Aber was wollt ihr dann?
Unser Ziel ist die klassen– und staatenlose Weltgesellschaft.
Die Leserin und der Leser, die unserem Gedankengang bis hierher gefolgt sind, werden sich möglicherweise denken: Eure Kritik an der bestehenden Gesellschaft mag ja durchaus berechtigt sein – aber wodurch um alles in der Welt wollt ihr sie ersetzen? – Die folgenden Überlegungen versuchen auf diese Frage zumindest in groben Zügen zu antworten. Sie sind dabei nicht als Blaupause zu verstehen, die nur darauf wartet, in die Realität übertragen zu werden. Es liegt im Wesen einer freien Gesellschaft, dass deren konkrete Verkehrsformen nicht im Voraus festgelegt, sondern nur von den Menschen bestimmt werden können, die sie aufbauen. Andererseits ist es absolut notwendig, hier einige Hinweise zu geben, denn die Unfähigkeit, sich eine nicht von Staat und Kapital organisierte Gesellschaft vorzustellen, ist eines der Haupthindernisse beim Versuch, die bestehende Misere zu überwinden. In diesem Kapitel wird der russische Anarchist Peter Kropotkin ausführlich zu Wort kommen, der die Grundzüge einer herrschaftsfreien Gesellschaft in prägnanter und schöner Form dargelegt hat. Auch wenn dieser Revolutionär bereits im 19. Jahrhundert lebte, haben seine Gedanken nicht an Aktualität eingebüßt.
Über die Diskussionen unter den Menschen, die sich nach einer freien Gesellschaft sehnen, schreibt Kropotkin:
Neue Bestrebungen entstehen, neue Ideen beginnen sich zu entwickeln. Die Meinungen kreuzen sich und wechseln ins Unendliche; aber zwei Hauptideen tönen bereits immer deutlicher aus diesem Stimmengewirr heraus: die Abschaffung des Eigentums, der Kommunismus einerseits; und andererseits die Abschaffung des Staates, die freie Gemeinde, die internationale Vereinigung der arbeitenden Bevölkerung.
Diese beiden „Hauptideen“ ergeben sich aus der Kritik der bestehenden Gesellschaft: Wenn der Staat und die bürgerliche Eigentumsordnung als Verursacher der bestehenden Unfreiheit ausgemacht wurden, so ist es logisch, dass die Freiheit nur durch deren Überwindung erreicht werden kann.
Wichtig ist dabei, dass diese Ideen zusammen realisiert werden müssen, um wirklich eine freie Gesellschaft zu erschaffen. „Jede Gesellschaft, die mit dem Privateigentum gebrochen hat, wird nach unserer Meinung gezwungen sein, sich in anarchistisch-kommunistischer Form zu organisieren. Die Anarchie führt zum Kommunismus, und der Kommunismus zur Anarchie“. Wenn Kropotkin von „Kommunismus“ spricht, so meint er damit nicht eine autoritäre Parteiherrschaft, die heute die meisten Menschen mit diesem Begriff verbinden. Kommunismus ist nicht die DDR oder die Sowjetunion. Im Gegenteil, der Kommunismus wäre ein „Verein freier Menschen“ (Karl Marx), in dem die Gütergemeinschaft die Abschaffung jeder hierarchischen Macht mit einschließt. Umgekehrt, wenn Kropotkin von der „Abschaffung des Staates“ – der Anarchie – spricht, so meint er damit nicht den blutigen Kampf aller gegen alle, der heute landläufig mit dem Begriff verbunden wird. Im Gegenteil: Anarchie bedeutet Ordnung ohne Herrschaft, und diese kann nur erreicht werden, wenn zugleich mit der hierarchischen Macht das Eigentum abgeschafft wird, dass die Menschen voneinander trennt und in Konkurrenz zueinander setzt.
