Chronologie: 6.-25. Dezember 2008
Samstag, der 6. Dezember 2008: Zwei Polizisten geraten mit einer Gruppe junger Anarchisten in Konflikt. Der Bulle Epaminodas Korkoneas erschießt den 15jährigen Alexandros Grigoropoulos. Innerhalb einer Stunde sammeln sich Menschen und beginnen gleich Auseinandersetzungen mit der Polizei. Einige Anarchisten treffen in diesem kritischen Moment die Entscheidung, das Polytechnikum zu besetzen. Die Angriffe auf die Polizei, Banken und Luxusgeschäfte weiten sich in die Patission-Straße, die Ermou-Straße, auf die Jura-Fakultät und auf die Pantio-Universität aus. Freunde von Alexis schlagen die Polizei bei ihrem Versuch zurück, das Evaggelismos-Krankenhaus zu betreten. In dieses Krankenhaus war Alexis’ Leiche gebracht worden. 70 Luxusgeschäfte in der Ermou-Straße auf dem Ermou werden angegriffen und bis auf die Grundmauern niedergebrannt; ein siebenstöckiges Großkaufhaus wird abgefackelt. Die Besucher der Bars und Cafés hören die Neuigkeiten und schließen sich an. Anarchisten besetzen die ASOEE-Universität, Linke und Antiautoritäre besetzen die Nomiki, die Jura-Fakultät. Bis zum Ende dieser Nacht sind große Teile der Stadt mit Tränengas gefüllt, die Polizei ist aus vielen Vierteln vertrieben worden, verschiedene Polizeistationen sind angegriffen worden. Die Nachrichten über den Mord und die Unruhen verbreiten sich mittels Internet und Handy über ganz Griechenland. Innerhalb nur weniger Stunden nach dem Mord werden in größeren, spontanen Revolten Polizeistationen und Banken in Thessaloniki, Iraklion, Chania, Patras, Ionnina, Kavala und Volos angegriffen. In Rethymnon, Komotini, Mytilini, Alexandropouli, Serres, Sparta, Korfu, Xanthi, Larissa, Naxos, Agrinio sowie unzähligen Kleinstädten finden kleinere Demonstrationen statt.
7. Dezember: Eine Demonstration mit über 10.000 Teilnehmern schlägt unmittelbar in Ausschreitungen um und verursacht großen Sachschaden. Viele Filialen und Luxusgeschäfte werden niedergebrannt. Die Polizei greift mit Tausenden von Tränengaskanistern an, kann aber mehrfach zurückgeschlagen werden. Einige Male wird sie in die Flucht gejagt und manchmal sogar von den Aufständischen verfolgt. Die Aufstandspolizei versucht, Exarchia zu besetzen, die Einwohner lassen Steine und Blumentöpfe auf sie niederprasseln. Weitere Banken und Polizeistationen werden angezündet. Dank des schweren und allgemeinen Widerstands kann die Polizei nur sieben Festnahmen vornehmen. In Thessaloniki brechen 1.000 Demonstranten aus einem Protestmarsch von 3.000 aus und greifen die Polizeistation an. Nachdem die Linken den Zug verlassen haben, macht dieser sich daran, Regierungsgebäude und eine andere Polizeistation anzugreifen. Barrikaden werden gebaut und Luxusgeschäfte angezündet. Die Polizei greift die besetzten Gebäude der Universität und der Schauspielschule an. In den Kämpfen werden gleichermaßen Polizisten und Demonstranten verletzt. In Iraklion und Patras finden Demonstrationen mit 600 und 1.000 Teilnehmern statt. Die Anarchisten formieren sich, wie immer, zu großen Blöcken am Ende der jeweiligen Demonstration. In beiden Städten werden viele Banken angegriffen, was in Patras die Linken dazu bewegt, den Marsch zu verlassen. In Korfu protestieren mehrere Hundert Menschen. Nachdem die Demonstranten mit der Polizei zusammengestoßen sind, verschliessen ein Dutzend Jugendlicher des KKE (der Kommunistischen Partei) und von PASOK die Universität und weigern sich, die Protestierenden hineinzulassen und überließen sie so der Gnade der Aufstandspolizei. Auch in Ionnina findet eine große, gewalttätige Demonstration mit 1.000 Teilnehmern statt. Sie wird von der Polizei angegriffen, die drei Demonstranten krankenhausreif schlägt. Weitere Proteste und Aktionen gibt es in Mytilini, Ithaki, Larissa, Pyrgos, Karditsa, Kavala, Xanthi, Volos, Serres, Sparta, Kozani, Arta und Naxos. In Kleinstädten führen, in einigen Fällen, gerade mal zehnköpfige Gruppen kühne Aktionen aus. So greift eine solche Gruppe in Pyrgos eine Polizeistation mit Molotowcocktails an und verdrückt sich, bevor sie geschnappt werden kann. In Kozani belagert eine anarchistische Demonstration mit nur 80 Teilnehmern eine Polizeistation. Journalisten werden vertrieben und Barrikaden gebaut. An anderen Orten entfalten sich die Ereignisse eher friedlich. So besetzen die Anarchisten in Sparta eine Universität und richten einen Informationspunkt ein.
