Das ist der Geist der Revolte
Von Alexis Erschießung erfuhr ich von einem Freund, über das Telefon. Das war bereits einige Stunden später, um ein Uhr morgens. Ich bin sofort nach dem Anruf hin, aber es hatte schon begonnen. Als ich in Exarchia ankam, waren die Straßen voller Feuer. Das Polytechnikum war besetzt worden, nachdem sie auf einer kleinen Versammlung entschieden hatten, es zu übernehmen. Um diese Zeit, 1:30, 2:00 Uhr, versuchten die Bullen, den Campus zu umstellen und die Leute daran zu hindern, sich dort zu sammeln. Es wurde versucht, das Polytechnikum vom Exarchia-Platz aus und mehr noch über die Patission und vom Omonia-Platz aus zu erreichen. Daher gab es in Exarchia und in der Patission-Straße Straßenkämpfe zwischen der Aufstandspolizei und der Bevölkerung.
Die Bevölkerung dieses Viertels trat vom Moment der Ermordung an in Aktion. Bereits eine halbe Stunde nach dem Mord gab es einen Aufruf für ein Treffen im Polytechnikum. Gleichzeitig sammelten sich Leute am Platz, an dem die Erschießung stattgefunden hatte. Bezeichnenderweise begann der Aufruhr nicht durch einen organisierten Anstoß, sondern spontan, durch eine natürliche Ausweitung des Ereignisses.
Einige Linke sammelten sich in der Akademias-Straße, während sich die Menschen im und um das Polytechnikum Scharmützel mit der Polizei lieferten. Einige Stunden nach Mitternacht lief eine große Gruppe Anarchisten, 100-200 Menschen, keine besondere politische Gruppe, sondern eine Ad-hoc-Ansammlung, zu einem anderen, ein oder zwei Kilometer entfernten Viertel, einer Einkaufszone mit Nachtleben. Sie griff viele große Geschäfte an. Es gab vollständig ausgebrannte Gebäude. Dieselbe Gruppe attackierte ein oder zwei Polizeiwachen, während sie durch die Stadt zogen. Das war der erste Gegenangriff, die erste Initiative, in die Offensive zu gehen.
Diese ersten Reaktionen prägten allem, was danach folgte, entscheidend seinen Charakter auf. Die erste Reaktion bestimmt, was als nächstes passiert. Deswegen war das, was in Exarchia geschah, so ausschlaggebend. Vom ersten Moment an sammelten sich die Leute. Bereits in der ersten Stunde besetzte eine größere Gruppe das Polytechnikum. Und diese Initiative, dieser Gegenschlag, charakterisierte alle anschließenden Reaktionen.
Die in Exarchia stationierten Bullen wurden angegriffen. So etwas war schon zuvor passiert als eine spontane Antwort auf Polizeiaggressionen oder aber als geplante Angriffe. Das war immer wieder geschehen. In der jüngeren Vergangenheit lief das aber immer so ab, daß sich einige Jugendliche informell trafen und entschieden: „Lasst uns morgen nacht losziehen und die Bullen der Gegend angreifen.“ Diesmal geschah es organisch, nicht durch formelle Organisation. Es ist ein Experimentierfeld, das ist wichtig.
Die Akteure hatten bereits sämtlich solche Erfahrungen gemacht. Nicht nur die Erfahrung von Organisierung und politischen Diskussionen, sondern auch von Auseinandersetzungen auf der Straße. Das ist eine der Besonderheiten, die unseren Erfolg im Dezember ermöglichte.
Ich erinnere mich nicht, zu welcher Uhrzeit, aber ab einem Punkt verschwanden die Bullen um das Polytechnikum, so daß alle kommen und sich versammeln konnten. Das wurde möglich, weil über die ganze Nacht hinweg immer mehr Menschen auf die Straße strömten und die Polizei angriffen. Die Kämpfe gingen die ganze Nacht. Diese erste Nacht bietet uns einen Aussichtspunkt, von dem wir den ganzen Rest des Aufstands überblicken können. Vorausgeschickt aber folgendes: Ich benutze das Wort Aufstand nur, um auszudrücken, von welcher Periode die Rede ist, wenn wir vom Dezember sprechen. Meiner Meinung nach kann man einen wirklichen Aufruhr nicht durch Gesetze und Maßstäbe bestimmen. Wir können ihn nicht wiegen. Das ist eine soziologische Diskussion, um abzustecken, wann eine Erhebung anfängt und wann sie endet. Es begann nicht am 6. Dezember, der Aufstand war immer schon da. In jedem Individuum oder jeder gegen Staat und Herrschaft gerichteten Gruppe. Was am 6. Dezember in Athen und später in ganz Griechenland und quer durch die Welt losbrach, war das Zusammentreffen aller Aufstände, aller Revolten, die sich in dieser Zeit finden konnten. Ich will Geschichte nicht von einem soziologischem Standpunk aus betrachten: Jetzt haben wir viele Menschen, also ist es ein Aufstand, nun sind sie nicht länger auf der Straße, also endet der Aufstand. So läuft das nicht. Aus dieser Perspektive kannst du nicht erkennen, was sich hinter den Ereignissen verbirgt. Wenn du Geschichte nur in Jahreszahlen denkst, kannst du nicht erklären, wie die Geschichte ans Tageslicht trat und wie es weiter geht. Folgendes erklärt, warum sich innerhalb weniger Stunden Tausende im Zentrum der Stadt versammeln konnten, um mit sich mit der Polizei Straßenschlachten zu liefern: Das Feuer war bereits entflammt; das innere Motiv bestand schon. Es ist wie bei einer Bombe. Ein einzelnes Ereignis, das einer Menge von Leuten etwas bedeutet, war die Zündung. Diese setzte gesellschaftliche Kräfte frei, die allerdings schon länger im Verborgenen schwelten. Das erklärt, warum Tausende sich treffen, in wenigen Stunden versammeln und dann tagelang kämpfen konnten und warum es auf andere Orte übergriff.
Die Bullen erschossen am 6. Dezember nicht zum ersten Mal einen Zivilisten. Sie tun es immer wieder. Der entscheidende, dem ganzen Ereignis vom ersten Moment an eine besondere Bedeutung verleihende Unterschied war der, daß es sich um einen Angriff handelte, einen direkten Angriff. Das Bullenauto passierte die Gegend, wo die jungen Leute herum hängen, Bier trinken und diskutieren. Und dieser Platz, auf dem die Jugendlichen und Anarchisten ihre Zeit verbringen, war eine Fußgängerstraße. Als die Bullen vorüber fuhren, hat sie jemand beleidigt, etwas geschrieen. Ich bin nicht sicher, aber vielleicht haben sie eine Wasserflasche aus Plastik geworfen. Die Bullen fuhren weiter und parkten ihr Auto zwei Blöcke entfernt, wo üblicherweise ein Bus der Aufstandspolizei stationiert ist. Sie parkten ihr Auto an einem sicheren Platz und kehrten zu Fuß zurück. Beide zogen sie ihre Waffen, einer zielte auf die Gruppe der Jugendlichen und schoß zwei oder drei Mal. Es war ein offensichtlicher Angriff, das ist die erste wichtige Besonderheit dieses Ereignisses; niemand kann von einem Unfall reden. Immer wenn sie jemanden töten, nennen sie es einen Unfall.
