Zeitgewinn ist Zeitverlust
Die Betreiber von Verkehrsprojekten versäumen es nicht, bei jedem neuen Vorhaben an ein scheinbar nicht zu hinterfragendes Naturgesetz zu erinnern: »Geschwindigkeit bedeutet Zeitgewinn.« Der gesunde Menschenverstand erkennt diese Tatsache insofern an, als sie mit den Gesetzen der Physik übereinstimmt. Die Praxis jedoch scheint sie in dem Maße zu widerlegen, wie die in den Verkehrsmitteln bzw. für die Verkehrsmittel verlorene Zeit mit deren Geschwindigkeit zunimmt.
Für die Physik ist die Geschwindigkeit eine Funktion von Zeit und Entfernung. Zum Unglück der Technokraten, die kaum jemals über ihre Berechnungen hinauszudenken scheinen, leben wir aber nicht in der begrifflichen Welt der Physik. Je höher die Geschwindigkeit eines Fahrzeugs, desto größer ist auch der Widerstand der Umgebung: der physikalischen (Luftwiderstand und Reibung), der natürlichen (Gelände und Oberflächenbeschaffenheit) und der menschlichen (Reaktion der Anwohner auf die zu erwartenden Schädigungen). Je mehr Mittel aufgewendet werden müssen, um diese hartnäckigen Widerstände zu überwinden und zu beseitigen, desto mehr Arbeitskraft wird es kosten, um diese Mittel zu produzieren und anzuwenden. Umso geringer wird also unterm Strich die tatsächliche Geschwindigkeit der Fahrgäste ausfallen, nämlich das Verhältnis zwischen den Entfernungen, die sie zurücklegen, und der gesamten für die Beförderung aufgewendeten Zeit.
Rechnet man die gesamte für den Verkehr aufgewandte gesellschaftliche Arbeitszeit zusammen – etwa für Bau, Betrieb und Instandhaltung der Verkehrsmittel sowie für diverse Auswirkungen wie Gesundheitsschäden –, so stellt man fest, dass die modernen Gesellschaften mehr als ein Drittel ihrer gesamten Arbeitszeit für diesen Bereich verausgaben; das ist deutlich mehr, als alle vorindustriellen Gesellschaften jemals für ihre Fortbewegung aufgewendet haben, einschließlich des Nomadenvolks der Tuareg. Jenseits einer bestimmten Geschwindigkeit sind schnelle Verkehrsmittel kontraproduktiv und kosten ihre Nutzer mehr Zeit, als sie einsparen – was sie allerdings für ihre Besitzer nicht weniger profitabel macht. Die Lohnabhängigen verschwenden ihre Zeit damit, ihren Lebensunterhalt zu verdienen, und die Konsumenten verschwenden ihr Leben damit, Zeit zu gewinnen.
Die Menschen aber möchten diesen Zwang abschaffen, der Zeit zu einem seltenen Gut macht und ihr Dasein zu einer endlosen Jagd nach einem Lebensstil, der ihnen als wünschenswert dargestellt wird, während ihnen ihr wirkliches Leben zwischen den Fingern zerrinnt: »Wäre der Tag, die Woche doch schon vorbei! Wären nur schon Ferien! Wäre ich doch endlich in Rente!« Derart hilfloses Trachten lässt den Technokraten freie Bahn, die – ganz kühle Objektivität – technische Lösungen anbieten können, bei denen solchen menschlichen Regungen mit materiellen Dingen und reibungslos funktionierenden Maschinen begegnet wird. Da die Funktion das Bedürfnis erzeugt und nicht umgekehrt, ist in der Folge das, was die Verkehrsmittel möglich gemacht haben, zur Verpflichtung geworden: Unsere Vorfahren konnten keine großen Strecken zurücklegen, weil ihnen die Mittel dazu fehlten, wir müssen sie zurücklegen.
Dank der Verkehrsmittel können wir weiter und schneller reisen und an immer mehr Orte gelangen, die wiederum in erster Linie des großen Andrangs wegen erschlossen und so zu etwas Alltäglichem werden. Einmal erschlossen, spezialisieren sich die Gegenden, weil die verschiedenen Tätigkeiten und Beschäftigungen nun an anderen Stellen im Land konzentriert werden: Technologieparks, Sehenswürdigkeiten, Freizeitparks, Industrie-, Handels- und Verwaltungszentren, Supermärkte, Schlafstädte, Vororte usw. Das macht selbstverständlich noch schnellere Verkehrsmittel notwendig, um die auf diese Weise neu geschaffenen Entfernungen zu bewältigen. Wenn wir in einem einzigen Jahr eine längere Strecke zurücklegen als unsere Vorfahren in ihrem ganzen Leben, so tun wir das nicht, um anderswohin zu kommen, sondern um uns immer an dieselben Orte zu begeben.