8. Dezember. An diesem Montag sind viele Schulen und Universitäten geschlossen. Aber, statt zu Hause zu bleiben, besetzen die Schüler ihre Schulen oder gehen auf die Straßen. Allein in Athen marschieren Tausende Schüler und attackieren überall in der Stadt Polizeistationen. Inzwischen liefern sich die Anarchisten rund um das Polytechnikum stundenlange Straßenschlachten mit der Polizei und brennen alle Computerläden der Stournari-Straße nieder. Über die ganze Stadt verteilt, werden über 200 Brandstiftungen verübt. So wird der große, dekorative Weihnachtsbaum auf dem Syntagma-Platz angezündet. Die Bullen eröffnen das Feuer auf die Chaoten mit scharfer Munition. Zahlreiche Polizeistationen, Banken, Verwaltungsgebäude, Regierungsgebäude, Luxusläden und Filialen großer Ketten werden zerstört oder komplett niedergebrannt. Dutzende Polizisten sind verletzt. In Piräus werden sämtliche vor der Wache parkenden Polizeiautos von den ansässigen Schülern zerstört. In Thessaloniki veranstalten Studenten und linksextreme Organisationen mehrere Proteste und besetzen das Gebäude der Anwaltsvereinigung, um es als Zentrum für Gegeninformation zu benutzen. Polizeistationen und Regierungsgebäude werden mit Steinen und Molotows angegriffen und eine Studentendemonstration marschiert die Hauptstraße hinunter und zerstört – griechische Fahnen verbrennend – jede Bank und viele andere Geschäfte entlang der Straße. In Patras besetzen Anarchisten eine örtliche TV-Station, um Gegeninformationen zu senden. In Iraklion zwingt ein Marsch mit 2.000 Teilnehmern die Polizei zur Aufgabe und die Nacht über wird die ganze Stadt in Ausschreitungen verwickelt, an denen viele Roma, Hooligans und Arme an der Seite von Anarchisten und Studenten kämpfen. Die meisten Banken der Innenstadt werden abgefackelt. Tausende Menschen, in der Hauptsache Studenten, demonstrieren und randalieren in Chania, Larissa, Rhodes, Nafplio, Chios, Egio, Veria, Kavala, Agrinio, Aliveri, Alexandroupoli, Chaldiki, Giannitsa, Syros, Ierapetra, Kastoria, Korinthos, Kyprarissia, Pyrgos, Korfu, Xanthi, Kilkis, Trikala, Serres, Tripoli, Mytilini, Kalamata, Moudros, Lamia, Kozani, Florina, Edessa und anderswo. An all diesen Orten nehmen zwischen 50 und 2.000 Menschen teil. Die Bandbreite der Aktionen reicht von Blockaden der Polizeistationen und deren Eindeckung mit großen Mengen Müll über Angriffe auf Polizisten mit Steinen und Molotowcocktails bis hin zum Niederbrennen von Banken. In verschiedenen Städten versuchte die Jugend der KKE, die Polizei zu schützen oder die Universitätsbesetzungen zu verhindern.
9. Dezember: Die Bullen provozieren die Menschenmasse auf Alexis’ Begräbnis zu weiteren Kämpfen, indem sie unmittelbar nach der Bestattung Tränengas einsetzen. Während die meisten der Athener Anarchisten noch beim Begräbnis sind, finden gleichzeitig und über die ganze Stadt verteilt Ausschreitungen unpolitischer Leute statt. Die ASOEE-Besetzung kann erfolgreich einen Angriff der MAT zurückschlagen. In Erinnerung an Alexis verweigern Tausende über Griechenland verteilte Gefangene ihre Nahrung, selbst wenn sie sich gerade noch vom letzten Hungerstreik erholen. Anarchisten enteignen Essen in Supermärkten, um die Universitätsbesetzungen zu versorgen oder es auf der Straße zu verteilen. Verschiedene Polizeistationen der Stadt werden angegriffen. Einwanderer werden von der Polizei und Faschisten gejagt. Die Kämpfe und Proteste gehen in anderen Städten und Orten des Landes weiter. Die Großproteste in Thessaloniki, Patras, Volos und Ioannina werden von der Polizei brutal angegriffen. Der Aufstand soll beendigt werden. In Thessaloniki und Patras arbeiten die Bullen und die Faschisten zusammen, um die Anarchisten und Besetzungen anzugreifen.
10. Dezember: Die griechische Gewerkschaftsdachverband, die Allgemeine Konföderation der griechischen Arbeiter, sagt den bereits seit Monaten für diesen Tag angesetzten Generalstreik ab. Trotzdem sammeln sich Zehntausende in den Straßen und die Ausschreitungen mit der Polizei gehen in ganz Athen weiter. Viele Arbeiter, unter anderem die Fluglotsen, verweigern ihre Arbeit und bringen das Transportwesen zum Erliegen. In Athen wird die Polizei zunehmend von Faschisten unterstützt und gleichzeitig demaskieren in Thessaloniki Mitglieder des KKE einen Randalierer und verprügeln ihn. Proteste, Besetzungen und Ausschreitungen gehen in anderen Städten Griechenlands weiter. Eine Gruppe von etwa 100 Roma greift eine Polizeistation im Athener Vorort Zefyri an. Der bis zu diesem Punkt entstandene Sachschaden wird auf fünfzig Millionen Euro geschätzt, 554 Gebäude wurden angegriffen und siebenundzwanzig Autos angezündet. Bis zum Ende wird sich der Sachschaden noch vervierfachen.
