„Kleineres Übel“ (II): Elend des Antifaschismus mit dem Stimmzettel
Die faschistische Gefahr kann nicht durch die Verteidigung des demokratisch-kapitalistischen status quo gebannt werden, der diese Gefahr erst hervorbringt
Angesichts der geringen Halbwertszeit seiner sozialen Versprechungen ist die Euphorie des linken Reformismus meist nur von kurzer Dauer. Es ist aber in jüngster Zeit auch weniger die Hoffnung auf Verbesserung, als vielmehr der Wunsch, das Schlimmste zu verhindern, der teilweise selbst hartgesottene Demokratieverächter an die Wahlurnen treibt. Angesichts des Aufstiegs von AfD, Trump und Le Pen fragen viele: Sind die etablierten Parteien im Vergleich mit dem Rechtspopulismus nicht doch das „kleinere Übel“? Sollten wir in dieser Situation nicht zumindest zeitweilig die grundsätzliche Herrschaftskritik beiseite lassen und uns im Bündnis mit allen demokratischen und antifaschistischen Kräften auf die Bekämpfung der faschistischen Gefahr konzentrieren?
Sehen wir uns zunächst an, was diese autoritären bis faschistischen Bewegungen eigentlich ausmacht. Prägend für diese ist nicht so sehr ihre Liebe für Vaterland, Familie und Religion, die sie gerne vor sich hertragen, als vielmehr ihr Hass auf Flüchtlinge, „Asoziale“, selbstbewusste Frauen, Ungläubige, Politiker, die angeblich nationale Interessen verraten usw. Woher kommt dieser Hass? Seine Wurzel liegt in den realen Widersprüchen der liberal-kapitalistischen Ordnung. Anstatt diese jedoch zu erkennen und die für sie verantwortlichen Institutionen und Verhältnisse anzugreifen, projizieren Autoritäre und Faschisten ihre Wut auf Ersatzobjekte, denen sie die Schuld an ihrem Unglück geben. Anstatt z.B. die neoliberale Deregulierung der Arbeitsverhältnisse für die zunehmende Unsicherheit ihres Lebens verantwortlich zu machen, meinen sie, dass die neu in ihre Stadt gekommenen Fremden ihre Sicherheit gefährden. Anstatt als Grund für ihre Einflusslosigkeit die offensichtliche Macht der Politiker und Konzerne zu sehen, suchen sie nach vermeintlichen Verschwörungen der Illuminati oder des Weltjudentums, die hinter den Kulissen die Fäden ziehen. Anstatt sich die Gewalt bewusst zu machen, die sie sich selbst antun müssen, um den herrschenden Geschlechterrollen zu entsprechen, hassen sie Schwule, Lesben und andere queere Menschen, die daran erinnern, dass es auch ein Leben jenseits dieser Normen geben kann.
Der Grund für solche Projektionen ist weniger ein Mangel an Information, als vielmehr ein Mangel an Mut und praktischer Solidarität, um die tatsächlichen Herrschaftsverhältnisse anzugreifen. Nehmen wir als Beispiel einen Büroangestellten, dem der Arbeitsstress zunehmend die Luft zum Atmen raubt. Er hat eine unheimliche Wut im Bauch; insgeheim würde er am liebsten seinen Monitor aus dem Fenster werfen, dem Chef ins Gesicht springen oder allen den Stinkefinger zeigen und sich nach Jamaika absetzen. Seine Situation lässt es jedoch wenig ratsam erscheinen, derartigen Gelüsten nachzugeben: Schließlich hat er eine Familie zu ernähren und muss den Kredit für das neu gekaufte Haus abbezahlen. Leider gibt es in seinem Betrieb auch keinerlei Solidarität der Beschäftigten untereinander, die eine kollektive Antwort auf die Zumutungen ihres Arbeitgebers ermöglichen würde. So ist es einfacher, sich mit dem Unternehmen und seinen Anforderungen zu identifizieren, die Wut gegen den Chef runter zu schlucken und stattdessen über die Flüchtlingsinvasion zu schimpfen oder zuhause gegenüber Frau und Kindern den Macker raushängen zu lassen, um die eigene Ohnmacht auf der Arbeit zu kompensieren. Selbstverständlich ist der ganze psychologische Mechanismus dem Betroffenen nicht bewusst, sonst würde er nicht funktionieren. Und es ist auch klar, dass wir den Büroangestellten allein durch vernünftige Argumente schwer von seinem Hass auf Flüchtlinge werden abbringen können, da dieser für ihn eine wichtige psychologische Funktion erfüllt.
Die Gruppen, die zur Zielscheibe des autoritären Volkszorns werden, sind im Prinzip austauschbar und ändern sich auch von Zeit zu Zeit. Dass dabei jedoch auf bestimmte Bilder und Vorurteile besonders gern zurückgriffen wird („der faule Südländer“, „der raffgierige Jude“; „der triebgesteuerte Schwarze“ usw.), hängt mit den rassistischen Traditionen der jeweiligen Kultur zusammen.
