Einheit von Privatem und Politischem
Die Protestbewegungen, die sich in den 60er Jahren auf der ganzen Welt bildeten, waren vielfältig. Es waren nicht nur die expliziten politischen Bewegungen, die wie der SDS die theoretische Arbeit in den Mittelpunkt gerückt hatten oder die amerikanische Bürgerrechtsbewegung, die unmittelbar politische Reformen erkämpfen wollte, sondern auch diverse gegenkulturelle Gruppierungen, die die Revolutionierung von Musik, Kleidung, Liebe und Sexualität begannen. Da waren die Gammler, hauptsächlich Jungarbeiter, die keine Lust mehr auf ihre Arbeit hatten und für den Preis, auf der Straße zu leben, ihr Leben im Hamsterrad der falschen Versprechungen aufgaben. Da waren Bands wie die Rolling Stones, die dem breiter werdenden Publikum mit ihrem trotzig zur Schau getragenen Unbefriedigtsein aus dem Herzen sprach. Es wurde auch viel mit Drogen herumexperimentiert, hauptsächlich mit Marihuana und LSD. Überall ging es darum, die Individuen aus ihren angestammten Rollen zu befreien.
Gerade in den Hochzeiten der politischen Bewegung fielen dabei subjektive Befreiungsmomente eng zusammen mit einer radikaler Gesellschaftskritik, die auf die Aufhebung des Kapitalismus zielte und unmittelbar zur Praxis drängte. In der Studentenbewegung ging es neben der Kapitalismus- und Imperialismuskritik immer auch um Sexualität, Familie und andere Lebensformen wie die Kommune. Am Anfang waren damit keine therapeutischen Maßnahmen impliziert, sondern die revolutionäre Produktivkraft lag gerade in der kollektiven Wendung der sonst einsam ausgetragenen Neurose. In einer Beschreibung der Protestbewegung durch Wolfgang Pohrt von 1973 wird diese Stimmung besonders deutlich:
„Aus solcher im emphatischen Sinne ernsthaften Arbeit entstanden dann auch unbeabsichtigte Augenblicke, in denen die Befreiung von Mühe und Anstrengung wirklich glückte. Deshalb waren damals die Versammlungen und Demonstrationen, mit denen durchaus nicht zu spaßen war, umso viel vergnüglicher, als heute selbst die linken Feste sind. Psychoanalytische und gesellschaftstheoretische Kategorien waren Seziermesser, womit man die Personen und Institutionen, von denen man gequält wurde, genießerisch zerlegen konnte. Die einschüchternd akademische Universität entpuppte sich als Kadettenanstalt fürs Kapital, hinter furchterregenden Autoritätspersonen kamen faschistoide Kleinbürger zum Vorschein, prüde Moral war nichts weiter als schäbige Furchtsamkeit vor den eigenen deformierten Trieben. Wo solche Erkenntnisse Kritik blieben, Wut über die Unmöglichkeit, menschenwürdig zu leben, wurden sie auf unvorhersehbare Weise praktisch und lehrten die Bürger das Fürchten.“
Rebelliert wurde so gegen die sinnlose Disziplinierung für sinnentleerte Tätigkeiten, wobei auch nicht mehr an die Kompensationsprodukte von Ehe und Familie geglaubt wurde. Die Geistesstudenten hatten durch ihre Position – sie waren gleichzeitig der Disziplinierung unterworfen und vom Produktionsapparat ausgeschlossen – als erstes geschafft, sich politisch zu organisieren, aber vor allem bei jüngeren Arbeitern und Schülern fiel der neue Lebensstil, der durchaus auch mehr unmittelbaren Lustgewinn versprach, auf einige Begeisterung. Und sie waren schnell zu agitieren.