11. Dezember: Das Rathaus von Aghios Dimitrios wird von Anwohnern besetzt. In ganz Athen halten die Studenten Versammlungen ab oder kämpfen an der Seite der Anarchisten in den Straßen. Bis zum Nachmittag werden fünfundzwanzig über die ganze Stadt verteilte Polizeistationen belagert und mehrere Undercover-Polizisten krankenhausreif geschlagen. Hundertzwanzig Athener Schulen werden durch ihre Schüler besetzt. Die Polizei fordert aus Israel mehr Tränengas an – es ist ihr ausgegangen. In Piräus gelingt es den antiautoritären Studenten, die KKE aus der Universität herauszuschmeißen, so daß sie diese besetzen können. In Thessaloniki wird ein hauptsächlich aus Anarchisten bestehender Marsch mit etwa 600 Teilnehmern von der Polizei angegriffen. Aber die Bewohner schließen sich ihnen an, der Protest schwillt auf 3.000 an und kann die Polizei zurückschlagen. Fünftausend protestieren in Patras. Es finden weiter Demonstrationen, Aktionen und Besetzungen in anderen Städten und Orten statt.
12. Dezember: In Athen wird Flash FM Radio besetzt, aber das Signal schnell unterbrochen. Ein Regierungsgebäude im Stadtteil Chalandri wird besetzt und in einen Informationspunkt umgewandelt. Im selben Viertel wird das alte Rathaus besetzt, um einer öffentlichen Versammlung Raum zu geben. Studenten organisieren einen entschlossenen Marsch in der Athener Innenstadt. Sie werden von der Polizei angegriffen und schlagen zurück. Vor dem Parlament ist eine friedliche Sitzblockade. Die Polizei attackiert die Nomiki-Besetzung, wird aber von den Menschen dort zurückgeschlagen. Viele Bullen fangen Feuer. Überall im Land werden offene Versammlungen in den Universitätsbesetzungen abgehalten. Das Rathaus von Ioannina wird besetzt. In der Nacht gedenkt in Athen eine große, friedliche Lichterkette an Alexis.
13.-23. Dezember: Über Athen verteilt und in vielen anderen Städten und Orten finden Tausende Aktionen (wie Besetzungen und Gegeninformation) statt – zu viele, um sie zu zählen. Es beginnt eine Massenproduktion von Pamphleten und Texten über Hunderte von Themen, um den von den Medien verbreiteten Lügen entgegenzuwirken. Das große und diffuse Spektrum von Protesten, Agit-Prop, Supermarktenteignungen, Aktionen für ein kostenloses öffentliches Transportwesen, Versammlungen, Angriffen auf bestimmte Ziele und direkter Kommunikation mit der Gesellschaft dauert weiter an.
16. Dezember: Eine Gruppe von Künstlern und Anarchisten besetzt die NET, das griechische staatliche Fernsehen. Sie unterbrechen eine Rede des Premierministers und senden eine Nachricht, die das Volk auffordert, ihre Fernsehgeräte abzuschalten und auf die Straße zu gehen.
17. Dezember: Das Hauptgebäude der Allgemeinen Konföderation der griechischen Arbeiter (GSEE) in Athen wird durch von Anarchisten und Libertären unterstützte anarcho-autonome Basisgewerkschaften besetzt. Grob geschätzt, nahmen jeden Nachmittag sechshundert Menschen an ihrer Versammlung teil.
21. Dezember: Die Besetzung der GSEE wird beendet.
23. Dezember: Dreitausend Protestierende marschieren durch Athen. Nachmittags wird in Zografou, einem Viertel von Athen, ein Bus der Aufstandspolizei mit einem Schnellfeuergewehr beschossen. Die bulgarische Gastarbeiterin Konstantina Kuneva wird von Unbekannten brutal attackiert – wahrscheinlich aus Rache für ihre Bemühungen, ihre prekären Putzkolleginnen zu organisieren, und wegen ihrer Verbindungen zur GSEE-Besetzung.
24. Dezember: Einige Hundert Anarchisten führen eine friedliche Demonstration durch Athen durch.
25. Dezember: Weihnachten wird im höchsten Ausmaß als gesellschaftliches Symbol für Frieden, Tradition, Atomisierung des gesellschaftlichen Lebens in die Privatsphäre und für den Konsum ausgebeutet. Nach der offiziellen Erzählung markiert Weihnachten das definitive Ende der Revolte. Wie dem auch sei: Brandstiftungen gegen Banken, Autohäuser und Regierungsgebäude in mehreren Stadteilen Athens sowie in Ioannina versprechen eine Fortsetzung des Kampfes.