„Kleineres Übel“ (I): Elend des Reformismus
Die Aufgabe linker Parteien ist es, von Zeit zu Zeit die brüchig gewordenen Illusionen ins parlamentarische System aufzufrischen.
Wie steht es aber mit Parteien, die sich als „antikapitalistisch“ bezeichnen und versprechen, für mehr „soziale Gerechtigkeit“ einzutreten? Die teilweise sogar behaupten, nur „aus taktischen Gründen“ am Parlamentszirkus teilzunehmen, langfristig aber Kapitalismus und Staat abschaffen zu wollen? Wäre die Wahl solcher Parteien nicht ein Weg, die Ungerechtigkeiten der bestehenden Gesellschaftsordnung durch schrittweise Reformen zu überwinden – oder zumindest das „kleinere Übel“, um einige der schlimmsten Auswüchse der herrschenden Verhältnisse abzumildern?
Abgesehen davon, dass wir nicht einsehen, warum wir uns mit ein paar Brotkrumen zufrieden geben sollen und stattdessen die ganze Bäckerei erobern und nach unseren Vorstellungen umbauen wollen, lehnen wir eine solche reformistische Strategie aus mindestens drei weiteren Gründen ab: Erstens, weil sie ihre Vertreter zu einer immer stärkeren Komplizenschaft mit Staat und Kapital nötigt, zweitens, weil die Erfolgsaussichten des angeblich „realistischen“ Reformismus in Wirklichkeit meist gering sind und drittens, weil dieser Weg häufig zum Wiederaufleben längst fadenscheinig gewordener demokratischer Illusionen beiträgt.
Warum tendieren reformistische Parteien dazu, Komplizinnen der Mächte zu werden, die sie eigentlich bekämpfen wollen? Nehmen wir als Beispiel die von Linksparteien aller Länder immer wieder gern propagierte Idee einer „Reichensteuer“, durch die die Not der Armen gelindert werden soll. Soll diese mehr als eine einmalige Aktion sein, so muss sicher gestellt werden, dass die Reichen auch morgen noch reich sind, sonst könnten sie ja nicht länger gemolken werden. Und wodurch kommen Reiche in einer kapitalistischen Welt zu ihrem Reichtum? – Indem sie entweder selbst Lohnarbeiter ausbeuten oder in irgendeiner anderen Form von den bestehenden Eigentumsverhältnissen profitieren. Umverteilungspolitik durch staatliche Steuern setzt also zunächst einmal erfolgreiche Kapitalakkumulation voraus. So muss beispielsweise eine Partei, die der Bevölkerung durch Abgaben der deutschen Banken und Konzerne helfen möchte, auch den Erfolg des deutschen Kapitals auf dem Weltmarkt wollen. Sofern sie an der Macht im Staate beteiligt ist, muss sie die Interessen der deutschen Unternehmen berücksichtigen – darunter das Interesse, durch diplomatische oder auch militärische Mittel Zugriff auf Rohstoffquellen, Absatzmärkte und ausbeutbare Menschen in anderen Ländern zu bekommen. Es ist daher weniger ein Verrat, sondern einfach die Logik ihrer Politik, dass die Sozialdemokratie zu Beginn des ersten Weltkrieges dem deutschen Kaiser die Kriegskredite bewilligte oder dass die pazifistischen Grünen Auslandseinsätzen der Bundeswehr zustimmten. Auch die Linke wird diese Kröte schlucken müssen, wenn sie auf Bundesebene regierungsfähig werden will.
Reformistische Kräfte rechtfertigen ihre Politik häufig damit, dass sie wenigstens „realistische“ Verbesserungsvorschläge machten, während die Radikalen außer wohlklingenden, aber völlig utopischen Ideen nichts zu bieten hätten. Wie steht es also mit den Erfolgschancen reformistischer Politik? In bestimmten Situationen kann sie tatsächlich Verbesserungen durchsetzen: Wenn die angestrebten Reformen auch dem herrschenden System und seinen Eliten nützen (so bescherte die rechtliche Gleichstellung der Frau dem Kapital zusätzliche Arbeitskräfte) oder wenn mächtige außerparlamentarische Bewegungen die Herrschenden zu Zugeständnissen zwingen, um einer drohenden Revolution von unten zuvorzukommen (Bismarcks Sozialgesetzgebung Ende des 19. Jahrhunderts). Zu beachten ist dabei jedoch, dass der Staat, wenn er Forderungen sozialer Bewegungen aufgreift, diese stets seinen Interessen anpasst und alle subversiven, für die bestehende Ordnung gefährlichen Aspekte derselben unterdrückt. Mit der Einführung von Bismarcks Sozialgesetzen wurden zugleich die vormals unabhängigen Unterstützungskassen der Arbeiterbewegung ins staatliche System integriert, sodass die Lohnabhängigen noch stärker unter die Kontrolle des Staates gebracht wurden. Mit der staatlichen Gleichstellungspolitik wurden alle radikal herrschaftskritischen und antikapitalistischen Bestrebungen unterdrückt, die in den feministischen Bewegungen seit den 1960er Jahren teilweise stark ausgeprägt waren – mit dem Ergebnis, dass „Emanzipation“ heute nur noch bedeutet, dass Frauen auch Managerinnen, Soldatinnen und Bundeskanzlerinnen werden, sprich alle autoritären Rollen einnehmen können, die vormals ein Privileg der Macker waren.
