Kinderladenbewegung
Erst als die Frauen ihre eigenen Belange in die Hand nahmen, konnte aus dem Versuch der individuellen Emanzipation der Mütter, die schon vielfach die Scheidung eingereicht hatten und nun alleinerziehend waren, eine kollektive Emanzipation werden, der dann weitere individuelle Emanzipationsschritte folgen konnten. Organisatorischen Ausdruck fanden die angesprochenen Probleme im sich neu bildenden Aktionsrat zur Befreiung der Frau, der die Politisierung des Privaten wieder auf die Tagesordnung brachte. Hauptsächliche Protagonistin war Helke Sander, die als die Begründerin der westdeutschen Frauenbewegung angesehen werden kann. Sie war zum Zeitpunkt der Gründung des Aktionsrats alleinerziehend, studierte und finanzierte sich das Studium selbst. Als sie angefangen hatte, an der Filmakademie in Berlin zu studieren, war sie schon Ende zwanzig, hatte eine Ehe in Finnland hinter sich und war politisch vollkommen unbedarft. Aus rein praktischen Gründen zog sie mit anderen Leuten von der Filmakademie in eine Wohngemeinschaft. Ihre zumeist männlichen Kommilitonen nahmen sie mit zum SDS, und über die Diskussionen zu Vietnam und den Befreiungskampf erwachte in ihr die Erkenntnis, dass Veränderung möglich sei – nicht nur in Vietnam, sondern auch bei ihr selbst. Über die Identifikation mit den Kämpferinnen des Vietcongs lernte sie, die neuen Erkenntnisse auch auf ihre eigene Situation als Frau und alleinerziehende Mutter anzuwenden, und versuchte diese neue Sichtweise in die verschiedenen Gremien des SDS einzubringen. Hier scheiterte sie an der Borniertheit und Blindheit der Genossen. In ihrem autobiographisch geprägten Film »Der Subjektive Faktor« beschreibt sie eine Szene, in der sie zu einem Planungstreffen der Springer-Kampagne des SDS geht und den Genossen ein von ihr selbst entworfenes Flugblatt über die Manipulation der Hausfrauen vorlegt. Während sie darauf wartet, ihr Anliegen vorbringen zu dürfen, reden die aufgeblasenen Knilche blasiert über die Selbstorganisation der Massen und merken nicht, dass mit Sanders Initiative eine Form der Selbstorganisation beginnt, die sie mit ihrer einseitigen Ausrichtung auf die Arbeiter nicht erfassen können. „Geh mal zur Annemarie in die Küche, die beschäftigt sich mit solchen Geschichten“, heißt es im Film. Der Flugblattentwurf wird natürlich abgelehnt.
Die Situation hat sich so oder so ähnlich wirklich abgespielt. Annemarie hieß im richtigen Leben Marianne Herzog und die beiden Frauen verstanden sich auf Anhieb. Sie kamen zu der für sie damals neuen Erkenntnis, dass sich Frauen auch separat organisieren können: Sie begannen Gleichgesinnte zu suchen, indem sie praktisch wurden und Kinderläden einrichteten. Zur damaligen Zeit waren die Kindergärten in der BRD reine Verwahranstalten, die nur für Kinder in Anspruch genommen wurden, deren beide Elternteile sich gezwungen sahen, arbeiten zu gehen. Jeder, der es sich irgendwie leisten konnte, vermied diese Einrichtungen, von denen es gleichzeitig auch viel zu wenige gab, um den Bedarf zu decken. Es war daher nicht verwunderlich, dass sich zunächst erstmal Frauen mit Kindern organisierten. Die jüngeren Frauen ohne Kinder fühlten sich nicht diskriminiert, da sie auf all die unzähligen Demos, Teach-ins, Arbeitsgruppen und Feste gehen konnten. Ihre fehlende Beteiligung in den politischen Entscheidungsstrukturen und bei Diskussionen fassten sie als individuelles Versagen auf, dass irgendwann mit mehr Theoriearbeit zu kompensieren sein könnte. Vielen der sich als emanzipiert verstehenden Frauen war es unangenehm, mit den sich explizit als Frauen organisierten Frauen in Zusammenhang gebracht zu werden, weil sie so ihre eigene fragile Emanzipation in Frage gestellt sahen. Solange unter Emanzipation die Angleichung an die Männer verstanden wird, heißt Emanzipation immer Emanzipation von der Mutterschaft und aller damit verbundenen als weiblich geltenden Eigenschaften. Frauen, die Kinder bekommen, gelten oft schon allein deshalb als unemanzipiert. So wird aber die Kinderfrage wieder individualisiert und die Frage, wie Genossinnen und Genossen, die Kinder haben, eingebunden und unterstützt werden können, wird gar nicht erst gestellt.
Die Frauen wollten sich zwar selbst organisieren, aber nicht jenseits des SDS. Die Frage nach der Separation wurde nicht dogmatisch behandelt. Es war klar, dass eine Revolution nur gesamtgesellschaftlich möglich war, aber die Frauen wollten es vom Stand der revolutionären Bewegung abhängig machen, ob sie sich separieren wollten oder nicht. Auf der 23. Delegiertenversammlung des SDS hielt Sander ihre berühmte Tomatenwurfrede auch, um die Genossen um Unterstützung zu bitten: Die Kindergärtnerinnen, die gerade begannen, sich in einer Streikbewegung zu organisieren, wollten Marx lesen, und in der Organisation von Lesekreisen waren die Genossen ja nun wirklich geübt. Letztlich ging es dem Aktionsrat auch darum, durch die neuerliche Politisierung des Privatlebens die sich abzeichnende sterile Spaltung des SDS in Spontis und K-Grüppler zu verhindern, die sich zu diesem Zeitpunkt schon andeutete. In der Kinderladenarbeit sahen sie einen Angelpunkt, an dem die Vermittlung von privat und öffentlich hätte vorweggenommen werden können. Dies erwies sich als Trugschluss.
