12. Revolution
Es wird mindestens die allgemeine Richtung einer kommunistischen Gesellschaft in der jetzigen Bevölkerung bekannt und gewollt sein müssen, ehe man erwarten kann, dass irgendwer sich in das Wagnis ihrer Einführung stürzen würde. Viele der angerissenen Überlegungen behandelten bereits die Frage des Übergangs zu dieser neuen Gesellschaft. Dieser Übergang wird, da es darum geht die gegenwärtigen Machtverhältnisses wie die gegenwärtigen politischen, ökonomischen und privaten Formen der Gesellschaft zu überwinden, Revolution genannt. Auch dieser Begriff ist gegenwärtig nur eine Abstraktion, ein Platzhalter für Unzufriedene, die sich auch nicht anders zu helfen wissen, als die Änderung von allem und jedem zu fordern. Marx war Realist in dieser Angelegenheit und also, was eine Revolution in seinem Sinne angeht, Pessimist und dann Zweckoptimist: „Die Geschichte wird sie bringen, und jene Bewegung, die wir in Gedanken schon als eine sich selbst aufhebende wissen, wird in der Wirklichkeit einen sehr rauhen und weitläufigen Prozeß durchmachen.“ Einmal verstanden, dass unsere liebe Gattung mit ihrem produktiven Potential nicht gut umgeht, ist es richtig, die kommunistische Revolution schlicht als den Prozess zu definieren, in dem die Gattung lernt, mit diesem Potential vernünftig umzugehen, damit die Erde ein Ort sei, an dem man glücklich und zufrieden oder wenigstens überhaupt leben kann. Die Revolution ist also weniger ein notwendig gewaltsamer Prozess, sondern, objektiv ausgedrückt, einfach die „Aneignung einer Totalität von Produktionsinstrumenten“. Damit diese angeeignet werden können, braucht es aber auch „die Entwicklung einer Totalität von Fähigkeiten in den Individuen selbst.“ Und die Revolution ist, nach der subjektiven Seite ausgedrückt, nichts „als die Entwicklung der den materiellen Produktionsinstrumenten entsprechenden individuellen Fähigkeiten“. Hier fängt eben die Schwierigkeit an. Wir haben es mit uns selbst zu tun! Also mit mehr oder weniger unbegabten, tumben, egoistischen, narzisstischen, eifersüchtigen Individuen oder Ehetierchen, die nun schon seit Generationen auf dem Boden falscher, uns zur zweiten Natur gewordenen Prinzipien erzogen wurden und wieder die nächste Generation verziehen. Man muss wahrlich kein Misanthrop sein, um es unserer Gattung eher zuzutrauen, diesen Planeten zu zerstören, als ihn zu einem Paradies zu machen. Jedenfalls werden wir uns sowohl als Einzelne, als auch kollektiv ändern müssen, da sowohl „zur massenhaften Erzeugung dieses kommunistischen Bewußtseins wie zur Durchsetzung der Sache selbst eine massenhafte Veränderung der Menschen nötig“ ist. Der Arbeiter wie er ist wird die Umwandlung unserer Produktion eben nicht bewerkstelligen. Der konkrete Arbeiter ist bei Marx bekanntlich einfach ein Kretin und umso pathetischer wird er, wenn er der Arbeiterklasse als Ganzes dieses oder jenes zutraut oder andichtet. Die Revolution jedenfalls ist nicht nur nötig, um eben unsere produktiven Fähigkeiten endlich zu meistern, sondern auch, um unsere bornierte Existenz so durcheinander zu bringen, dass wir uns in einer permanenten Kulturrevolution überhaupt in die Lage versetzen, unseren erhabenen Auftrag der Geschichte auszuführen. Man muss sich nach Marx nämlich klar machen, dass „eine Revolution nicht nur nötig ist, weil die herrschende Klasse auf keine andere Weise gestürzt werden kann, sondern auch weil die stürzende Klasse nur in einer Revolution dahin kommen kann, sich den ganzen alten Dreck vom Halse zu schaffen und zu einer neuen Begründung der Gesellschaft befähigt zu werden.“ Das ist eigentlich auch schon alles was man erfährt. Die ganze Geschichte ist in jedem Fall äußerst fragil und sei nur durch beständige Reflexionsprozesse und qualitative Veränderungen innerhalb der revolutionären Bewegung selbst möglich: „Proletarische Revolutionen kritisieren beständig sich selbst, unterbrechen sich fortwährend in ihrem eigenen Lauf, kommen auf das scheinbar Vollbrachte zurück, um es wieder von neuem anzufangen, verhöhnen grausamgründlich die Halbheiten, Schwächen und Erbärmlichkeiten ihrer ersten Versuche, scheinen ihren Gegner nur niederzuwerfen, damit er neue Kräfte aus der Erde sauge und sich riesenhafter ihnen gegenüber wieder aufrichte, schrecken stets von neuem zurück vor der unbestimmten Ungeheuerlichkeit ihrer eigenen Zwecke, bis die Situation geschaffen ist, die jede Umkehr unmöglich macht, und die Verhältnisse selbst rufen Hic Rhodus, hic salta! Hier ist die Rose, hier tanze!“