Zweitens fand alles in einem Kiez statt, der auf eine Art von der Polizei befreit ist. Nicht vollständig, aber sie können in Exarchia nicht machen, was sie wollen, sie kommen nicht einfach damit durch. Darum parkten sie zuerst ihr Auto irgendwo außerhalb dieser Zone. Da war sozusagen eine mentale Grenze, ein unsicherer Ort, eine staatenlose Zone und außerhalb dieser Grenze ist die Staatssicherheit. Dieses mentale Schema wird von jedem verstanden, es bildet eine soziale Errungenschaft. Alle denken so, selbst der Feind respektiert es. In den Sonntagsausgaben, in denen die Zeitungen regelmäßig Artikel mit politischen Analysen über Terrorismus oder Anarchisten bringen, gab es auch Artikel über das Avaton von Exarchia. Traditionell bezeichnet dieses Wort einfach den Heiligen Berg von Chalkidiki, zu dem nur Mönche Zugang haben. Er hat Grenzen, als ob er ein anderes Land wäre. Ein Avaton ist ein Ort, den du nicht betreten darfst. Und der Staat benutzt dieses Wort für Exarchia. Tatsächlich schrieben einige Journalisten in der ersten Nacht oder am nächsten Tag, daß dieser Mord eine Möglichkeit bieten würde, das Problem eines Avaton von Exarchia zu thematisieren.
Sie sind bescheuert und können weder den Sinn dieses Ereignisses verstehen, noch dessen Konsequenzen. Sie haben eine Menge heiße Luft zusammengeredet, als sie noch nicht verstanden, was geschehen würde. Vom nächsten Tag an vergoß jeder Tränen, um Profit aus der Trauer über diesen kaltblütigen Mord zu ziehen. Bis hinauf zum Präsidenten. Einige Journalisten redeten diesen Schwachsinn, aber der Rest des Staates verstand, wie ernst die Lage war. Alle versuchten, das Gewicht dieses Ereignisses zu verringern, seine Bedeutung zu eliminieren, indem sie vorgaben, mit Alexis zu sympathisieren, weil er noch jung war. Tatsächlich ist der Umstand, daß er ein junger Schüler war wichtig, da es vom ersten Moment an die ganze Jugend betraf, alle Schüler.
Nach der ersten Versammlung im Polytechnikum, zogen einige los, um eine andere Besetzung durchzuführen, die der ASOEE. Dabei schlossen sich Leute an, die noch nicht im Polytechnikum gewesen waren. Diese Besetzung fand aus politischen Gründen statt. Sie wollten nicht in der Nähe einer von ihnen unkontrollierbaren, chaotischen Situation sein. Außerdem gab es Leute, die befanden, daß man besser mehr als eine Besetzung haben sollte, mehr Zentren, Kampfbasen, daß ist richtig. Und schließlich gingen einige zur ASOEE, nachdem die Polizei sie für den Augenblick daran gehindert hatte, das Polytechnikum zu betreten, so daß sie zu einer anderen Besetzung gingen. Der Umstand, daß wir mehr als eine Besetzung hatten, fungierte als Machtfaktor: Es ist schwieriger, mehrere Orte anzugreifen. Außerdem erlaubte er einer größeren Vielfalt von Menschen teilzunehmen, da es unterschiedliche Besetzungen gab, die die Sache unterschiedlich angingen.
Vom ersten Tag an gehörten wir zu denen im Polytechnikum, die der Meinung waren, daß alle Besetzungen weitergehen mußten, daß wir mehrere Gebäude halten sollten, um mehr Stützpunkte zu haben. Ich bin nicht sicher, ob die dritte Besetzung, die der Nomiki, noch in derselben Nacht oder erst am nächsten Tag stattfand. Sie wurde von Leuten aus der Linken und von Alpha Kappa, der Antiautoritären Strömung, durchgeführt. Letztere haben gute Beziehungen zu den Linken und schlechte Beziehungen zum überwiegenden Rest der anarchistischen Bewegung. In der ersten Nacht waren alle gemischt, aber schon nach einigen Stunden begannen die Leute sich wieder aufzuspalten und ihre politischen Eigenarten klarzustellen. Einige Leute verließen das Polytechnikum, weil sie mit keiner unkontrollierbaren Menge zusammen sein wollten. Sie zogen einen Ort vor, an dem sie alle Aktionen in eine allgemeine Diskussion kanalisieren konnten. Es ist nicht so, daß sie keine direkten Aktionen oder gewalttätige Ausschreitung wollten, aber nur auf eine Weise, mit der sie bereits vertraut waren.
Ich weiß, meine Kritik mag etwas hart sein, aber ich glaube, sie ist wahr. Die Besetzung der ASOEE hatte eher einen Parteicharakter, nicht auf institutionalisierte, sondern auf symbolische Weise und in ihrer ideologischen Reinheit. Ich benutze das Wort Partei aber auch, weil diese Strategie sie von den unkontrollierten Haufen trennte, die in den Straßen wüteten und alles zerstörten. Die ASOEE-Gruppe nahm an den Märschen und an vielen Ereignissen teil, sie führten auch selbstständig direkte Aktionen durch. Ich sage nicht, daß es eine bürokratische Gruppe war und wie ich schon angemerkt habe, war ich der Meinung, alle Besetzungen müßten weitergehen, da sie alle wichtig waren. So fanden in der ASOEE-Besetzung viele Debatten statt, aber eben unter Leuten, die sich bereits kannten. Man könnte sagen, es war wie in einer großen Familie, die unterschiedliche Themen abhandelte. Natürlich war der unter ihnen bestehende Zusammenhang ein Vorteil in vielen Aktionen. So griffen sie in Straßenkämpfe ein und führten Angriffe auf die Metro durch.
Diejenigen von uns, die von Anfang an im Polytechnikum verblieben, waren dort andererseits nicht durch Zufall hineingeraten. Vielmehr kamen sie aus vielen Gründen zum Schluß, dort bleiben und diese Besetzung halten zu müssen. Einige der Gründe hängen mit dem Beginn des Aufstandes zusammen. Das Polytechnikum, als Ort, war ein sehr wichtiger Faktor des Aufstandes. Zum Beispiel zogen die Leute, die die Einkaufszone angriffen, vom Polytechnikum los. Viele von ihnen partizipierten später nicht im Polytechnikum, sondern gingen zur ASOEE. Aber das spielt keine Rolle. Sie zogen vom Polytechnikum los, weil das Polytechnikum einen historischen Wert besitzt. Und zwar nicht wie bei einem Denkmal, sondern in einem lebendigen Sinn: Es bietet ernsten Kämpfen immer noch eine Basis, ein Zentrum und hat Platz für Organisierungsprozesse wie Versammlungen. Diese Bedeutung kommt noch vom Aufstand 1973, vor dem Ende der Diktatur.
Wegen diesem geschichtlichen Wert, dem lebendigen Geist des Polytechnikums, mußten wir dort sein, wir mußten diesen Ort halten. Das Polytechnikum ist ein Punkt auf der Karte des politischen Bewußtseins, der mit Aufstand assoziiert wird. Das ist der Grund, warum nicht nur in der ersten Nacht, sondern die ganze erste Woche und auch während den nachfolgenden Tagen, Tausende dort hindurchgingen, um zu kämpfen. Sehr viel mehr, als in dieser Besetzung dauerhaft blieben. Wir unterhielten die Besetzung nur mit einigen Duzend, wenige, verglichen mit den großen Massen, die am Geschehen teilhatten. In den Versammlungen waren einige Hundert, die dort nicht übernachteten, nicht in den Gebäuden blieben. Und in den nächtlichen Kämpfen außerhalb des Polytechnikums waren Tausende. Natürlich nicht nur Anarchisten.
Unbekümmert vom symbolischen Gehalt des Ortes, dem historischen Wert des Polytechnikums, aber trotzdem aufgrund dieses Gehalts, diente es vielen unterschiedlichen Menschen, die bis zu diesem Zeitpunkt nie zusammen gearbeitet oder sich auch nur getroffen hatten, als Sammelpunkt. Und sie haben sich dort aus einem einfachen Grund getroffen: Aufstand; um den Staat zu bekämpfen. Außerdem waren der Campus und die umliegenden Straßen auserkoren worden, um für die Kämpfe und Gewalttätigkeiten gegen die Polizei und den Staat zu dienen: Das war nach allgemeiner Meinung unser Ort, der Ort, an dem wir tun und lassen konnten, was wir wollten. Man konnte viele unterschiedliche Menschen in der Besetzung und den Auseinandersetzungen in den umliegenden Straßen finden. Es gab Immigranten jeder Rasse und aus jedem Land, Schwarze, Osteuropäer, alle. Es gab Studenten, Lumpenproletarier – Leute die auf der Straße leben, Junkies, Hooligans, Zigeuner. Und alle Alterschichten waren anwesend. Von der ersten Stunde der ersten Nacht an konnte man alle Altersgruppen vertreten sehen, alle Generationen der Anarchisten, all die Generationen, die die Kämpfe der Vergangenheit erlebt hatten und die sich nun wieder in den Straßen sammelten. Man konnte Leute sehen, die den Kampf schon Jahre zuvor aufgegeben hatten. Aber sie kamen in dieser Nacht wieder hervor. Und die Bühne dieser Mischung war das Polytechnikum.
Andere Anarchisten mißtrauten diesem melting pot, dieser Vermischung mit Menschen aus anderen Kulturen, die für uns nicht sehr vertraut oder einladend sind. Sie mißtrauten auch den unscharfen Aktionen, die Vieles einschlossen, das sie nicht akzeptieren konnten oder das nicht in ihr Bild von einem Aufstand hineinpassen wollte. Dieser Umstand war gerade einer der Gründe, warum wir dort blieben. Wir verstehen den Aufstand nicht einfach als Fortführung unserer Ideen oder als anschauliche Offenbarung anarchistischer Organisationen in der Gesellschaft, sondern vielmehr als soziale Explosion, als einen Ausdruck der Bedürfnisse von unterdrückten, ausgebeuteten und gequälten Menschen. Unsere Bemühungen bestanden bis dato und sollten auch in Zukunft darin bestehen, solche Augenblicke zu provozieren, solche Zusammentreffen, dieses Verschmelzen. Wir behalten unser Denken, unsere Organisierungsformen und Charaktere, die Weise wie wir unseren eigenen Kampf führen, aber wir haben da zu sein und uns mit den anderen zu vermischen. Unsere Rolle besteht darin, das zu unterstützen und anzuschieben. So können wir sagen, daß die Besetzung des Polytechnikums die proletarischste aller Besetzungen war. Sie war nicht auf Anarchisten beschränkt, aber so wie an die Sache herangegangen wurde, die allgemeine Strategie, die Denkweise auf den Versammlungen: das war anarchistisch.
Daher kann man in den Pamphleten aus dem Polytechnikum und auf den von uns erstellten Plakaten die deutlichsten Bezüge zum Klassenkampf und zum Gegenangriff der Unterschichten finden. Es war keine ausschließlich anarchistische Sichtweise auf die Ereignisse, den Staat oder den Aufstand, vielmehr gaben unsere Stellungnahmen sehr deutlich bekannt, daß nun der Gegenangriff unserer Klasse beginnt. Von der ersten gedruckten Flugschrift an, thematisierten wir alle in der Vergangenheit ermordeten Menschen, nannten sie mit Namen, erinnerten an sie. Wir bezogen uns auch auf die in Auseinandersetzungen getöteten, bewaffneten Guerilleros, da wir nicht an einem Opferstatus interessiert sind. Wir sagten, daß die Kampftage für sie alle sind und nicht nur für Alexis. Wir werden Rache nehmen, für sie und für uns.
In der ersten Nacht wurden viele Geschäfte in der Stournari-Straße aufgebrochen. Einige wurden geplündert, andere verbrannt. Die Stournari-Straße führt vom Exarchia-Platz am Polytechnikum vorbei zur Patission-Straße. Um die Menschen daran zu hindern, sich im Polytechnikum zu versammeln, postierten sich die Bullen Ecke Patission-Straße/Stournani-Straße und etwas die Stournani-Straße hinauf. Sie standen auch hinter dem Campus, wo ohnehin immer ein Polizeibus das Kulturministerium bewacht. Normalerweise greift die Polizei das Polytechnikum vom Kanigos-Platz aus an und diese Nacht machten sie es wieder. Sie wollten die Stournani-Straße abschneiden. Aber die Polizei wurde auf der Straße besiegt und die Geschäfte zerstört – alle großen Geschäfte und einige der kleineren, aber die meisten der kleinen Geschäfte wurden nicht angefaßt. Der größte Computerladen der Straße, einer der größten in ganz Griechenland, wurde aufgebrochen und vollständig niedergebrannt. Viele Stockwerke, ein hohes Gebäude, alles verbrannt. Und es verbrannte langsam, die Brandstiftung war gut ausgeführt. Ich glaube es ist nun unbrauchbar und sie müssen es abreißen. Dieses bestimmte Gebäude war mit Vorsatz abgebrannt worden: Die Firma ist Teil eines Konsortiums, das auf einem momentan noch bewaldeten Berg in der Nähe von Athen einen Technologiepark errichten will, analog zum Silicon Valley.
Am nächsten Morgen waren die Stournari-Straße und die kleineren Seitenstraßen ein surrealistischer Ort, eine zauberhafte und unvorstellbare Szenerie. Man kann es sich nicht ausmalen, wenn man es nicht gesehen hat. Die ganze Straße war übersäht mit Steinen, Metallstücken und allem, was man sonst noch werfen konnte. Verbrannte Autos, umgekippte Autos. Rauch. Es war wie eine Mondlandschaft. Ein sehr ruhiger Morgen. Es kamen nur einige Passanten und guckten sich den Schauplatz an oder machten Fotos. Aber man sah niemanden zur Arbeit gehen, keiner öffnete seine Geschäfte. Als ob die Zeit angehalten hätte. Das Gefühl war großartig. Stille. So war es am ersten Morgen und daraufhin jeden Morgen der folgenden Woche. Die Leute kamen vorbei, gingen in die Besetzung oder kamen heraus. Ganz, als ob dieser Ort uns gehören würde, frei wäre. Eine bestimmte politische und militärische Situation, ein Gleichgewicht der Macht, in der ein Viertel, eine Straße befreit war. Es gehörte uns. Tagelang. An diesem Ort gab es keine Herrschaft. Die Polizei kam nicht, um den Schaden aufzunehmen. Eine Woche gab es dort keinen Staat. Im Rest der Stadt war die Polizei auf der Straße, wenn auch nur in großen Gruppen und defensiven Formationen. Oder sie haben sich versteckt. Aber hier gehörte alles uns. Und nur einen halben Block weiter bewachte ein Bus der Aufstandspolizei ein Regierungsgebäude. Sie haben nie ihren Posten verlassen. Sie wurden viele Male und mit unterschiedlichen Methoden angegriffen, rührten sich aber nicht von der Stelle. Sehr surreal.