Da die Frauen mit dem Aufbau der Kinderläden Erfolg hatten – diese sprossen nun zumindest in Berlin wie Pilze aus dem Boden –, wollten die männlichen Genossen ihnen um nichts nachstehen. Plötzlich waren auch sie von der Wichtigkeit der Erziehung für die politische Praxis überzeugt und begannen sich einzumischen. Jedoch versuchten sie oft nur, ihren bisherigen Politikstil dem neu auftauchenden Aktionsfeld überzustülpen. Dieses wurde schnell auf den Namen „sozialistische Kinderladenbewegung“ umgetauft und ein Zentralrat der Kinderläden gebildet. Dieser sollte sowohl dem Reformismus vieler Kinderläden entgegenwirken als auch einen formellen Rahmen gegen die reale Zersplitterung bilden. Er blieb aber von den von den Frauen organiserten Kinderläden oftmals getrennt und stieß dort umso weniger auf Akzeptanz, als er sich auch selbst dem neuen Jargon der K-Gruppen bediente. Und so erschien die neuerliche Einmischung der Männer den hier aktiven Frauen als feindliche Übernahme. Schnell wurde den Frauen vorgeworfen, dass ihr Konzept kleinbürgerlich sei, und sie sich an die Erziehung der Arbeiterkinder machen sollten, statt ihren eigenen Kindern eine antiautoritäre Erziehung zukommen zu lassen. Sander machte jedoch deutlich, dass der in den Kinderläden ausgeübte Erziehungsstil für Kinder aus der Arbeiterklasse nicht angebracht sei, da diese für die hier erlernten Verhaltensweisen von ihren eigenen Eltern bestraft würden. Viele Kinderläden trennten sich daraufhin endgültig von der radikalen Bewegung, nahmen Geld vom Bezirk an und konformierten zunehmend. Die so wieder aus der Politik verdrängte oder sich selbst herausziehende weibliche Seite beschränkte sich wieder auf die Selbsthilfe.
Der Rückzug aus der Politik wurde durch den Umstand begünstigt, dass aus den neu gegründeten Kinderläden – die eigentlich dazu führen sollten, dass die Mütter mehr Zeit für die politische Arbeit aufbringen konnten – letztendlich selbst ein Fulltime-Projekt wurde. Schließlich sollten die Kinderläden ja mehr sein als die herkömmlichen Verwahranstalten, vielmehr ein Experimentierfeld für die antiautoritäre Erziehung. Auch der Aktionsrat zur Befreiung der Frau spaltete sich recht bald, nachdem Frigga Haug es schaffte, hier Fuß zu fassen. Haug war vorher mit ihrem Mann Wolfgang Fritz Haug im Argument-Club erfolglos damit beschäftigt gewesen, Dutschke und die Antiautoritären aus dem SDS herauszuhalten. Bei dem Herausdrängen der antiautoritären Genossinnen um Sander war sie deutlich erfolgreicher. Statt die Selbstorganisation weiter voranzutreiben, wollte Haug die zu diesem Zeitpunkt in der APO angesagten Texte mit den Frauen bearbeiten, um diese auf dasselbe theoretische Niveau wie die Männer zu bringen. Der Aktionsrat bekam zu dem Zeitpunkt den Spitznamen „Durchlauferhitzer“, weil die meisten Frauen, sobald sie sich fit genug dafür fühlten, zu den neu gegründeten K-Gruppen überliefen. Sander dagegen ging mit ein paar Genossinnen aus dem Aktionsrat heraus und gründete die Gruppe Brot und Rosen, die zu einem der wesentlichen Stichwortgeber für die jetzt erst wirklich entstehende Frauenbewegung wurde. Von ihr wurde das berühmte »Frauenhandbuch über Abtreibung und Verhütung« herausgeben und sie beteiligte sich an den Kampagnen gegen den §218 und gegen die Pille. (12) Beide wurden in dieser Zeit zu Synonymen der Frauenunterdrückung, da sich hier sowohl die Reduzierung der Frauen aufs Kinderbekommen als auch der Wunsch der Männer nach sexueller Verfügbarkeit der Frauen zeigte. Brot und Rosen schaffte es, die Forderung nach Abschaffung des §218 und den Kampf um eine auch für Frauen erfüllte Sexualität in einen bevölkerungspolitischen Kontext zu setzten. Nicht umsonst war Brot und Rosen eine der erfolgreichsten Gruppe der aufkommenden Frauenbewegung, da ihre Praxis auf ein wirkliches Bedürfnis der Frauen traf, die sich für eine ihnen gemäße Verhütung interessierten und selbser entscheiden wollten, ob sie Kinder wollten oder keine. Im Laufe der Frauenbewegung wurde dieser Versuch den Frauen ein wenig mehr an Kontrolle zurückzubekommen, jedoch etwas vorschnell als Möglichkeit schon in dieser Gesellschaft wahre Selbstbestimmung zu erlangen. Dies ist jedoch unter den herrschenden Bedinungen nicht möglich, weil auch die Verhütungs- und Kinderfrage und auch der Kinderwunsch selber immer von den gesellschaftlichen Umständen abhängt. