Kapitalismus und Staat
Egal wer die Wahlen gewinnt, die Regierung steht immer im Dienste des Kapitals.
Okay, die staatliche Ordnung mag nicht so naturgegeben sein, wie es scheint. Aber momentan leben wir nun einmal in einem Staat – und macht es da nicht doch einen großen Unterschied, wer gerade an der Regierung ist? Um diese Frage beantworten zu können, müssen wir den Charakter der kapitalistischen Gesellschaft noch einmal genauer betrachten, die der moderne Staat beherrscht und organisiert. Der Kapitalismus ist, wie schon gesagt, eine Gesellschaft von Eigentümern. Aber ihr Eigentum ist sehr ungleich verteilt: Die große Mehrheit besitzt keine Produktionsmittel (Maschinen, Gebäude, Land, Rohstoffe usw.) und muss daher ihre Arbeitskraft verkaufen, um sich den eigenen Lebensunterhalt zu verdienen. Als Lohnabhängigen sind sie darauf angewiesen, dass die Eigentümer der Produktionsmittel – die Kapitalisten – sie für sich arbeiten lassen, um Gewinn zu erwirtschaften. Obwohl sie den Großteil des Reichtums dieser Gesellschaft erzeugen, bekommen die Lohnabhängigen nur einen Teil desselben in Form von Lohn ausbezahlt. Sie werden also ausgebeutet – auch wenn dies heute in den westlichen Ländern meist nicht bedeutet, dass sie Hunger leiden müssen. Entscheidend ist aber auch nicht, ob wir etwas mehr oder etwas weniger Geld in der Tasche haben – entscheidend ist, dass wir durch die Lohnarbeit der Möglichkeit beraubt werden, die Welt frei zu gestalten, da wir unsere Fähigkeiten unter fremdem Kommando und zu fremden Zwecken verausgaben müssen.
Der Zweck der Produktion ist in dieser Gesellschaft nicht die Befriedigung unserer Bedürfnisse, sondern die Vermehrung des Kapitals. Dass Leute hungrig sind, ist unter diesen Umständen noch kein Grund, Nahrungsmittel zu produzieren – so lange die Bedürftigen nicht das Geld haben, um ihr Bedürfnis in kaufkräftige Nachfrage zu verwandeln. Umgekehrt werden auch offensichtlich gefährliche Dinge wie Panzer und Atomreaktoren umstandslos produziert, wann immer sich zahlungsfähige Abnehmer finden.
Dieser paradoxe Zustand wird oft mit der Habgier und Herzlosigkeit der Unternehmer oder Börsenspekulanten erklärt – eine gängige Sichtweise, die jedoch in die Irre führt. Dass Manager Arbeiter entlassen und die Verbliebenen bei möglichst wenig Lohn umso härter schuften zu lassen, liegt nicht an deren persönlichem Charakter, sondern an den unpersönlichen Zwängen des Marktes. Würden sie nicht so handeln, hätte das Unternehmen gegen die billigere Konkurrenz keine Chance und würde über kurz oder lang pleitegehen.
Diese ökonomischen Zwänge machen auch vor den Staaten nicht halt. Selbst mächtige Regierungschefs beginnen zu zittern, wenn es heißt, „die Märkte“ würden ihrer Wirtschaftspolitik misstrauen oder die Ratingagenturen hätten die Kreditwürdigkeit ihres Landes „auf Ramschniveau herabgestuft“. Kapitalistische Staaten finanzieren sich hauptsächlich durch Steuern. Um ihre Institutionen aufrecht zu erhalten, ihre Soldaten und Beamten zu bezahlen, ihre Projekte zu verwirklichen, kurz: um überhaupt handlungsfähig zu sein, sind sie darauf angewiesen, dass die Wirtschaft brummt und die Menschen auf ihrem Territorium Reichtum in Geldform erwirtschaften. Das ist aber nur der Fall, wenn Unternehmen in dem betreffenden Land profitable Bedingungen vorfinden. Das Kapital ist, wie es sprichwörtlich heißt, „ein scheues Reh“: Wenn die Profitrate an einem bestimmten Standort zu niedrig ist, verlagert es die Produktion eben anderswohin.
Jede Regierung eines bürgerlichen Staates muss daher – ganz egal, was sie sonst vorhat – zunächst einmal dafür sorgen, dass sich das nationale Kapital wohlfühlt. Alle relevanten Parteien hierzulande von rechts bis links haben daher dasselbe Ziel: den Erfolg des Wirtschaftsstandorts Deutschland in der Konkurrenz mit anderen Nationen. Uneinigkeit besteht lediglich in den Mitteln und Wegen, wie dieses Ziel am besten zu erreichen wäre: Liberale und Konservative möchten die Löhne drücken und die Rechte der Beschäftigten beschneiden, damit die Unternehmer sie noch ungehemmter ausbeuten können; Linke dagegen wollen eher dem Volk durch mehr Staatsausgaben und höhere Löhne etwas mehr Geld zukommen lassen, um so die Binnennachfrage anzukurbeln. Grüne wiederum hoffen, durch die Förderung von Solarzellen und Elektroautos der deutschen Wirtschaft einen Vorsprung in den ökologischen Zukunftstechnologien zu verschaffen, mit deren Hilfe sich die Märkte von Morgen beherrschen lassen, usw.
Und wir? – Im Grunde geht uns all dieses Parteiengezänk wenig an. Egal, welche Strategie sich durchsetzt, sie alle basieren auf der Enteignung unserer freien Zeit durch die Lohnarbeit, auf der Opferung unserer Lebensenergie für die Vermehrung des Kapitals. Zu hoffen, eine wie auch immer geartete Regierung eines bürgerlichen Staates könnte unsere Bedürfnisse befriedigen und unsere Träume verwirklichen, wäre gänzlich widersinnig.