Christliche Theologie, Destitution und Kommunismus
Vortrag über die Strategie der Jesus-Bewegung vom Sommer 2023. Er wurde vor Linksradikalen auf einer philosophischen Sommerschule in der französischen Provinz gehalten und geht um die Haltung der frühen Christen, die so taten, als ob das Gesetz schon jetzt nicht mehr gälte und um den daraus folgenden (strategischen) Rückzug in frühchristliche Kommunen. Abgegrenzt wird die Strategie Jesu von der Offensivstrategie der Zeloten.
Der Vortrag ist auch auf englisch und französisch vorhanden.
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Wenngleich die christlichen Kirchen sich historisch viel zu oft, dh. eigentlich fast immer auf die Seite der Herrschenden gestellt haben, gab es doch darin immer auch eine Unterströmumg im Christentum, die sich auf Befreiung, Autonomie und Egalität bezogen hat. Das Christentum hat sich nie ganz imperialisieren lassen. Das begann mit der Bewegung des Nazaräner Jesus, der gegen das römische Empire gekämpft hat, aber eine andere Strategie als die Guerilla der Zeloten wählte, ging über das Urchristentum bis in das dritte Jahrhundert. Danach gab es immer wieder dissidente Bewegungen wie z.B. das Mönchtum, das den Weg in die Wüste (das Jenseits der Welt) des Klosters wählte, die radikalen Armutsbewegungen des 11./12. Jahrhunderts wie die FranziskanerInnen, über die apokalyptische Bauernbewegung von Thomas Müntzer, die unter dem Motto „alles allen gemeinsam“ für eine andere Welt kämpften bis zur Theologie der Befreiung des letzten Jahrhunderts, deren strategische Allianz mit den Linken Lateinamerikas über eine guevaristische Praxis eine Befreiung lateinamerikanischer Länder aus der „Entwicklung der Unterwicklung“ anstrebte. Die kommunistische Vorstellung also existierte schon länger als die kommunistischen Parteien. Die Texte der Bibel, sowohl des ersten als auch des zweiten Testaments wurden schon immer von vielen Menschen als Poesie und Literatur der Befreiung verstanden. Deshalb hat der Genosse Tari einen seiner letzten Texte zu Recht mit der Phrase von den betenden Kommunisten und den kämpfenden Mönchen überschrieben, um auf ein Verhältnis aufmerksam zu machen, das mehr ist als gegenseitige Negation. Das im Gegenteil füreinander und miteinander fruchtbar gemacht werden kann und mehr denn je wohl auch fruchtbar gemacht werden muss.
Destitution und Transzendenz
Es geht darum, über Begriffe nachzudenken, die unsere unzulänglichen Vorstellungen davon in Bewegung bringen sollen, wie Politik und Revolution gedacht werden können, die den Fallen von Repräsentation, konstituierender und konstitutierter Macht entgeht. Vielleicht werden viel von Euch erstaunt sein, dass der Begriff und das Konzept von Destitution ein dem Weg und den Vorstellungen des Christentums zutiefst eingeschriebene Idee ist.
Destituion, Messianismus und das Gesetz
Ich mute Euch einmal einen Rückblick in die Geschichte der Jesus-Bewegung und des frühen Christentums zu. An ihrem Beginn stand der Kampf gegen das römische Empire, der – wie so häufig in der Geschichte – mit einer dramatischen und traumatischen Niederlage endete. Der Rabbi aus Nazareth Jesus, oder hebräische Jeshua, zog mit seinen AnhängerInnen nach Jerusalem in das Zentrum der damaligen Macht, griff dort das ökonomische und ideologische Zentrum, den Tempel an. Es war ein Angriff ohne Waffen, wenig aufständisch bzw. militant, der nach drei Tagen mit seiner Verhaftung und Hinrichtung endete. Der Kampf war beendet, die Niederlage total. So schien es zumindest. Aber schon bald verbreitete sich ein ungeheures Gerücht: Jesus sei von den Toten auferstanden, die gemeinsame Sache gar nicht beendet, sondern im Gegenteil in eine ganz andere Richtung entschieden.
Destitution und Desertion
Worin bestand dieses ungeheuerliche Gerücht? Es besagt, dass das Empire nicht gesiegt habe, und der Tod nicht das letzte Wort hatte. Im Gegenteil wurde der Tod von Jesus so interpretiert, dass er ein neues Leben instituiert hatte. Dieses Leben zeichnete sich vor allem dadurch aus, dass es sich den herrschenden Gesetzen nicht mehr verpflichtet fühlte, weil mit der Überwindung des Todes in der Auferstehung Jesu alle herrschenden Gesetze ihre Gültigkeit verloren hatten. Im Johannes-Evangelium wird es so ausgedrückt: „Wir ChristInnen sind in dieser Welt, aber nicht von dieser Welt“. Die Aussetzung der Logik, der Gesetzmäßigkeiten, der Plausibilitäten dieser Welt galt den ersten ChristInnen als gemeinsames Band, das Menschen unterschiedlichster Herkunft und Identität, unterschiedlichster geschlechtlicher (Selbst-)zuschreibungen zusammenbrachte.
Die ersten ChristInnen (die sich nicht als religiöse Gemeinschaften verstanden, sich hier aber schon ChristInnen nannten) lebten in "Paroikias" in Gemeinschaften zusammen. Sie waren der Welt Fremde, Heimatlose und Umherwandernde, ohne jeden bürgerrechtlichen Schutz, wie es im 2. Brief von Paulus an die Epheser beschrieben ist. (Eigenmann, 18) Sie hatten das Imperium für abgesetzt erklärt, oder eben ihrer eigenen Aussetzung aus dem Imperium, ihrer eigenen Zurückwerfung auf das nackte Überleben ihren eigenen Ort des Über-Lebens, nein des Lebens, entgegengesetzt. Auch wenn der Philosoph Giorgio Agamben den folgenden Satz auf die paulinische Theologie bezieht, dürfte er doch über Paulus hinweg für weite Bereiche des frühen Christentums gelten: „Die messianische Berufung ist kein Recht und produziert auch keine Identität. Sie ist eine allgemeine Potenz … Messianisch zu sein, bedeutet die Enteignung jedes juristisch-faktischen Eigentums in der Form des Als-ob-nicht. Aber diese Enteignung gründet keine neue Identität …“ (Agamben, Die Zeit, die bleibt, 37)
Metropole und Kommune: Die Kommune ist überall
Diese "für ausgesetzt erklärten Gesetze" waren offenkundig der Punkt, weshalb das frühe Christentum so schnell wuchs, und das eben über Klassen, Geschlechter, ethnische und religiöse Grenzen hinweg. Das Wachstum war jedenfalls so rasant, dass schon im 2. Jhrdt. der platonische Philosoph Celsus die christlichen Gemeinschaften nicht nur beschimpfte, sondern sie zugleich auch schon aufforderte, sich in die herrschenden Verhältnisse zu integrieren und so wohl zu ihrer politischen und ideologischen Legitimität beizutragen. "Hört auf, Euch der Erfüllung bürgerlicher Pflichten zu entziehen und den Militärdienst zu verweigern: Übernehmt euren Anteil an öffentlichen Ämtern, wenn es sein muss, damit die Gesetze gerettet werden und die Frömmigkeit erhalten bleibt." (Michel Clevenot, Geschichte des Christentums, Die Christen 81) Celsus ist einerseits von Unverständnis und Abscheu über diese sich verbreitenden Gemeinschaften eben zunächst einfacher Leute, die sich einen Dreck um die herrschenden Verhältnisse scheren, geprägt und ahnt zugleich, dass sie eine Gefahr für die von ihm so geliebte gesellschaftliche Ordnung darstellen. Man kann vielleicht sagen, dass sich die ersten Christinnen aus der Gesellschaft zurückzogen, nicht wirklich ein eigenes Programm entwickelten und offensiv nach außen trugen. Nehmen wir das Beispiel des Philemonbriefes: Ein Sklave aus einer christlichen Gemeinschaft will nicht zu seinem Besitzer zurückkehren und diskutiert dies in seiner Kommune. Alle raten ihm ab und sagen, dass er aber in der Gemeinschaft ein Freier sei. Unverständlich? Das erstaunliche Ende: auch der Besitzer wird Mitglied in der Kommune, der Sklave ist nun wirklich frei. Man muss sich die ersten Kommunen der ChristInnen also als Gemeinschaften vorstellen, die zunächst für sich selbst, für ihre Gemeinschaft die Gesetze für bedeutungslos erklärt hatten, und nur aus dieser Position in