Sand im Getriebe
Hie und da wird dem Widerstand gegen den TGV vorgeworfen, er komme recht spät, da die Provence und das Rhonetal schon durch die Autobahnen und die Verstädterung stark in Mitleidenschaft gezogen worden seien. Abgesehen davon, dass dies die Widerstände außer Acht lässt, die sich seinerzeit in geringerem Umfang gegen Autobahnen und Atomkraftwerke formiert hatten, ist es nur normal, dass die Angst, nicht mehr genug Platz zum Atmen oder auch nur zum Seufzen zu haben, sich irgendwann Bahn bricht angesichts der sich unerbittlich aufaddierenden Erschließungsmaßnahmen, die den Lebensraum zusehends in Funktionsflächen aufteilen. Die jetzige Widerstandsbewegung geringzuschätzen hieße aber vor allem, die Bedeutung zu verkennen, die dieser Versuch, die Hirngespinste der Raumplaner zu stoppen, für alle haben kann. Denn niemand wird der Katastrophe entkommen: Wenn wir auch nicht alle Anrainer der TGV-Trassen sind, so sind wir doch alle Anrainer des Wirtschaftssystems.
Dieselben aber, die alles im Leben ihren Buchführungsmaßstäben und ihrer Bemessung nach MTEP(8) unterjochen wollen, brandmarken skrupellos die angeblich »kleinlichen« Interessen derer, die sich ihren Projekten widersetzen.
Selbst wenn diesen Widerständigen tatsächlich nur sehr beschränkte Interessen am Herzen lägen, so hätten sie in diesen finsteren Zeiten doch wenigstens den Vorzug, die Mächtigen dazu zu zwingen, ihre Missachtung des wirklichen Lebens etwas zu zügeln. Aber wie dem auch sei: Wovon sollten die Menschen denn ausgehen, um sich der Willkür jener aus dem Technokratenhimmel abgeworfenen Projekte zu erwehren, wenn nicht von dem, was sie rein intuitiv am besten kennen: die verletzbare Umgebung, in der sie leben? Doch genau dafür werden sie als egoistisch gegeißelt. Wenn aber die kalte ökonomische Unvernunft behauptet, dass es außerhalb ihrer selbst keine Zukunft geben könne, müssen dann nicht diejenigen, die es ablehnen, dieser Unvernunft weiter zu folgen, dies zunächst einmal im Namen der bedrohten Vergangenheit tun und all dessen, was sie daran schätzen? Eine betroffene Bevölkerung, die das, was sie kennt – also ihre bisherigen Lebensbedingungen, mögen diese mitunter auch wenig glanzvoll sein –, gegenüber dem verteidigt, was sie von der anstehenden Katastrophe befürchtet, vertritt das Allgemeininteresse allemal besser als jene Wissenschaftler, Experten und Funktionäre, die zwar jeweils auf ihrem Gebiet die Schäden bilanzieren, aber weder fähig noch willens sind, ihnen ein Ende zu setzen.
Im Gegensatz zu deren verlogenen Allgemeinplätzen und geheucheltem Wehgeschrei kann der praktische Widerstand durch seine bloße Hartnäckigkeit dafür sorgen, dass die verschiedenen Arten von Ent-Eignungen, die alles Lebendige erdrücken, miteinander in Verbindung gebracht werden. Damit kann er eine Atmosphäre schaffen, in der die Angst vor der Zukunft aus einer unglücklichpassiven Haltung heraus in das Bestreben umschlägt, sich die Gegenwart wieder anzueignen.
Andere lokale Widerstände – gegen die Staudämme an der Loire, gegen Atommülldeponien, Industriemüllkippen oder Steinbrüche – haben dafür bereits Beispiele geliefert und in dieser Hinsicht zur Klimaverbesserung beigetragen.
Mit dem sicheren Gespür, auf dem die Widerstandsbewegungen gegen die Schädigungen gründen, sind sie bestens dafür gewappnet, mehr Mitstreiter und Unterstützung zu finden, ohne auf die Medien angewiesen zu sein, von denen sie unvermeidlich auf höchst eindimensionale Weise dargestellt werden: Die Medien präsentieren nur geschädigte Grundbesitzer, Weinbauern und Anwohner und wollen nichts wissen von dem immer weiter verbreiteten Gefühl, dass diese Welt nichts mehr zu bieten hat außer der Verschlimmerung des jetzigen Zustandes. Was jedermann befürchtet, muss aber ausgesprochen werden. Es nützt nichts, in der Hoffnung auf einen Aufschub auf Kompromissvorschläge einzugehen: Kein Entgegenkommen wird eine Verschnaufpause sichern, im Gegenteil, es wird die Urheber der Verwüstung nur noch ermutigen. Wer jedoch mit allem Grund gegen den TGV Widerstand leistet, der legt nicht nur diesem Projekt Steine in den Weg, sondern auch all jenen, die es begleiten oder die es unweigerlich nach sich ziehen wird.