Die Revolte von 1968 bezog so ihre Stärke aus der prinzipiellen Infragestellung sowohl des scheinbar privaten Alltagsleben als auch der Lohnarbeit und der Disziplin. In der politischen Praxis sollte das schon vorweggenommen werden. Disziplin schien zwar noch nötig für die politische Praxis, sollte aber soweit wie möglich reduziert werden. Diese Form der Praxis, das freie Experimentieren, wurde in vielen verschiedenen Bereichen ausprobiert, nachdem sie zuerst bei den Demonstrationen praktiziert wurde. Da die Studenten selber keinen Zugang zu den Produktionsmitteln hatten, war diese Praxis naturgemäß mehr im Reproduktionsbereich zu finden. Das Bekannteste war die Kommune I, aber auch das politikwissenschaftliche Institut der Freien Universität Berlin (FU) galt als ein solches Experimentierfeld, dann die Kinderladenbewegung und sicherlich auch die Organisation der Bewegung selber mit ihren nicht-hierarchischen Formen von Teach-Ins und Sit-Ins. Johannes Agnoli verdeutlicht dies in einem Text von 1969 recht anschaulich:
„Die Desintegration der bestehenden Ordnung und das Experiment neuer Organisationsformen heißt die doppelte Aufgabe, die sich zumindest der bewußtere Teil der Apo stellt. Das verlangt auch eine doppelte Methode des Kampfes. Die Desintegration macht den Klassenantagonismus wieder sichtbar, das Experiment macht die Emanzipation schon jetzt praktisch. Die doppelte Aufgabe ist bestimmt nicht leicht. Wer bloß reformieren will, sich zu diesem Zweck der vorhandenen politischen, verfassungsmäßigen Organe bedient, braucht keine praktischen Experimente zu machen Er begnügt sich in der Tat mit Plänen, Vorschlägen und Versprechungen. Die bewusst desintegrierende ApO muss eigene Integrationsformen entwickeln, also freie Organisationsweisen praktizieren. Sie sollten den abhängigen Massen zeigen, dass die Abhängigkeit kein unabwendbares Schicksal ist, dass auch ohne Herrschaft produziert werden kann und dass Kinder auch ohne Paternalismus erziehbar und solidarisierbar sind. Die Demonstration – wenn man so will die Straßenschlacht oder das Lächerlichmachen der Autoritäten – ist nur eine Seite. Die andere Seite findet sich in den antiautoritären Kinderläden, in der fraglos schwierigen Arbeit der Basis-Gruppen oder endlich in dem ebenso schwierigen Verhältnis der Geschlechter. Und man findet sie auch in dem berühmtesten Experiment der Reorganisierung der wissenschaftlichen Arbeit am OSI-Berlin.“
Diese Experimente hatten den prinzipiellen Nachteil, dass die Vorwegnahme der freien Gesellschaft nur innerhalb der herrschenden Strukturen versucht werden konnte und so stets die Gefahr der Vereinnahmung bestand. Um diese zu verhindern, wandten, so Agnoli, die Studenten folgende Strategie an: Das Ziel der revolutionären Umwälzung der herrschenden Verhältnisse dürfe nicht aus den Augen verloren werden und die Experimente nicht auf ein bestimmtes Milieu beschränkt bleiben. Die Verallgemeinerung der neuen Verhaltensweisen auf die Gesamtgesellschaft war das Ziel:
„Die linken Studenten hingegen probieren die reformerisch sich gebende Revolution. Sie wollen experimentelle Überprüfung, wie man herrschaftsfreie Arbeit organisiert, und den im industriellen Prozeß unmittelbar stehenden Menschen zeigen, dass herrschaftsfreie Arbeit erstens möglich, zweitens effektiver ist. Dem Modell der Leistungsgesellschaft, dass eine Produktionssteigerung nur durch Ausschöpfung der letzten menschlichen Kraftreserven und gleichzeitige Minderung der Lust am Leben für möglich hält, wird Produktionssteigerung durch Selbstbestimmung der Produzenten und Befriedigung unmittelbarer Tätigkeitsbedürfnisse entgegengestellt. Dass die Vorlesungsstreiks und die Institutsbesetzungen nicht nur dazu dienen, studentischen Forderungen Nachdruck zu verleihen, sondern der Arbeiterschaft die ihr eigentümliche Weise des sozialen Kampfes in Erinnerung bringen soll, sei nur nebenbei gemerkt.“
Gerade für Letzteres musste eine breite Öffentlichkeit überhaupt Kenntnis erlangen über die neuen Experimente. Nur so konnten die Experimente wirklich als Öffentlichkeitsarbeit verstanden werden. Dies geschah innerhalb der Revolte von 1968 durch die Demonstration. Nur das Spektakel – die Besetzung der Universitäten, Straßenkreuzungen, oder der Bezirksämter – brachte genug Öffentlichkeit, um diese Form der Aufklärung wirksam werden zu lassen. So konnten die nicht-repressiv arbeitenden Kinderläden nur bekannt werden durch die Vermittlung eingeschlagener Fensterscheiben des Familienministeriums oder das Go-In von Eltern mit ihren Kindern in eine Sitzung des Abgeordnetenhauses. Letztendlich mussten die nur konsumierenden und passiven Fernsehzuschauer aus ihrer Lethargie gerissen werden und beginnen, an ihrer eigenen Veränderung und der der Gesellschaft zu arbeiten.