Aber was würde die Verwirklichung dieser beiden „Hauptideen“ konkret bedeuten? Sehen wir uns zunächst die Abschaffung des Eigentums genauer an:
Die Idee ist, dass Arbeiterorganisationen für Produktion, Austausch und Verteilung die Stelle der bestehenden kapitalistischen Ausbeutung und des Staates einnehmen werden. Dabei werden alle Güter sofort beim Beginn der sozialen Umwälzung in die unentgeltliche Nutznießung aller übergehen. Nehme jeder aus den Vorräten, was er nötig hat, und halten wir uns versichert, dass die Kornläden unserer Städte genug Nahrungsmittel enthalten, um alle bis zu dem Tage zu speisen, an welchem die freie Produktion ihren Anfang nehmen wird. In den Kleidermagazinen der Städte ist Vorrat genug, um alle zu bekleiden. Ja sogar genügend Luxusgegenstände sind vorhanden, um jedermann nach seinem Geschmacke Auswahl zu gestatten.
Die Produktionsmittel sollen also in die Hände der Produzenten übergehen und jede und jeder dürfte sich von den gemeinsam erzeugten Gütern nehmen, was immer das Herz begehrt. Die Verwirklichung dieser zunächst unmöglich anmutenden Idee wird unterstützt durch die ungeheure Entwicklung der Produktivkräfte, die – heute noch viel mehr als zu Kropotkins Zeiten – ein Leben in Wohlstand für alle Menschen jederzeit ermöglichen würde, sofern diese nicht länger durch die Schranken des Eigentums von den Dingen getrennt wären, die sie brauchen.
Es ist klar, dass die kommunistische Umwälzung nicht bei der Verteilung der Güter haltmachen, sondern auch die Produktion von Grund auf umgestalten würde. Wenn wir nicht mehr für den Profit der Unternehmen, sondern für die Bedürfnisse unserer Gemeinschaften produzieren würden, so gäbe es eine Menge Arbeiten, die sofort eingestellt werden könnten, weil sie wesentlich der Aufrechterhaltung der alten Ordnung dienen (Gefängnisse, Grenzzäune, Supermarktkassen, Banken, Polizei und Militär usw.). Andere Bereiche müssten gründlich reformiert werden, um einerseits die Zerstörung unserer natürlichen Lebensgrundlagen zu stoppen und andererseits den Bedürfnissen eines freien und gemeinschaftlichen Lebens angepasst zu werden (Verkehrswesen, Energiegewinnung, Landwirtschaft, Städtebau usw.). Wenn wir nicht mehr nach den Anweisungen irgendwelcher Chefs, sondern unter eigener Regie arbeiten würden, ist auch davon auszugehen, dass nicht mehr allein die möglichst effiziente Erzeugung eines bestimmten Endprodukts zählen würde, sondern wir den Arbeitsprozess so umgestalten würden, dass er den Beteiligten Spaß macht und ihre Kreativität und Fähigkeiten entfaltet anstatt sie abzustumpfen.
Wie aber soll das Zusammenleben der Menschen organisiert werden, wenn der Staat abgeschafft ist? Der Grundgedanke besteht darin, dass das Prinzip von Befehl und Gehorsam in allen gesellschaftlichen Beziehungen durch das Prinzip der freien Vereinbarung zwischen einander gleichgestellten Individuen und Gruppen ersetzt wird. An die Stelle hierarchischer Institutionen tritt ein Netzwerk verschiedenster Zusammenschlüsse ohne ein übergeordnetes Machtzentrum:
Dieses Geflecht zergliedert sich in eine Vielheit von Assoziationen, die sich zu allen gemeinsame Arbeit erfordernden Zwecken zusammenschließen: zu Bünden zum Zwecke der Produktion jeder Art, der landwirtschaftlichen, industriellen, rein geistigen oder künstlerischen; zu Konsumgemeinden, die für Wohnungen, für Beleuchtung und Heizung, für Nahrungsmittel, sanitäre Einrichtungen usw. Sorge tragen. Alle diese Gruppen wirken in freier gegenseitiger Vereinbarung zusammen.
Wichtig ist, dass die angestrebte Umwälzung allen Herrschaftsverhältnissen den Kampf ansagen muss, auch solchen, die nicht auf Kapital und Staat zurückgeführt werden können. So existierte z.B. das Patriarchat, das ungleiche Verhältnis der Geschlechter, lange bevor der Kapitalismus und der moderne Staat die Bühne der Geschichte betraten. Es wird mit der Umwälzung der Eigentumsverhältnisse nicht „automatisch“ verschwinden, sondern eines gesonderten Kampfes bedürfen, um auch diese Jahrtausende alte Unterdrückung zu beenden.
Des Weiteren betont Kropotkin die internationale, ja weltweite Dimension der angestrebten Umwälzung:
Die kommende Revolution wird einen allgemeinen Charakter haben, welcher sie von allen früheren Revolutionen unterscheiden wird. Es wird nicht mehr ein Land sein, welches sich in die Umwälzung stürzt, sondern es werden alle Länder sein. […] Der Mensch begreift mehr und mehr, dass das Glück des vereinzelten Menschen nicht möglich ist; dass dasselbe nur im Glück aller – im Glück der ganzen Menschheit – gesucht werden kann.
Neben der Tatsache, dass regionale Autarkie (Selbstgenügsamkeit) heutzutage auf wirtschaftlichem, kulturellem und wissenschaftlichem Gebiet weder möglich noch wünschenswert wäre, ist die Notwendigkeit einer weltweiten Revolution vor allem durch die Erfahrung bedingt, dass lokal begrenzte herrschaftsfreie Experimente längerfristig in einer feindlichen Umwelt kapitalistischer Staaten kaum überleben können.
Angesichts des weit gespannten Ziels der Weltrevolution könnte der Eindruck entstehen, Anarchisten predigten das Abwarten auf ein fernes Paradies und meinten, dass vor dem Tag der großen Umwälzung keine Veränderung der gesellschaftlichen Beziehungen möglich sei. Das Gegenteil ist der Fall: Wir halten es für absolut möglich und notwendig, bereits im hier und jetzt mit Versuchen des herrschaftsfreien und gemeinschaftlichen Lebens anzufangen. Anarchisten tun dies auch in vielfältiger Weise: Sie kochen und verteilen kostenloses Essen, organisieren Aktivitäten des selbstbestimmten Lernens, betreiben selbstverwaltete Buchläden und Kulturzentren, leben und arbeiten in Kollektiven ohne Chefs zusammen, veranstalten Festivals und Sommercamps, schließen sich mit anderen in Gruppen zur gegenseitigen Hilfe bei diversen Problemen zusammen und vieles mehr. Solche Aktivitäten tragen direkt zu einer Verbesserung des alltäglichen Lebens bei und zeigen, dass unsere Ideen keine abstrakten Ideale sind. Sie sind aber auch zur Vorbereitung der allgemeinen Revolution von Bedeutung, denn es ist äußerst unwahrscheinlich, dass mit dem Zusammenbruch der alten Ordnung aus dem Nichts freie Gesellschaftsstrukturen entstehen, ohne dass Menschen vorher mit entsprechenden Experimenten Erfahrungen gesammelt haben. Umgekehrt darf aber auch nicht vergessen werden, dass all diese Veränderungen im hier und jetzt allenfalls einen kleinen Vorgeschmack auf ein befreites Leben hervorbringen können, solange die allgemeinen Eigentums- und Herrschaftsverhältnisse weiter bestehen. Es kann keine Inseln der Freiheit in einer unfreien Welt geben.
Es stellt sich hier wieder eine Vielzahl von Fragen, die bei der Verwirklichung einer herrschaftsfreien Gesellschaft angegangen werden müssten: Wie können Konflikte zwischen Individuen und Gruppen konstruktiv gelöst werden? Wie soll mit übergriffigem oder gemeinschaftsschädigendem Verhalten umgegangen werden? Wie kann verhindert werden, dass sich neue Hierarchien herausbilden? – Zu all diesen Problemen wurden in oben erwähnten freiheitlichen Experimenten bereits Diskussionen geführt und Lösungsansätze entwickelt, die auszuführen hier jedoch den Rahmen sprengen würden. Darüber hinaus vertrauen wir darauf, dass die ungeheure Energie, welche die Befreiung von Staat und Kapital freisetzen würde, es ermöglichen wird, hier noch weitaus bessere Umgangsweisen zu finden. Denn, um noch einmal abschließend Kropotkin zu zitieren:
„Diese neue Gesellschaft besteht aus einander gleichgestellten Mitgliedern, die nicht mehr gezwungen sind, Hand und Kopf an andere zu verkaufen und sie von diesen in beliebiger, planloser Weise ausnützen zu lassen; sie können vielmehr ihre Kenntnisse und Fähigkeiten zielbewusst der Produktion zuwenden im Rahmen eines Organismus, der dabei für die individuelle Initiative vollen Spielraum lässt.“