Daher ist es eine besondere Schande, dass einige Umweltschützer – wie etwa die Fédération Rhône-Alpes de la Protection de la Nature oder René Dumont – zu behaupten wagen, dass der TGV uns weitere Autobahnen ersparen werde, wo doch jeder in den vergangenen zehn Jahren beobachten konnte, dass parallel zur Inbetriebnahme der TGV-Strecke Paris–Lyon der Luft- und der Autoverkehr ständig zugenommen haben. Weit davon entfernt also, den Bau neuer Autobahnen (gegen die es übrigens von anderer Seite im Südosten ebenfalls Proteste gibt) oder die Verdopplung der Fahrspuren der »Autoroute du Soleil« (9) zu verursachen, würde ein Erfolg des Widerstands gegen den TGV ganz im Gegenteil eine Bresche in jenen unfreiwilligen Konsensus schlagen, der dem einzelnen Menschen immer weniger einleuchtet. Die hinterhältige Frage »Warum lehnt ihr diese Schädigung ab, wenn ihr doch so viele andere akzeptiert und legitimiert habt?« wird erst dann komplett vom Tisch sein, wenn auf die Ablehnung des TGV-Projekts noch viele weitere Ablehnungen folgen. Es ist schwer vorstellbar, dass die Welle von allen möglichen Infrastrukturprojekten, die gegenwärtig über die Menschen hereinbricht, keinen entschiedenen Widerstand auslösen sollte, der diesem organisierten Wahnsinn ein Ende setzt – vorausgesetzt, die Menschen verfallen deswegen nicht in völlige Apathie, so als wären sie heimlich lobotomiert worden.
Machen wir uns doch einmal ein Bild von dem »unbefangenen « Arbeitseifer, den man gegenwärtig von den Führungskadern und Fachleuten für die Erzeugung von Schädigungen erwartet, am Beispiel einer gewissen Nicole Le Hir, Top-Headhunterin in einem anderen Spitzensektor, der Agrar- und Lebensmittelindustrie, die erklärte: »Heutzutage darf man nicht zu viel nachdenken, man muss loslegen« (Ouest-France vom 18. April 1991). Wir können auch bei der Entdeckung von Pierre Verbrugghe verweilen, jenem Pariser Polizeipräfekten, der die Mutation der Primaten unter seiner Ägide so beschrieb: »Der Pariser von heute hat nicht zwei Beine, sondern vier Räder « (Le Monde vom 27. April 1990). Oder würdigen wir doch noch, wie blindwütig der Vizepräsident der Region Poitou-Charentes als zuständiger Bauherr die geplante Autobahn Nantes–Niort quer durch die dortige Sumpflandschaft verteidigte: »Zwischen Frosch und Mensch wähle ich den Menschen.« (Nur: welchen Menschen?)
Solche Äußerungen sind keineswegs die Ausnahme. Aus ihnen allen spricht der Wille, allerorten unumkehrbare Fakten zu schaffen. Der verzweifelte Starrsinn, mit dem die Verfügenden um jeden Preis die Verschlechterungen weiter vorantreiben, beweist, dass sie nichts anderes mehr kennen: Was sie in Gang gesetzt haben, indem sie die Lebensweisen früherer Zeiten getilgt und die Emanzipationsversuche dieses Jahrhunderts unterdrückt haben, darüber verlieren sie nun die Herrschaft, denn sie verfügen ja über keine anderen Mittel als diejenigen, welche in die Katastrophe führen. Ihre Beschränktheit an praktischem Verstand spiegelt sich wider in ihrer unglaublich beschränkten Vorstellung vom Leben. Gegen diese anzukämpfen, in welcher Maske auch immer sie erscheint, muss zu den vordringlichsten Maßnahmen öffentlicher Gesundheitspflege zählen. Es liegt bei den Widerständigen, ohne Hemmungen und weiteres Zögern das verlassene Terrain des Denkens zu besetzen, dort ihre Beweisführung aufzubauen und die universellen Argumente für ihre Verweigerung zu formulieren – Argumente, die dazu dienen können, diese Verweigerung auszuweiten.
Bündnis für den Widerstand gegen Schädigungen aller Art, Juli 1991
(8) Maßeinheit der Maßlosigkeit: 1 MTEP (= »million-ton equivalent of petroleum«, Energieinhalt von einer Million Tonnen Rohöl), entspricht ca. 11,6 TWh (Terawattstunden).
(9) »Autobahn zur Sonne«: die Autobahnstrecke im Rhonetal zwischen Lyon und Marseille.