Als politische Strategie propagieren autoritäre Bewegungen eine Verschärfung der Herrschafts- und Ausschlussmechanismen, die auch die liberale Demokratie prägen: Sie wollen Ausländer nicht als billige Arbeitskräfte ausbeuten, sondern lieber ganz aus dem Land rausschmeißen, Schwule durch die Straßen jagen, anstatt sie bei der gay parade als bunte Vögel zu begaffen, Bürgerrechte einschränken, damit der Staat tatsächliche oder vermeintliche Gegner noch ungehinderter verfolgen kann, andere Länder nicht nur wirtschaftlich niederkonkurrieren, sondern ihnen auch militärisch den eigenen Willen aufzwingen und dergleichen mehr. Ob solche Bewegungen an Einfluss gewinnen oder gar die Macht im Staat übernehmen, hängt jedoch nicht nur von der Verbreitung autoritärer Denkweisen bei Teilen der Bevölkerung ab, sondern auch davon, ob es innerhalb der politischen und wirtschaftlichen Eliten Fraktionen gibt, die an einem autoritären Umbau des Staates interessiert sind – z.B. weil sie sich erhoffen, dadurch ihre Herrschaft unbeschadet durch Krisensituationen zu bringen.
Sollten Kräfte wie der Front National in Frankreich oder die AfD in Deutschland an die Regierung kommen, würde das zweifellos eine Verschlechterung der Lebensbedingungen für viele Menschen bedeuten. Insbesondere Angehörige der von den Autoritären als Sündenböcke für ihr Unglück auserkorenen Minderheiten wären in unmittelbarer Gefahr. Sollte sich eine autoritäre Herrschaft festigen, würden die Handlungsmöglichkeiten für Anarchisten und andere für eine freie Gesellschaft kämpfende Menschen stark eingeschränkt. Die Frage ist also, wie eine solche Gefahr am besten zu bekämpfen ist. Wenn unsere Hypothese stimmt, dass faschistisches Denken eine falsche Reaktion auf reale Widersprüche der liberal-kapitalistischen Ordnung ist, so ist es eine schlechte antifaschistische Strategie, eben diese Ordnung zu verteidigen. Vor Kurzem hat der liberale Kandidat Macron die französische Präsidentschaftswahl gewonnen – wobei sicher viele Wähler ihm nur ihre Stimme gegeben haben, um die Faschistin Le Pen zu verhindern. Fünf Jahre wird der neue Präsident nun im Amt sein. Das bedeutet: Fünf weitere Jahre liberale Ideologie, die den Leuten weismachen will, alle könnten es in dieser Gesellschaft zu etwas bringen, wenn sie sich nur genügend anstrengen. Von den Vielen, die entgegen dieser Ideologie scheitern werden, obwohl sie sich anstrengen, werden sich sicher einige an die Parolen des Front National erinnern, der schon immer gesagt hat, dass Araber und Moslems schuld sind, wenn die Lebensverhältnisse der eingeborenen Franzosen sich verschlechtern. Unter Macron wird die kapitalistische Konkurrenz um Jobs und Wohnungen nicht weniger werden; im Gegenteil, der liberale Hoffnungsträger hat bereits Reformen angekündigt, um das Land international wettbewerbsfähiger zu machen – und so werden auch die Rufe nach dem autoritären Staat nicht abnehmen, der die „echten“ Franzosen vor der Konkurrenz beschützt und alle anderen rigoros ausschließt. Gut möglich, dass Le Pen in fünf Jahren noch mehr Stimmen bekommt als bei der letzten Wahl. Die bestehende Gesellschaft mit ihren Krisen ist der Nährboden, auf dem faschistisches Denken gedeiht – daher die Hilflosigkeit des bürgerlichen Antifaschismus.
Was wirklich gegen den Faschismus hilft, wäre dagegen eine Bewegung, die die Übel dieser Gesellschaft an ihrer Wurzel angreift. Wenn das Erfolgsrezept der Faschisten darin besteht, falsche, scheinbare Auswege aus den Widersprüchen des Kapitalismus anzubieten, müssen wir wirkliche Lösungen vorschlagen, um sie zu stoppen. Es hilft also gerade nicht, wenn radikal herrschaftskritische Gruppen ihre Ideen verleugnen, um gegenüber bürgerlichen Kräften „bündnisfähig“ zu werden – im Gegenteil, sie müssen diese Ideen so deutlich formulieren und so breit streuen, wie dies nur irgend möglich ist. Der oben erwähnte Büroangestellte könnte wohl nur von seiner Fremdenfeindlichkeit abgebracht werden, wenn er selbst erlebt, dass er wirksam gegen erdrückende Arbeitsverhältnisse kämpfen kann, indem er sich mit ausländischen Kollegen verbündet, anstatt sich gegen diese aufhetzen zu lassen. Gegen die Furcht, Ausländer könnten uns die Jobs wegnehmen, hilft am effektivsten eine Bewegung, die unserer Abhängigkeit von der kapitalistischen Ökonomie und ihren verdammten Jobs praktisch den Kampf ansagt. Den scheinbar rebellischen, in Wirklichkeit aber die Herrschaft stabilisierenden Verschwörungstheorien wird nur etwas entgegensetzen, wer wirkliche Verschwörungen gegen die Herrschaft ausheckt. Es geht darum, einen Zustand zu beenden, in dem Faschisten – oder in islamischen Milieus auch Jihadisten – die einzigen zu sein scheinen, die den status quo radikal herausfordern.