Wozu nützt der Nutzen?
Indem der TGV einem verfälschten Bedürfnis entspricht, aufgezwungen durch die Widersprüche eines Sklavendaseins, gehört er derselben Familie an wie die Mikrowelle, die so praktisch erscheint, wenn man verlernt hat, Mahlzeiten vorzukochen. Die technische Entwicklung zieht jedermann in eine endlose Spirale von Übeln hinein, die sie durch ihre falschen Gegenmittel nur immer weiter verschlimmert. So drängt sie sich den zunehmend hilflosen »Zivilisierten« als Selbstverständlichkeit auf, die gierig nach jeder Krücke greifen, um ihre verkümmerten Fähigkeiten und Wünsche zu kompensieren. Wer vergessen hat oder nie wusste, dass Reisen bedeutet, nach Belieben die Route zu ändern oder anzuhalten, dem mag der TGV als Fortschritt erscheinen – umso unzweifelhafter, als die Möglichkeit, wirklich zu reisen, durch andere Fortschritte derselben Sorte immer weiter abgeschafft wird: Der Rest, der von der Landschaft übrig bleibt, nachdem alles nicht ökonomisch Verwertbare getilgt wurde, und der nur noch aus Beefsteaks auf vier Beinen, Hektaren von flurbereinigten Weiden und Milchkontingenten besteht – dieser Rest verdient kaum etwas anderes, als mit Hochgeschwindigkeit durchquert zu werden.
Dieses eigenartige, computergestützte Glück wäre perfekt, wenn Produzenten und Konsumenten jeweils in ihrer Traumwelt schwebend verharren könnten – die einen besessen von der erhofften Rentabilität ihrer Investitionen, die anderen gierig ihre kurzlebigen, immer neuen Pseudokompensationen einsaugend. Doch ärgerlicherweise bleibt, egal wie schnell auch immer diese Welt jedes Lebewesen in eine ökonomische Gleichung übersetzt, stets eine Unbekannte übrig: die Schädigungen, die stetig vervielfacht werden, und die dadurch hervorgerufenen ablehnenden Reaktionen.
Kaum werden die kommerziellen Illusionen einmal kritisiert, so ist auch schon die technikgläubige Einfalt zur Stelle und entgegnet, dass lediglich deren Durchführung in der Vergangenheit unzulänglich und zum Scheitern verurteilt gewesen sei, dass aber diese Unannehmlichkeiten in Zukunft behoben würden. Auf diese Weise kann man sogar jegliche Schädigung im Nachhinein verurteilen, solange nur die ihnen allen zugrundeliegende Argumentation weiterhin unanfechtbar und gültig bleibt und somit immer neue Schäden geschaffen werden können. Die Abfolge technischer Allheilmittel, deren fortgesetztes Scheitern allmählich alle Lebensbereiche durchdringt, zeigt hinlänglich, in welche Sackgasse die Menschheit geraten ist. Die Ent-Eignung wird inzwischen derart schnell von ihren eigenen Auswirkungen überholt, dass jede weitere Katastrophe, die naturgemäß daraus entspringt, es scheinbar verlangt, erneut auf dieselben zweifelhaften Notlösungen zurückzugreifen – und selbstverständlich auch auf dieselben Experten, die diese bereithalten.
Eine solche Flucht nach vorn kann nie ein Ende finden: Alles wird immer wieder verbraucht und muss immer wieder von Neuem beginnen. Die Aussicht auf irgendein nützliches Ergebnis für die große Mehrheit (wie etwa weniger Arbeit) wird übrigens von den Führern in Politik und Wirtschaft nicht einmal mehr erwähnt. Der wirkliche Nutzen technischer Entwicklung in der modernen Welt besteht inzwischen in ihrer sozialen Funktion: die Lösung der von ihr geschaffenen Probleme zu verhindern, indem sie ständig neue hervorbringt. Ganz nach dem Motto »Warum einfach, wenn es auch kompliziert geht?« erlaubt es die schnelle Ausbreitung einer selbstzerstörerischen Technologie, dem historischen Widerspruch des fortwährend konfiszierten Reichtums aus dem Weg zu gehen. So gesehen kann man den TGV als eine weitere Waffe in jenem Arsenal beschreiben, mit dessen Hilfe innerhalb der heutigen Gesellschaft die in ihr selbst enthaltenen emanzipatorischen Möglichkeiten bekämpft und verschiedenste Bereiche des Daseins sturmreif geschossen werden.
Seit ein Verteidigungsminister den Einmarsch französischer Truppen in den Irak mit der Geschwindigkeit des TGV verglich, ist die Funktion, die diesem Transportmittel in der Vorstellungswelt der Verfügenden zugedacht ist, offenkundig geworden. Wurde nicht sein – selbstverständlich japanisches – Vorbild »Geschosszug« genannt? Die tatsächlichen Auswirkungen auf die derart beschenkte Bevölkerung werden zweifellos ebenso verschleiert werden wie der Zusammenhang zwischen dem lärmenden Feldzug am Golf und der »Tragödie« der kurdischen Bevölkerung oder der Katastrophe der brennenden Ölquellen. Es handelt sich auch hier um einen Krieg, in dem der Vorstoß des TGV, der »alles auf seinem Weg hinwegfegt«, ein entscheidendes Moment ist, ein Krieg, der die Eigentümlichkeit hat, den Zyklus von Zerstörung und Wiederaufbau so sehr wie kein anderer zu verkürzen, indem er beide Operationen zu einer einzigen namens »Raumplanung« verschmilzt.
Es ist ein Krieg, in dem es nur Verlierer gibt, denn die Illusionen einer Verbesserung, eines Zeitgewinns usw. gehen vorüber, während die Schädigungen bleiben. Insofern ist es verlockend, in seinem Verlauf ein unentrinnbares Schicksal zu sehen – sei es das der »Technik« oder das der »modernen Gesellschaft«. Allerdings wird sich eine Empörung, die sich gegen allgemeine Verhältnisse richtet und diese nicht mehr als angreifbare und veränderliche Wirklichkeit behandelt, zwangsläufig recht schnell erschöpfen. Wer jedoch einmal die Entscheidung getroffen hat, über die demokratische Sichtblende hinweg auf die Verfügenden zu blicken und die Schädigungen bis zu den Schädigern zurückzuverfolgen, dem wird es nicht an Gegnern mangeln, die benannt und bekämpft werden können.