Am nächsten Tag, dem Sonntag, war der erste Marsch. Er ging in der Nähe des Polytechnikums los und dann in Richtung Polizeihauptquartier an der Alexandras-Allee, nicht sehr weit, aber aus dem Zentrum raus. Dieser Marsch barg viele Menschen und viel Energie in sich. Er war vom ersten Augenblick an ein unaufhaltsamer Angriff. Viele zerstörten all die Symbole des Kapitalismus. Sie haben Firmenbüros, Supermärkte, Banken und Autohäuser verbrannt. Ford beispielsweise war komplett ausgebrannt. Und zunächst war dort kein Bulle, sie haben alle in der Nähe ihres Hauptquartiers gewartet. Sobald die Leute die ihre Zentrale bewachenden Polizisten auf der Alexandras-Allee sahen, griffen sie an. Aber es ist den Bullen gelungen, den Vormarsch zu brechen und zurückzudrängen, wenn auch die Auseinandersetzungen weitergingen. Die Leute zerstreuten sich nicht, wurden aber stetig zurückgedrängt. Bis zu diesem Zeitpunkt versuchte die Polizei, die Menge aufzulösen, keine Festnahmen zu machen. Sie benutzten unglaubliche Mengen Tränengas. Dieser Sonntagsmarsch war der erste massenhafte Zerstörungserguß. Einige Linke und linke Parteien hatten zu ihm mobilisiert, ich denke zusammen mit Alpha Kappa. Aber jeder ging dort hin. Leute aus allen Besetzungen, hauptsächlich Anarchisten. Die Mitglieder der demokratischen Parteien hatten keine Befehlsgewalt, sie haben sehr wenig getan. Sonntagnacht, nach dem Protestzug, kamen Tausende zum Polytechnikum, um sich mit der Polizei Schlachten zu liefern, Tausende Menschen. Das geschah vom Sonntag bis zum Mittwoch, aber Sonntagnacht war außerhalb des Polytechnikums die Nacht des Furors. Die Leute waren unkontrollierbar. Man kann die dort erscheinende Wut nicht in Worte fassen. Gegen die Bullen und alles, was Herrschaft repräsentiert. Es war reiner Zorn. Als ich aus der Universität auf die Straße trat, sah ich eine große Zusammenrottung vor einem der Computerläden. Sie schmissen alles, was sie finden konnten, zusammen mit Dutzenden, wenn nicht Hunderten Molotowcocktails in und auf das gleiche Geschäft. Eine lange Zeit. Das folgte keinem Plan, sondern war einfach unkontrollierte Wut. Und dann gingen sie los, um die Polizei auf den Kanigos-Platz zu suchen. Am Kanigos-Platz steht auch ein Regierungsgebäude, so daß man da immer Bullen antrifft. In diesen Nächten gingen wir oft hinaus. Wir wollten auch kämpfen, aber es gab nichts zu tun, da alles schon getan war, es war schon von anderen erledigt worden. Kämpfen und Randalieren war nicht länger ein anarchistisches Monopol.
Viele Leute, Anarchisten und andere, kamen aus anderen Ländern angereist, um den Aufstand zu erleben. Da war ein Hooligan aus Polen, der die Nachrichten gehört hatte und am zweiten Tag nahm er ein Flugzeug nach Athen, ging ins Polytechnikum und blieb dort bis zum letzten Tag der Besetzung. Die Menschen wurden nicht nur durch eine politische Vertrautheit angezogen, es war der Geist des Aufstands, die allgemeinen Möglichkeiten jeder ausgebeuteten Person. Sogar auf den der Türkei vorgelagerten kleinen Inseln, weit im Osten, griffen Schüler Polizeistationen an. Auch in einem nordwestlich von Athen gelegenen Gebiet, wo viele Zigeuner leben, nahmen die Bewohner ab dem zweiten Tag am Aufstand teil. Sie kamen nicht runter ins Zentrum, sondern sammelten sich in ihrem eigenen Viertel und steckten eine Bank an, plünderten ein großes Geschäft und attackierten die örtliche Polizeistation. Sie setzten einen gestohlenen Lastwagen in Brand, blockierten das heruntergedrückte Gaspedal und ließen es in die Vordertür fahren. Es ist ein brisanter Ort mit einem schlechten Verhältnis zwischen den Zigeunern und den Bullen. Auch sie haben in letzter Zeit einige Leute durch Polizeimorde verloren.
Am nächsten Tag, dem Montag, entschied der Bildungsminister alle Schulen und Universitäten zu schließen, so daß die Schüler sich nicht versammeln könnten. Sie erwarteten Probleme mit Schülermobilisierungen und dachten, sie dadurch eindämmen zu können. Aber Montagmorgen schwärmten die Schüler um ihre geschlossenen Schulen herum und führten überall spontane Aktionen durch. In ganz Athen und über das ganze Land verteilt. Man konnte von Schülern hören, die Straßen blockierten, Protestzüge veranstalteten und von anderen, die Polizeistationen mit Steinen bewarfen. Und wir sprechen von Leuten, die keinerlei Kontakt zu uns hatten und die während der letzten zwei Nächte nicht in der Athener Innenstadt gewesen waren. Das waren einfach irgendwelche Leute, überall im Land, die sich sammelten und Sachen machten. Es schien, als ob die komplette Schülerschaft einiger Schulen ins Polytechnikum kam. Montagmorgen ging ich mit einigen anderen Freunden, einigen Genossen, in die Patission-Straße, um Flugschriften zu verteilen. Es war das erste in der Polytechnikum-Besetzung verfaßte Pamphlet. Die Schüler gingen davon aus, das Polytechnikum sei der Sammelpunkt und so kamen sie in Gruppen, um in Erfahrung zu bringen, wie sie sich einbringen könnten. Sie fragten uns, was wir wann und wo tun würden.
Ich will noch eine persönliche Erfahrung anführen, um die Atmosphäre zu illustrieren. Einmal kam eine lange Schülerdemonstration an. Sie kamen aus einigen Kilometern Entfernung, aus einem nicht sehr armen Viertel, eher der Mittelschicht und der gehoben Mittelschicht zugehörig. Und als sie in der Patission-Straße ankamen, direkt vor der historischen Pforte des Polytechnikums, wo die Panzer 1973 angegriffen hatten, da blockierten sie einfach die Straße, ohne uns danach zu fragen, was zu tun sei. Und sie begannen den üblichen Slogan zu rufen: batsi, gourounya, dolofoni! Bullen, Schweine, Mörder! Diese Szene machte mich ekstatisch. In diesem Moment hatte ich verstanden, daß der Zug nun abgefahren war. Die Revolte war über uns hinaus gegangen. Ich sage nicht, daß sie uns überholte. Viele benutzen dieses Wort, aber daran glaube ich nicht. Vielleicht überholte sie diese Leute, weil sie nicht glaubten, daß so etwas passieren könnte, und die Erhebung überholte diese Denkweise. Ich bin eine derjenigen, die sich sicher waren, daß Volksaufstände passieren würden und zwar schon bald. Ich bin auch eine derjenigen, die glauben, daß auch eine Revolution ausbrechen wird.