Konflikte mit den Herrschenden gerieten. Denen allerdings war schnell klar, dass sich hinter den christlichen Gemeinschaften eine unversöhnliche und grundlegende Ablehnung des herrschenden römischen Reiches verbarg. Die christlichen Kommunen hatten sich aus der Gesellschaft zurückgezogen. Dieser Rückzug aber war kein geographischer Rückzug, kein Rückzug aus der gesellschaftlichen Wirklichkeit. Christliche Kommunen gab es im Gegenteil vor allem in den großen Städten und Metropolen des Reiches, in Rom, Korinth, in Jerusalem in den syrischen und türkischen Städten. Ihre Mitglieder gingen ihren beruflichen Tätigkeiten nach, sie zogen sich nicht in die Wüste zurück. Dies geschah erst im vierten Jahrhundert mit der Entstehung des ersten Mönchtums und der Idee des Klosters. Sie wollten kein Jenseits der Welt, sondern eine andere Welt. Verschiedene gesellschaftliche und historische Situationen erfordern also sehr unterschiedliche Konzepte von Destitution und Desertion. Es kann sich sehr wohl in der Metropole wie auch im Kloster oder der Wüste vollziehen. Die Kommune ist jedenfalls überall dort anwesend, wo Menschen sich im Geiste der unversöhnlichen Zurückweisung herrschender und beherrschender Gesetze zusammenrotten. Desertation und Destitution ist also nicht notwendig an den Auszug aus dem metropolitanen Zentrum gebunden.
Transzendenz
Die Überzeugung und Hoffnung der ersten ChristInnen ist im Rückgriff auf eine alttestamentliche Stelle beim Propheten Jesaja inhaltlich bestimmt. Denn die Behauptung der Aussetzung der Gesetze war ja keine voluntaristische, inhaltsleer antinomistische Vorstellung. Sie war vielmehr an die Leerstellen des Lebens gebunden, an die Grenzen des Lebens selbst und die ungeheuerliche Vorstellung, dass diese Grenzen nicht das letzte Wort haben dürfen: „Ich, Johannes, sah einen neuen Himmel und eine neue Erde; denn der erste Himmel und die erste Erde sind vergangen, auch das Meer ist nicht mehr. … Er wird alle Tränen von ihren Augen abwischen: Der Tod wird nicht mehr sein, keine Trauer, keine Klage, keine Mühsal. Denn was früher war, ist vergangen, ... ich mache alles neu….“ (Sie hatten das Imperium für abgesetzt erklärt, oder eben ihrer eigenen Aussetzung aus dem Imperium, ihrer eigenen Zurückwerfung auf das nackte Überleben ihren eigenen Ort des Über-Lebens, nein des Lebens, entgegengesetzt.). Die messianische Hoffnung, die auch einen Zeitindex hat, treibt die menschliche Hoffnung über das vermeintlich menschenmögliche hinaus. Sie glaubt wirklich an die Befreiung für alle, sie glaubt wirklich an die Überwindung des Todes. Wir nennen das Transzendenz, also „Überschreitung“. Die Transzendenz ist die notwendige Voraussetzung der Destituion, weil die Destituion nicht nur die bloße Negation der Wirklichkeit, sondern die hoffende Negation der Wirklichkeit ist. Destitution ist wirkliche Politik, jedes wirklich politische Denken ist auf solche Transzendenz gebaut. Jede Politik, die die Notwendigkeit eines solchen transzendenten Bezugs negiert, ist bloße Verwaltung. Verwaltung des Elends. So, wie es mit den Worten von Jean-Luc Nancy gesprochen, dem Christentum nie um die Welt hinter der Welt, um das Jenseits der Welt gegangen sei, sondern gerade andersherum, das Andere der Welt in den Mittelpunkt zu rücken, das, was anders ist als jede existierende Welt. (Jean-Luc Nancy, Die Dekonstruktion des Christentums, Regensburg 2008, 13) Solche Transzendenz müssen wir auch von unserem gesellschaftlichen Handeln, von politischer Existenz verlangen: Nochmal mit Nancy gesprochen: „es geht darum, die bloße Vernunft auf die Unbegrenztheit hin zu öffnen, die ihre Wahrheit ausmacht." Also auch eine Politik, und sei es eine Politik in der Form ihrer Negation in der Destitution muss sich auf das Jenseits ihres theoretisch und praktisch Denkbaren aus sein. Sonst verharrt auch sie im Gegebenen und bleibt im besten Fall ihre Spiegelung.