Im Hamsterrad
Verödete ländliche Gegenden, drangvolle Enge in namenlosen Vorstädten und unbewohnbaren Städten, standardisierte Lebensplanungen, ein völlig von wirtschaftlichen Erfordernissen beherrschtes Dasein, eine sogenannte Frei-Zeit samt ihren Beschäftigungen, die selbst zu Waren geworden sind, sowie das zunehmende Gefühl der Absurdität eines solchen Lebens und die ständige Flucht nach vorn im Versuch, das zu vergessen – so sieht das Los der Mehrheit in unserer Zeit aus. Das schnelle Befördern von Waren und Menschen ist von einem in erster Linie wirtschaftlich begründeten Erfordernis zum Selbstzweck geworden. »Wir haben die Welt verkleinert!«, brüstet sich eine Charterfluggesellschaft. Der ganzen Bevölkerung wurde als Grundbedürfnis das aufgezwungen, was die Lebensschablonen der Manager zum Funktionieren benötigen – dieser Makler und Hofschranzen im Dienste der Warenmobilität, die bloße biologische Wurmfortsätze der Wirtschaft sind.
Was immer man auch halten mag von der wenig beneidenswerten Dauerhektik der Geschäftsleute, der »Verantwortungsträger « oder der jungdynamischen Durchschnittsburschen, die fast immer den Eindruck machen, als kämen sie mit ihrem Mountainbike direkt aus der Metro oder dem Büro – man muss leider einräumen, dass ihr Tempo zum Modell geworden ist. Es ist eine Ironie der Geschichte, dass die 68er-Parole »Leben ohne tote Zeit« eine so erbärmliche Bedeutung bekommen hat.
Der Wahn einer allumfassenden Dringlichkeit hat sich der Bevölkerung bemächtigt. Unsere Zeitgenossen, die aus so vielen verschiedenen, freilich nach demselben Muster gestrickten Beschäftigungen wählen können, scheinen diese allesamt fieberhaft auskosten und vor allem keine versäumen zu wollen. Man muss unbedingt hin! Kaum von der Maloche zurück, muss man auf allen Hochzeiten tanzen, in die Berge und ans Meer fahren, in die Tropen und an den Polarkreis – und das alles in Rekordzeit; so sehr scheint unser Dasein buchstäblich ausgelaugt und eingeschrumpft zu sein. Ganz ungehemmt äußert sich diese Tyrannei der Geschwindigkeit vor allem in der Dynamik des Geschäftslebens: Wirtschaftliche Schwankungen sind überall »in Echtzeit« präsent und erscheinen dadurch umso flüchtiger; die Hektik der Businessmen ist umso hoffnungsloser, weil alles, ohne Ende, permanent von vorne beginnt. Das billige Heldenepos, von der neoliberalen Ideologie um das Tun und Lassen von Wirtschaftsbossen, Golden Boys und sonstigen Marionetten zusammenfabuliert, hat letztendlich Wirkung gezeigt: Das Reisen muss abgeschafft werden, nur das Ankommen zählt.
Aus vielerlei Gründen wollen sich die Menschen nicht länger in einem angenehmen Rhythmus fortbewegen, nicht zuletzt deshalb, weil sie vor der Rätselfrage, wie ein eigenes Leben zu erfinden sei, kapituliert haben. Nicht, dass sie grundsätzlich Geschmack an der Geschwindigkeit gefunden hätten, sie können es lediglich nicht mehr ertragen, sich langsam fortzubewegen.
In den modernen Verkehrsmitteln – wie auch im städtischen Leben, dessen Erweiterung sie sind – ist eine quasi schizophrene Abkapselung entstanden, indem jede mögliche Gemeinschaft sowie jede echte Individualität beseitigt wurde: Walkmans ergänzen heute die Reiselektüre, die mit der Eisenbahn aufkam, und in den Zugabteilen installierte Bildschirme sollen die darin herrschende drückende Stille ausfüllen. Was keinen Reiz mehr hat, muss verkürzt und unterhaltsam gemacht werden; unterwegs zu sein (mit U-Bahn oder Zug, mit Auto, Fähre oder Flugzeug) ist nur noch tote, verlorene Zeit, Zeit der Langeweile. Schnell und weit zu fahren war zunächst theoretisch wünschenswert. Für die meisten Menschen ist es indes praktisch unverzichtbar geworden, weil sie unterwegs nichts zu tun und niemanden zu treffen haben. Diesem irregeleiteten Bedürfnis entspricht der TGV vollkommen. Mehr als nur ein verbesserter Zug ist er etwas anderes: »ein Airbus im Tiefflug«, wie der Trottel vom Dienst in »Le Monde« so schön schreibt. Die Bedingungen des Luftverkehrs sind auf der Erde gelandet und nichts wird sie mehr zum Abheben bewegen. Die abstrakte Vorstellung der Luftfahrt hat sich zu Recht auf der Erde durchgesetzt, seit diese so leer wie der Himmel geworden ist. Weit fahren, ohne irgendwo anzuhalten, Länder überfliegen, in die man niemals einen Fuß setzen und von denen man niemals etwas wissen wird – das ist die Erfahrung, die der TGV demokratisch verbreitet. Die allgemeingültigen Bedingungen des modernen Verkehrswesens werden über die gesamte Bevölkerung im selben Maß demokratisch und verbindlich hereinbrechen, wie das landesweite Streckennetz fertiggestellt wird und die klassischen Eisenbahnlinien nach und nach stillgelegt werden.
Blitzblankes Dekor wie im Schnellrestaurant, das Klima ebenso konditioniert wie die Fahrgäste, synthetische Lebensmittel, eine einlullende Atmosphäre – alles soll dem Beförderten anzeigen, dass er, misshandelt und eingezwängt in die technologischen Erfordernisse der Transportmaschinerie, tatsächlich nach den Bedingungen des heutigen Massenluftverkehrs behandelt wird, der die ergonomischen und psychologischen Normen festlegt: maximale Raumausnutzung bei totaler Vereinzelung in der Masse.