Als also der Aufstand hierher kam, war es keine Überraschung. Dieser Augenblick ändert dich, jede Erfahrung dieser Situation wird ein neuer Teil von dir. Aber es ist nicht unerwartet. Du hast es erwartet, nur einfach noch nie gesehen und jetzt ist es direkt vor dir und überall um dich herum. In diesem Augenblick, im Angesicht dieser Szenen, war ich euphorisch und glaubte, daß dies unsere Leute seien, daß es sich nicht nur um einen engen Kreis von Genossen handelt. Nun wird das in jedem Einzelnen verdrängt Vorhandene zur Erscheinung kommen. Von da an verstand ich, daß die Ereignisse nun voran gehen. Der Weg ist frei, sie können fortschreiten und nicht mehr gestoppt werden.
Montagnachmittag war der erste Marsch in der Innenstadt. Jeder war dort. Es war der größte Umzug der Woche. Und an diesem Nachmittag wurde das Zentrum von Athen verbrannt.
Von Anfang an gingen die Leute zum Angriff über, verbrannten Gebäude, zentrale Banken, Regierungsgebäude, große Geschäfte, Filialen, Kaufhäuser. Und sie plünderten. Unterhalb des Omonia-Platzes, laß es mich so ausdrücken: Der Omonia-Platz ist die Grenze zwischen Ober- und Unterstadt, wo die normale Gesellschaft die Unterschicht trifft. Einwanderer, Junkies, Obdachlose sammelten sich immer unterhalb vom Omonia-Platz. Als die Zerstörung begann, verbreitete sie sich über den Omonia-Platz und viele an der der Demonstration nicht beteiligte Menschen zerstörten und plünderten. Viele der an diesem Tag Verhafteten, ein großer Prozentsatz der Gesamtfestnahmen, waren an der Situation beteiligte Einwanderer. Als die Aufstandspolizei kam, fand sie Dutzende Leute innerhalb der Geschäfte. Sie hingen dort herum, suchten sich Sachen aus. Sie zerschlugen und verbrannten sie nicht einfach, um dann abzuhauen, wie wir es trieben.
Die Angriffe der Montagsproteste weiteten sich über den Marsch hinaus aus, zerstörten die angrenzenden Viertel. Ein Freund ging nach dem Umzug zum Kolonaki-Platz und sah dort eine Gruppe von zehn Jugendlichen, vermummt und maskiert, auf dem reichsten Platz der Stadt die Geschäfte zertrümmern. Meine Freunde gingen weiter zur Skoufa-Straße, die vom Kolonaki-Platz nach Exarchia führt und fanden dort eine weitere Schülergruppe, die hoch nach Kolonaki lief. Beide Gruppen vereinigten sich und begannen, alle Geschäfte der Straße zu zertrümmern. Das zeigt, wie der Aufstand funktionierte. Viele Menschen, auch Anarchisten, haben eine mechanische Sicht auf den Lauf der Dinge. Sie verstehen nicht, wie dem Staat bestimmte Situationen entgleiten, warum der Staat es nicht schafft, die griechischen Anarchisten zu unterdrücken, warum er es nicht schafft, die aus den Märschen resultierende Gewalt zu beenden. Viele Anarchisten verstehen den Staat als etwas, daß seine Macht nur intensivieren kann. Der Dezemberaufstand zeigte, daß diese mechanische Denkform keine Wirklichkeit besitzt, daß sie nicht gilt. Sie ist nur die Projektion der Selbstwahrnehmung des Staats. Diese ist auf Kontrolle konzentriert und glaubt, daß alles kontrolliert werden kann. Diese Wirklichkeit wird von vielen von uns akzeptiert. Früher auch von mir. Ich verweigerte mich jener Art zu denken und war sogar der Ansicht, man müßte im Voraus eine Strategie planen, einen vorgefaßten Weg, um einen Aufstand zu beginnen.
Aber in der Dezemberrevolte sah ich, wie ein multiples Subjekt cleverer sein kann als jedes Individuum. Wenn wir in einer Situation sind, in der viele Köpfe mitten in einer Aktion zusammenarbeiten, so ist eine Gruppe intelligenter, beweglicher. Der Aufstand im Dezember bewies die Intelligenz der Anarchie. Montagnachmittag zum Beispiel hatten wir keinen Plan, keine einheitliche Strategie und gerade deshalb konnten uns weder der Staat noch die Bullen im Zaum halten. Die Situation war für sie chaotisch. Einen Feind, der überall ist, können sie nicht stoppen. Sie können einen Feind ohne einheitliche Zielvorstellung nicht aufhalten. Wenn sie ein Gebiet erobern, verlieren sie ein anderes.
In den Kämpfen außerhalb des Polytechnikums sah ich, wie tausend Leute oder fünfzig die Aufstandspolizei angreifen konnten und dabei wie ein einzelner Organismus zusammenarbeiteten. Wir konnten ohne vorher ausgearbeitete Struktur und Organisation agieren, da alle Teilnehmenden den Kampf wie den jeweiligen Augenblick von einem ganzheitlichen, um die Gruppe zentrierten Standpunkt aus verstanden. Diese Einheit bestand dabei nicht, weil wir vorher eine Versammlung abgehalten hätten, sondern, weil sich in diesem Moment jeder instinktiv als Teil eines Ganzen verstand. Das ist effektiver als ihr Modell. In unserem Modell hat jeder eine gleichzeitige Vorstellung des gesamten Geschehens und jeder fühlt sich verantwortlich, alles zu tun, was dem gemeinsamen Ziel dient.
In der dritten Nacht, Montagnacht, kamen nach der Demonstration Tausende ins Polytechnikum, hauptsächlich Schüler. Man konnte sehen, wie kaum 12-Jährige zertrümmerten, zerstörten und Steine schmissen. Alle Altersgruppen waren da. In dieser Nacht nahmen die meisten Menschen an den Ausschreitungen um die Universität teil und der Charakter der Auseinandersetzung war sichtbar etwas von den vorangehenden Nächten verschieden. Sonntag gab es die Wut, aber Montagnacht … Hier konntest du den Kollektivgeist sehen. Da waren viele Schüler, aber genauso Einwanderer und Anarchisten und Junkies und andere. Und wir dachten alle kollektiv. Einige Gruppen kamen ins Polytechnikum, um sich auszuruhen, andere gingen hinaus, um zu kämpfen, eine kontinuierliche Kette. Eine große Gruppe, darunter viele Mädchen, zerbrachen das Mauerwerk, um Steine hervorzuholen, sie sammelten Dinge zum Werfen. Sie arbeiteten wie eine Fabrik, aber niemand befahl ihnen, was sie tun sollten. Sie waren wie die Ameisen der Revolution. Unsere Gruppe, die die Besetzung am Laufen hielt, brauchte nichts zu machen. Wir waren einfach an den Eingängen und paßten auf, daß niemand erwischt und niemand allein gelassen würde. Oder wir warfen die Gaspatronen zurück auf die Polizei.
In diesen Geschehnissen hat sich die junge Generation selbst geschult und den Initiationsritus überstanden. Sie wird die nächsten zehn, zwanzig Jahre auf den Straßen sein. Ich glaube das. Für einen Jugendlichen ist so etwas eine mächtige Erfahrung, diese erste Straßenerfahrung. Danach kann man nicht so einfach zur Normalität zurückkehren. Und einmal mehr sehen wir die Wichtigkeit der Polytechnikum-Besetzung. Sie gab all diesen Leuten die Möglichkeit, sich zu sammeln und in den Straßen zu kämpfen.