Marx hat selbst aber auch revolutionäre Politik betrieben und man hat dadurch einige Vorschläge von ihm, was man unmittelbar tun solle. Allerdings war kaum eines seiner Betätigungsfelder erfolgloser als dieses. Seine erste Internationale spaltete sich unrühmlich zwischen ehrlichen, anarchistischen Revolutionären und biederen, deutschen Sozialdemokraten. Marx war auch noch auf der Seite der Sozialdemokraten. Trist, aber trist. Überhaupt wusste damals wie heute eigentlich niemand, wie man anfangen soll. Die Bourgeoisie herrscht und man kann von ihr wie von ihrem Staat schlechterdings nichts erwarten und also eigentlich auch nichts fordern, manchmal vielleicht erzwingen. Aber man kann, da die Produktionsmittel eben der Bourgeoisie gehören und dieser Titel auch vom Staat durchgesetzt wird, schwerlich unmittelbar mit der Organisation der neuen Produktion und Verteilung beginnen. Daher könnten nach Marx „die Arbeiter natürlich im Anfange der Bewegung noch keine direkt kommunistischen Maßregeln vorschlagen.“ Stattdessen sollen sie ihre Beherrscher dazu zwingen, „Produktivkräfte, Transportmittel, Fabriken, Eisenbahnen usw. in den Händen des Staates zu konzentrieren.“ Ferner sollen sie „die Vorschläge der Demokraten, die jedenfalls nicht revolutionär, sondern bloß reformierend auftreten werden, auf die Spitze treiben und sie in direkte Angriffe auf das Privateigentum verwandeln“. Dabei sollen sie immer einen Schritt voraus sein. Wenn „die Kleinbürger vorschlagen, die Eisenbahnen und Fabriken anzukaufen, so müssen die Arbeiter fordern, daß diese Eisenbahnen und Fabriken als Eigentum von Reaktionären vom Staate einfach und ohne Entschädigung konfisziert werden. Wenn die Demokraten die proportionelle Steuer vorschlagen, fordern die Arbeiter progressive; wenn die Demokraten selbst eine gemäßigte progressive beantragen, bestehen die Arbeiter auf einer Steuer, deren Sätze so rasch steigen, daß das große Kapital dabei zugrunde geht; wenn die Demokraten die Regulierung der Staatsschulden verlangen, verlangen die Arbeiter den Staatsbankrott.“ Man fordert also von der Bourgeoisie Dinge, die im Kapitalismus schlechterdings unmöglich sind, die andererseits im Kommunismus keinen Sinn mehr machen, da es keine Steuer und Schulden mehr geben wird. Aber dann? Die erpresste Konzentration der Produktionsmittel in Staatshand könnte nach Marx vielleicht helfen, das Kuddelmuddel der Produktion zu sortieren, aber irgendwann müssten die Arbeiter dann den Laden selbst übernehmen.
Diese eigenwillige Taktik der überspitzen Forderung setzt dabei schon eine entwickelte Arbeiterbewegung oder überhaupt eine revolutionäre Bewegung voraus. Was man heute unmittelbar tun kann oder gar soll, erfährt man von Marx nicht. Dabei waren die Fragen damals so akut wie heute, als gerade die Arbeiterbewegung von ihren sozialistischen oder meist pseudosozialistischen Führern eher überschätzt und verklärt wurde. Marx hatte wirklich keine gute Hand in praktischen Dingen. Etwa als sein kleiner revolutionärer Bund einigen Stress mit der Polizei und den Gerichten bekam, nahm er Jesusgleich die Sache auf sich, versuchte die Angelegenheit als rein geistige Angelegenheit darzustellen und so vor dem bürgerlichen Recht zu verteidigen. Die Angeklagten hätten gar „keinen Bund zum Sturz der jetzigen preußischen Regierung“ gestiftet und sich daher auch „keines ‚hochverräterischen Komplotts‘ schuldig“ gemacht. Kann schon sein, dass Marx sich nicht wirklich gegen die Gesellschaft verschworen hat. Aber es gab in diesem Bund auch praktische Revolutionäre wie Schapper, deren Aufgabe eben nicht in der Verfassung von Pamphleten besteht, sondern eher diese in die Gesellschaft zu tragen, Konflikten nicht per se aus dem Weg zu gehen und die dann eben zurecht auch von der alten Ordnung als Verschwörer gegen ebendiese Ordnung angesehen und behandelt zu werden. Man hält sich daher in diesen Fragen besser an Lenin oder Durutti. Zunächst wird man sicher mit kleinen Brötchen anfangen müssen, jeder Nadelstich, der geeignet ist, die liebgewonnenen Formen unserer Gesellschaft in Zweifel zu ziehen ist gut, sei er provokativ, gesetzesbrecherisch oder zunächst einfach nur die richtige Schrift, ein richtiger Gedanke zur richtigen Zeit. Das aber ist ein anderes Thema, ein schwierigeres Thema. Außer dass Karthago zerstört werden muss, wissen wir leider nichts. „Wie sich die zeitliche, empirische Gegenwart aus ihrem Zwiespalt herausfinde, wie sie sich gestalte, ist ihr überlassen und nicht die unmittelbar praktische Sache und Angelegenheit der Philosophie.“ (Hegel)