte und befand, dass wir nun rumknutschen könnten.“
Erneutes Treffen mit Lukas. Sie spielt mit ihm „FIFA 20 auf der Switch“. Dann: „Das Küssen ist okay“. Aber „die Penetration ist schmerzhaft...Ich teile es Lukas mit und breche ab. Wir geben uns gegenseitig einen Handjob, wobei Lukas unsinnigerweise mehrfach seine Finger anleckt. Dabei ist meine Möse feucht genug.“
Eine äußerst attraktive Anja meldet sich. „Ich schlage ihr vor, zu mir nach Hause zu gehen“. Sie findet die Icherzählerin ebenfalls „attraktiv“… „Ihr Shirt riecht nach Lenor-Weichspüler. Ich mag das, auch wenn ich weiß, dass es wegen des Mikroplastiks ökologisch fragwürdig ist...Wir ficken gut anderthalb Stunden miteinander.“
Am nächsten Tag trifft sie sich erneut mit Anja. Sie reden über „harten Sex“. Anja hat ein „strap-on“ dabei – ein Dildo, den die Ich-Erzählerin sich umschnallt, während Anja sich auf den Rücken legt. „Weil sie den Eindruck erweckt, durchgevögelt zu werden, beuge ich mich über sie rüber zu den Präservativen. Ich stülpe ihn über den Dildo. Anja rückt mit ihrem Becken zu mir. Obwohl sie nicht nur feucht ist, sondern schon fast ausläuft, habe ich Angst, ihr Schmerzen zu bereiten. Vorsichtig dringe ich in sie ein. Der strap-on sitzt fest...Sie keucht und stöhnt mir ins Ohr...Ihr Katalog-Körper glänzt vor Schweiß...Dann steigt sie gierig auf meinen Schoß und reitet so lange, bis es ihr kommt...Während wir uns von unserer physischen Ertüchtigung erholen, schalte ich das ‚Dschungelcamp‘ ein...Als Anja aus dem Bad kommt, legt sie sich gleich in die Federn, ohne den geringsten Anstoß daran zu nehmen, dass ich direkt neben ihr noch YouTube-Videos schaue, E-Mails checke usw..“
Nach einiger Zeit trifft die Ich-Erzählerin Anja erneut. „Am Abend schlage ich vor, ein Sexvideo zu drehen. Sie findet die Idee aufregend, bittet mich aber darum, keine Gesichter zu filmen.“ Das geschieht auch nicht. Aber danach sehen sie sich nicht wieder.
Es sind mutige Protokolle über rund ein Dutzend Erlebnisse eines Junge-Mädchens im „Vulva-Modus“. Die Autorin ist 33.
Abschließend sei noch erwähnt, dass in der Raketentechnik die Phallusform überwiegt. Im Zeitalter des Feminismus und der Gender-Debatten wird „eine Rakete, die wie ein Penis aussieht“ jedoch laut „Die Welt“ als ein „Fauxpas“ begriffen, den zuletzt der Amazon-Gründer Jeff Bezos begangen hat, als er seine bemannte Rakete „Blue Origin“ überdeutlich als Penis konstruieren und sich mit ihr in den Himmel schießen ließ. Diesen Fauxpas „wollen sich andere begüterte Weltraum-Pioniere nicht mehr leisten. Ein Milliardär, der anonym zu bleiben wünscht und sich selbst ‚als großer Frauenfreund‘ bezeichnet, will bei diesem Männlichkeitsgetue nicht mehr länger mitmachen. Die sogenannte ‚Brakete‘ (von Englisch ‚bra‘, Büstenhalter) zeichnet sich dadurch aus, dass sie nicht an ein männliches Glied, sondern an zwei wohlgeformte weibliche Brüste erinnert. Versuche mit einer fliegenden Vulva waren gescheitert, weil die Modelle immer in der Mitte auseinander brachen. Inspiriert von Woody Allens Film ‚Was Sie schon immer über Sex wissen wolltlen,aber bisher nicht zu fragen wagten‘, gelang es den Ingenieuren, aus riesengroßen Brüsten ein Raumschiff zu kreieren, dessen beiden Warzen als Kommandokapsel dienen“, berichtete „Die Welt“. „Nach eigenen Worten kann es der Milliardär gar nicht abwarten, mit den ‚fetten Glocken‘ abzuheben.“
Der Geschlechterwechsel ist keine amerikanische Idee. Eine ähnliche Verweiblichung des Raketenkörpers halluzinierten bereits sowjetische Militärs. Der Dichter und Sänger Jewgeni Jewtuschenko zitierte in seiner Autobiographie „Stirb nicht vor deiner Zeit“ einen am Putsch gegen Gorbatschow beteiligten Afghanistan-Veteran, der dann ein bekannter sowjetischer Schriftsteller geworden war: „Ich spürte in der Finsternis an meiner Handfläche den schneeweißen Frauenkörper der Kampfrakete. Anfangs war sie noch kühl, aber je mehr ich sie streichelte, desto wärmer und wärmer wurde sie, ihre Hüften schienen schwer atmend vor unausgesprochener Leidenschaft zu vergehen, und es schien mir, als würde ich auf dem Körper der Rakete unter meinen Fingerkuppen gleich die Wölbungen der in Erwartung meiner Berührung aufgerichteten Brustwarzen spüren.“ Thomas Pynchon erwähnte in seinem Roman „Die Enden der Parabel“ bereits eine Forschungsgruppe bei den Peenemündern, die an einem „erektionsfähigen Plastik“ arbeitete, .
Helmut Höge