Während der zweiten Woche wurde die Gewerkschaftszentrale besetzt. Die Besetzung wurde von Genossen initiiert, die schon Basisgewerkschaften organisiert hatten. Das sind nicht explizit anarchistische Gewerkschaften, aber antiautoritäre Arbeitervereine. Einige dieser Genossen waren auch an der Besetzung des Polytechnikums beteiligt. Ihr Ansatz unterstrich die Klassenanalyse, aber nicht durch Formulierung ökonomischer Forderungen oder einen strikt um die Arbeit kreisenden Diskurs. Sie sahen sich als revoltierende Arbeiter, redeten über den Aufstand, die Gefangenen. Sie wollten die arbeitenden Menschen mobilisieren, aber im Rahmen des Aufstands und ohne getrenntes Programm. Es sollte kein beschränkter Kampf werden, der nur ökonomische Forderungen stellte. Die Wahrheit ist, daß durch diese Bemühungen nicht besonders viele Arbeiter mobilisiert werden konnten, es gab auch keine Massenereignisse, aber sie boten einigen, gerade beginnenden Auseinandersetzungen eine Basis. Diese richteten sich mehr auf die Probleme der Arbeit, erfaßten dabei allerdings den Geist des Aufstands. Bevor sie angegriffen wurde, nahm Konstantina Kuneva an den Versammlungen dieser Besetzung teil. Als sie zu ihrer Gewerkschaft gegangen ist, um den Gewerkschaftsdachverband um Solidarität zu bitten und darum, ihren Text über die Brutalität ihrer Chefs zu verbreiten, forderte der Gewerkschaftsdachverband sie auf, sich von der Besetzung zu distanzieren. Natürlich weigerten sich Kuneva und ihr Bund.
Danach besetzten sie die Hauptbüros der Eisenbahn, dem Auftraggeber derjenigen Privatunternehmen, die die von Kunevas Gewerkschaft vertretenen Putzkräfte anstellen. Und ihre Gewerkschaft weigert sich, mit der PAME, der Gewerkschaft der Kommunistischen Partei, oder sonst irgendeiner Partei zusammenzuarbeiten. Sie haben mit uns protestiert, zusammen mit den Leuten, die den Aufstand unterstützten, Anarchisten und Basisgewerkschaften. Eine andere Partei der Linken bot Kuneva einen Platz auf ihrer Kandidatenliste für das EU-Parlament an, aber sie lehnte auch dieses Angebot ab. Und in den Arbeiterdemonstrationen gab es ebenfalls gewalttätige Konflikte, Angriffe auf Banken, Scharmützel mit der Polizei. Der Aufstand bot eine Grundlage, Anarchisten, Antiautoritäre und Autonome enger mit kampfbereiten Arbeitern zusammenzubringen.
Im Verlauf der Tage gingen die Ausschreitungen weiter, aber nicht so heftig wie zuvor. In Exarchia und dem Polytechnikum fuhren die Leute mit den Unruhen fort. Eine Woche nach dem Mord gab es ein Treffen an dem Ort, wo Alexis getötet wurde. Alle Anarchisten gingen hin und wir starteten eine Straßenschlacht. Es gab einen Angriff auf einen Polizeibus und auf die Polizeiwache von Exarchia und dann gingen die Kämpfe die ganze Nacht weiter, rund um das Polytechnikum herum. Einige Anarchisten der Universitätsbesetzung meinten, wir sollten zu einem Großmarsch aufrufen. Bis dahin war keine der Demonstrationen von Anarchisten einberufen worden. Wir glaubten, daß wir zu einem zentralen Marsch mobilisieren sollten, um – wie schon durch die Besetzung des Polytechnikums – eine politische Botschaft an den Staat, aber auch an die Gesellschaft zu richten, darüber, was wir sind und was wir wollen. Sie sollte zeigen, daß der Aufstand sich nicht nur aus Wut speist, sondern auch politische Ziele verfolgt. Wir hatten nicht vor, den gesamten Aufstand zu repräsentieren, sondern wollten ein deutliches politisches Statement einer seiner wichtigsten, seine Ziele und Vorschläge unterstützenden Gruppen abgeben. Aber wir stießen bei vielen Genossen außerhalb und innerhalb der Besetzung auf Widerspruch. Wir befanden, daß diesem Vorschlag nicht genug Leute geneigt seien. Es war keine Frage der Anzahl, sondern der Synthese. Wir merkten, daß wir schlechterdings nicht die Initiative ergreifen konnten, solange wir nur einen so kleinen Teil der anarchistischen Bewegung ausmachten. Wenn wir auf die Straße gegangen wären, wären Tausende gekommen, aber wir wollten diese Rolle nicht monopolisieren, auch wenn wir glaubten, es wäre richtig gewesen. Und so passierte es nicht.
Während der Diskussion im Polytechnikum wurde unser Vorschlag von einem anderen geschluckt: Es wurde zu einem weltweiten Aktionstag gegen Polizeigewalt aufgerufen. Die Versammlungen des Polytechnikums und der ASOEE nahmen diesen Aufruf für den zweiten Samstag nach Alexis Ermordung an. Am 20. Dezember fanden in mehr als vierzig Ländern und über 100 Städten Proteste und Aktionen statt. Es war nicht der erste Tag, an dem es außerhalb von Griechenland solche Vorkommnisse gab. Vom ersten Tag des Aufstandes begann die Sache auch in anderen Ländern. Es gab Botschaftsbesetzungen oder Demonstrationen in Deutschland, London, Frankreich. Die ASOEE-Besetzung rief für diesen Morgen zu einer Demonstration und die Polytechnikum-Besetzung zu einer nächtlichen Versammlung am Tatort auf.
So begannen wir am 20. Dezember sehr gewalttätige Kämpfe, die sich einmal mehr zum Polytechnikum hin ausdehnten. Diese Nacht hatten wir nicht die Tausende, die wir zwei Wochen zuvor hatten, aber alle Anarchisten waren gekommen und sie waren vorbereitet. Ich erwähne das deshalb, weil es das erste Mal war, daß wir die Initiative übernahmen und die Entscheidung trafen, zu einer vorab gut geplanten Offensivaktion zu blasen. Wir hielten nicht einfach irgendwo eine Demonstration ab oder zogen in einer spontan gebildeten Gruppe zum Randalieren los. Dieses Mal entschieden wir uns für Folgendes: Wir wollten uns zu einer Bewegung vereinigen, um dann in die Offensive zu gehen. Und diese Nacht redete der Staat zum ersten Mal über die Aufhebung des Asyls und die Eroberung des Polytechnikums. Es war der letzte Tag mit gewalttätigen Massenkämpfen. Sie konnten die spontanen Kämpfe dulden, waren aber ungewillt, irgend etwas Vorausgeplantes dieser Größenordnung zuzulassen. Es war ein öffentlich angekündigter Angriff und sie wollten das nicht tolerieren. Also begannen sie eine Menge Debatten und Propaganda über die Eroberung des Polytechnikums und die Aufhebung des Asyls. Aber sie haben sie nicht vollzogen, sie konnten es politisch noch nicht verkaufen und ich weiß nicht, ob sie nun bereit sind oder ob sie es jemals sein werden. Auch, weil sie vor der Schlacht Angst hatten; der Einmarsch wäre nicht ohne Blutvergießen abgelaufen.