In unserer Epoche, die vom einer relativen Schwäche außerparlamentarischer Bewegungen und einer verschärften internationalen Kapitalkonkurrenz geprägt ist, sind die Möglichkeiten reformistischer Politik – insbesondere auf dem ökonomischen Gebiet – jedoch ohnehin sehr gering geworden. Dies soll beispielhaft am Fall Griechenlands verdeutlicht werden. Vor ungefähr zwei Jahren versetzte die griechische Partei SYRIZA die staatsgläubige Linke in ganz Europa in Verzückung. Der SYRIZA-Chef Alexis Tsipras hatte soeben die Parlamentswahlen gewonnen, nachdem er großspurig angekündigt hatte, der Verarmungspolitik ein Ende zu setzen, die die internationalen Gläubiger dem verschuldeten Land verordnet hatten. Tsipras lies sogar ein Referendum über die Sparvorschläge der Gläubigerinstitutionen abhalten, bei dem das griechische Volk diese mit großer Mehrheit ablehnte. Und was tat der wackere Volkstribun, nachdem ihm die Wähler so eindrucksvoll den Rücken gestärkt hatten? Er legte vier Tage später eine Maßnahmenliste vor, die mit den gerade abgelehnten Vorschlägen weitgehend identisch war! So sehr hatten die Verhältnisse den Spielraum für linken Reformismus schrumpfen lassen, dass den Griechen buchstäblich nur die Wahl blieb, die sozialen Einschnitte sang- und klanglos zu akzeptieren, oder aber durch eine revolutionäre Umwälzung für eine Zukunft jenseits von Staat und Kapital zu kämpfen. Das Ergebnis ist bekannt: Tsipras ist nach wie vor im Amt und die griechische Bevölkerung leidet unter derselben Politik wie zuvor.
Der angebliche Realismus von SYRIZA erweist sich als unrealisierbar; umgekehrt hätte möglicherweise eine revolutionäre Vorgehensweise viel bessere Chancen, tatsächlich Reformen zu erreichen. Würden die kapitalistischen Verhältnisse von einer starken revolutionären Bewegung infrage gestellt, so würde die herrschende Klasse eventuell plötzlich Zugeständnisse machen, die sie einer maßvoll reformistischen Partei niemals gewährt hätte – in der Hoffnung, so wenigstens ihre Macht nicht zu verlieren und ihr Eigentum zu retten. Es lohnt sich also in jedem Fall, das „Unmögliche“ zu fordern; selbst wenn wir scheitern, können wir immer noch mehr erreichen, als wenn wir uns von vornherein bescheiden zeigen.
Sind die auf reformistischen Wege erreichbaren Verbesserungen heutzutage also weitgehend illusionär, so sind die negativen Auswirkungen dieser Strategie umso realer. Dem Aufstieg solcher Parteien wie der des Herrn Tsipras geht oft eine Periode der Delegitimierung bestehender Institutionen voraus, in der relevante Teile der Bevölkerung ihren Glauben an Parteien und Wahlen weitgehend verloren haben. Dies war in Griechenland nach der Jugendrevolte von 2008 und den Auseinandersetzungen um die staatlichen Sparprogramme der Fall, in Spanien angesichts von Massenarbeitslosigkeit und anhaltender sozialer Kämpfe seit 2009 und in der Türkei nach dem Gezi-Aufstand von 2013. In allen drei Ländern war eine Stimmung weit verbreitet, die einmal ein altes Mütterchen aus einem Armenviertel Istanbuls mit folgenden Worten zusammengefasst hatte: „Nicht einmal ein Hund würde in die Wahlurnen dieser Republik pissen wollen!“ In all diesen Ländern hat es nicht am Mut der Menschen gemangelt, auf den Straßen gegen die Verteidiger der bestehenden Ordnung zu kämpfen. Was den Oppositionsbewegungen jedoch überall fehlte, war eine klare Vorstellung, wodurch die bestehende Ordnung ersetzt werden könnte. Konkrete Ideen für eine Gesellschaft jenseits von Kapital und Staat waren kaum präsent und es gab zu wenig bewusste Revolutionäre, die diese hätten verbreiten können. Dieses Vakuum nützen Parteien wie SYRIZA in Griechenland, Podemos in Spanien und die HDP in der Türkei für sich aus. Selbst aus Basisbewegungen kommend, gelang es deren Politikern, sich als Alternative zu den etablierten Parteien darzustellen, um den Leuten alten Wein in neuen Schläuchen anzubieten und darüber selbst ins Parlament oder gar an die Macht zu kommen. Ihre Kampagnen gaben den Menschen zumindest zeitweilig ein wenig Vertrauen in des System zurück und trugen dazu bei, dass sich keine wirkmächtige radikale Opposition herausbildete. In der Türkei wurden die Kräfte, die dem autoritären Staatsumbau Erdogans vielleicht etwas hätten entgegensetzen können, durch die von der HDP propagierten Perspektive einer Teilhabe an der türkischen Staatsmacht gelähmt – anstatt das Bewusstsein zu entwickeln, dass die Zerschlagung dieser Staatsmacht die Voraussetzung jeder freiheitlichen Entwicklung in der Region wäre. In Griechenland hatten sich in den Hochzeiten der Auseinandersetzungen zehntausende ganz normaler Menschen von den Methoden der radikalen Kräfte inspirieren lassen – selbstorganisierte Versammlungen, Besetzungen, Straßenblockaden und Molotows waren längst nicht mehr das Monopol einer anarchistischen oder revolutionären „Szene“. Mit dem Aufstieg von SYRIZA verwandelten sich mehr und mehr ehemals rebellische Stadtteilgruppen in bloße Wahlvereine für diese Linkspartei und nach dem Machtantritt war die kleine Schar von anarchistischen Straßenkämpfer bei den Auseinandersetzungen mit der Polizei wieder allein – so wie sie es vor dem Dezember 2008 gewesen war. Ein ganzer Zyklus von Kämpfen ging zu Ende: Es muss noch einmal von vorn begonnen werden.