Nach dieser Nacht haben sie das Asyl aufgehoben und angekündigt, daß sie jederzeit einfallen könnten; wenn es mehr Angriffe geben würde, würden sie einfallen. Es war eine psychologische Taktik. Schon davor hatten wir uns entschieden, am Dienstag ein Konzert abzuhalten, und trotz des Regierungsdrucks fuhren wir mit diesen Plänen fort, wandelten dabei aber das Konzert in eine Antwort auf die Regierungsdrohungen um. Wir taten das gegen die Meinung einiger Genossen, die sagten, viele wären physisch schon völlig am Ende. Es gab Leute, die nicht verstanden, daß unserer Stärke nicht in unserer Anzahl innerhalb der Besetzung bestand, sondern in der sozialen Bedeutung der Besetzung. Außerdem wollten viele Genossen keinen zentralen Marsch, weil sie Angst vor der Repression hatten. Sie konnten nicht verstehen, daß nicht mehr nur einige Anarchisten gegen den Staat aufbegehrten, sondern, daß das, was wir taten, von vielen Menschen begeistert aufgenommen wurde. Wir würden nicht alleine bleiben.
Also hielten wir das Konzert ab und zwei Tage später, einen Tag bevor wir das Ende der Besetzung angesetzt hatten, kamen einige Professoren zur Versammlung und erzählten uns, die Polizei sei zum Überfall bereit und würde in einer Stunde anrücken. Das war bereits einmal passiert, am Sonntag nach dem Angriff, dem 21. Dezember. Wir ignorierten die Warnung. Am nächsten Tag wurde sie wiederholt und diesmal haben sie wirklich versucht, uns unter Druck zu setzen – die Linken, die Professoren, die Anwaltsvereinigung, alle haben Druck auf uns ausgeübt und darauf gewartet, daß die Polizei das Polytechnikum stürmt. Wir meinten, es sei ein psychologisches Spiel. Sie wußten, daß wir nicht gehen wollten und daß wir interne Konflikte über diese Frage hatten, die sie politisch ausnutzen wollten. Sie wollten hinterher sagen können, daß sie uns unter Druck gesetzt hätten und wir deshalb herausgekommen wären, daß sie gewonnen hätten. Als Antwort auf diesen Druck beschlossen wir, länger zu bleiben. Noch dieselbe Nacht, während der Versammlung, erstellten und veröffentlichten wir ein Flugblatt mit nur einigen wenigen Worten, die mitteilten, daß sie nicht durchkommen würden, daß wir sie nicht das Polytechnikum einnehmen lassen und nicht aufgeben würden. Nur zehn Minuten nachdem wir diese Schrift auf Indymedia gepostet und über das anarchistische Radio verlesen hatten, kamen die Professoren wieder und sagten: Gut, Jungs, entschuldigt, die Information war falsch. Der Minister hat uns inständig gebeten, die Besetzung zu beenden. Und wir antworteten: Gut, wenn der Premierminister uns anruft und bettelt, werden wir die Sache vielleicht diskutieren.
Ein wichtiges Charakteristikum der Besetzungen war, von der Gewalt mal abgesehen, daß sie einem anarchistischen Modell folgten. Kein Organ konnte Entscheidungen für die Besetzung fällen, außer der Vollversammlung. Das war keine Studentenversammlung, vielmehr trafen sich dort alle, die an der Besetzung und den Auseinandersetzungen teilnahmen. Nehmen wir die Besetzung der Fakultät für Architektur des Polytechnikums. Sie hatte ihre eigene Versammlung und unterstützte die allgemeine Besetzung, aber sie hatte über die Besetzung als Ganzes keine Entscheidungsbefugnis. Die unterschiedlichen Fakultäten waren nicht getrennt. Einige linke Studenten versuchten, die Fakultäten zu spalten, und in der ersten Woche versuchten wir, mit ihnen zusammenzuarbeiten, ihnen Raum für eigenen Aktivitäten zu geben, aber sie versuchten weiter, die Vollversammlung zu umgehen, und Teile des Polytechnikums für sich alleine zu besetzen, um es unter der Hand wie einen Kuchen aufzuteilen. Natürlich wurden sie hinausgeschmissen.
Nach den ersten Tagen des Aufstandes meinten wir, daß die Besetzung eine andere Rolle einnehmen muß. Sie solle ein Zentrum für Gespräche, Diskussionen und für die Verbreitung von Ideen sein. Wir erstellten einige Flugschriften und Plakate, hatten aber nicht die Zeit und Kraft, sehr viel zu machen, da wir sehr müde waren. Eine Hand voll Leute hielt die Besetzung Tag und Nacht am Laufen und wir hatten viel zu tun. Wenn man diese Umstände berücksichtigt, haben wir viel publiziert und genauso die anderen Anarchisten der ganzen Stadt. Am Ende der ersten Woche öffneten wir den Speisesaal der Universität. Er war neu und daher eine sehr luxuriöse Einrichtung. Wir öffneten ihn und begannen, jeden Tag für alle zu kochen. Wir benutzten ihn, um den Kampf zu ernähren, jeden Tag. Eine Gruppe arbeitete dort. Wir hatten Köche und andere Leute, die aufräumten. Ich beispielsweise habe nicht gekocht, sondern abgespült. So hatten wir jeden Tag Essen für alle, nicht nur die Leute, die in der Besetzung lebten. Arme Leute kamen – einfach, um zu essen. Um den Bestand des Restaurants zu halten, bildeten wir jeden Tag Gruppen von dreißig Menschen, die in Supermärkte gingen, die Einkaufswägen füllten und das Essen nahmen. Auch andere Dinge wie Feuerlöscher und Musikanlagen wurden enteignet.
Das war wichtig, denn dieses Mittel, die Möglichkeit, uns selbst zu ernähren, beeinflußte unsere Lebensbedingungen. Es war wie eine Gebärmutter der Welt, die wir innerhalb des Aufstandes schaffen wollten. Aber es gab auch Menschen, die kamen um die Nahrungsmittel der Besetzung zu klauen. Ich will keinen schlechten Eindruck vermitteln, aber es ist richtig, dies einzugestehen, da es unsere Entscheidung war, sich mit allen Aufbegehrenden zu vermischen und unter all diesen Leuten, die da zusammenkamen, waren viele, die die Sitten des Feindes mit sich herumtrugen. Es gab Leute, die wollten Handys und Computer klauen, um sie für Geld zu veräußern. Im Prinzip habe ich damit keine Probleme, aber wenn es innerhalb eines Aufstandes passiert, bringt es diesen nicht voran. Nachdem einige Leute nur zum Klauen gekommen waren, beendigten wir dieses Phänomen nach dem zweiten oder dritten Tag. Wann immer jemand danach den Campus mit gestohlenen Gegenständen betreten wollte – es gab Leute, die kistenweise Diebesgut anschleppten, Computer und andere Sachen – ließen wir sie nicht herein, es sei denn sie übergaben uns die Gegenstände, die wir dann ins Feuer schmissen. Wir teilten ihnen mit: Entscheide dich: du oder dein Computer.
Ich denke, die Menschen waren bereit, bis zu ihren persönlichen Grenzen zu gehen. Die Ziele der Aufrührer waren unbegrenzt; sie wollten den Umsturz des Staates oder wenigstens die Vernichtung der Polizei. Wenn sie Mittel hatten, um den Angriff voranzutreiben, so haben sie sie in der Regel auch benutzt, viele von ihnen. Sie kämpften, bis sie körperlich am Ende waren. Die Polizei hat uns nicht aufgehalten. Wir haben die Sache beendigt. Aber es gab zahlreiche außerhalb liegende Beschränkungen. Eine war, daß es uns nicht gelang, unsere eigene Welt auszubilden. Ich glaube nicht mehr, daß wir die Welt in einer Nacht ändern werden. Ich bin kein Pazifist, aber ich glaube jetzt, wie wir es auf den Versammlungen des Polytechnikums gesagt haben, daß wenn die Revolution jetzt nicht ausbricht, wenn wir diesen Aufstand nicht zu einer richtigen Revolution verdichten können, so nicht, weil wir keine Macht dazu hätten, sondern weil wir noch keine eigene Welt haben. Daran arbeiten wir jetzt. Die Wahrheit ist, daß wir bereits in der ersten Woche über Revolution debattiert hatten. Es mag vielleicht sehr romantisch, sehr fiktiv erscheinen, aber nachdem wir die Möglichkeiten des Kampfes gesehen hatten, wußten wir, daß Revolution eine offene Aussicht, eine mögliche Zukunft darstellte. Wir waren zu allem bereit und ich bin mir nicht sicher, ob sie uns stoppen hätten können, selbst mit dem Militär.
Ich glaube, es wäre für den Staat ein sehr ernstes Problem geworden, die Armee zu mobilisieren. Irgendwo habe ich gelesen, ich weiß nicht, ob es wahr ist, daß die Generäle der Regierung mitteilten, daß die Armee in diesem Augenblick nicht bereit war, eine solche Verantwortung zu tragen, und daß sie die Armee verlieren würden, wenn sie den Angriff befählen. Einen offenen Krieg zu führen, ist für eine Demokratie problematisch. Er mag im unmittelbaren Augenblick sehr effizient sein, wenn man den Konflikt rein militärisch sieht, aber er würde der Beherrschung der Gesellschaft durch den Staat die Grundlage entziehen, dem gesellschaftlichen Zusammenhalt, der inneren Bindung etwa zwischen Gesellschaft und demokratischer Kontrolle. Besonders in Griechenland. In Italien haben sie z.B. eine faschistische Tradition, mit Einsätzen des Militärs im Inneren. Das wird nicht vollständig durch die italienische Gesellschaft abgelehnt. Auch wir haben eine Tradition der Diktatur, eine nationalistische Bewegung. Aber die Diktatur war nicht beliebt und im Allgemeinen ist der Eingriff der Armee ins politische und soziale Leben für die griechische Gesellschaft nicht legitim.
Es gibt viele Faktoren, die dem Aufstand zur Geburt verhalfen, Faktoren, die weit in die Vergangenheit reichen. Warum ist es zum Beispiel überhaupt in Griechenland passiert? Warum besitzen die griechischen Anarchisten jetzt wie vor dem Aufstand so viel Handlungsfreiheit. Warum ist für die Leute hier der Schritt zur Gewalt so einfach. Die griechische Geschichte spielt hier eine wichtige Rolle. Im vergangenen Jahrhundert, nach dem zweiten Weltkrieg, hatten wir eine Guerillabewegung, die nie aufgegeben hat. Der Bürgerkrieg hat nicht mit Verhandlungen und Friedensverträgen zwischen den Kommunisten und Nationalisten geendet, wie in Italien. Hier gab es einen fortwährenden Bürgerkrieg, dessen Geist in anderer Form auch nach seiner Beendigung fortweste. Der Geist des Bürgerkrieges ist aus Griechenland nie verschwunden und in dieser Periode waren gewalttätige Auseinandersetzungen immer legitim. Es gab immer aufbegehrende Menschen, nicht nur aktive Anarchisten und Revolutionäre, sondern große Teile der griechischen Gesellschaft. Hier sind Kämpfe akzeptiert. Das ist ein Faktor. Es gibt eine lebendige Tradition, die von einer zu anderen Generation weitergereicht wird und sich in neuen Formen ausdrückt.
Ein anderer Faktor besteht darin, daß die anarchistische Bewegung Griechenlands sehr jung ist. Es gab griechische Anarchisten zu Beginn des 20. Jahrhundert, aber sie wurden alle von den Kommunisten unterdrückt und verschwanden. Die jetzige Bewegung begann nach den 70ern. Sie war von Anfang an mit der Gesellschaft verbunden, sie bestand nicht nur in einer geschlossenen Ideologie oder war nur eine philosophische Alternative. Sie barg die Tradition des Kampfes und der Gewalt, die Tradition der griechischen Gesellschaft, die Tradition der Anarchisten, der direkten Aktion und gleichfalls einen starken Drang, die Revolte, die direkte Aktion und die Selbstorganisierung in die ganze Gesellschaft auszubreiten. Jahr für Jahr schuf sie dieses Potential. Viel Arbeit wurde die Jahre zuvor getan; es gab vielfältige Methoden, Stadteilpolitik, gewalttätige Kämpfe gegen den Staat, alles. Das hat diese Einheit hergestellt, diese Synthese.
In den 80ern, den ersten Jahren einer organisierten anarchistischen Bewegung in Griechenland, riefen die Anarchisten zu Demonstrationen und gewalttätigen Märschen auf, aber als am Ende des Jahrzehnts die in den 80ern Aktiven wegen der Repression und aus anderen Gründen herausfielen, gab es eine große Veränderung. In den 90ern waren die Anarchisten nicht besonders zahlreich, sie organisierten normalerweise nicht viele Demonstrationen und viele nahmen auf Seiten der Linken an Protesten teil. Aber Ende der 90er schlossen sich mehr Menschen der anarchistischen Bewegung an und diese neue Generation begann, sich längerfristig involvieren. Die erste Generation war verloren, sie sind gegangen, aber die mit uns die Kämpfe der 90er lostraten, sind immer noch auf der Straße. Die Bewegung beginnt, Geschichte zu schreiben. Die Gründe für diese Verschiebung liegen meiner Meinung nach in den deutlicheren, politischen Vorstellungen.
Seit dem Ausbruch des Dezemberaufstandes, seit Montagnacht, ergriff der Staat außerordentliche Maßnahmen, um die Mitglieder der Regierung zu schützen. Die Minister haben bewaffnete Eskorten zur Seite gestellt bekommen und wurden in Verstecke geschickt. Einige Armeeeinheiten wurden in Alarmbereitschaft versetzt. Sie waren bereit, in die Stadt einzumarschieren, wenn es nötig würde. Sie hatten mit Gummigeschossen ausgerüstete Soldaten. Die Athener Bullen schossen bereits mit Gummigeschossen, aber das war nicht neu. Vor einem Jahr wurde ich in einer Straßenschlacht nahe Exarchia mit Gummigeschossen beschossen. Wir wissen, daß die Offiziere in einigen Armeeeinheiten Propaganda unter den Soldaten gemacht haben, die sie psychologisch auf ihren Einsatz gegen den Aufstand vorbereiten sollte. Es gibt Gerüchte, daß sie das Militär geschickt hätten, wenn die Straßenkämpfe noch weitere drei Tage weitergegangen wären. Aber wir auf der Straße Kämpfenden hatten weder Angst noch haben wir dies als ein mögliches Ende des Aufstandes diskutiert. Natürlich war niemand der Aufständischen für einen Kampf mit einer bewaffneten Macht bereit, aber keiner ging mit dem Gefühl auf die Straße, daß es einen Punkt gab, den wir nicht überschreiten konnten, daß da irgendwelche Grenzen wären. Wir haben einfach gekämpft und waren zu allem bereit. Und das ist der Geist der Revolte.
Pavlos und Irina: Zwei Anarchistinnen, die an der Besetzung des Polytechnikums teilnahmen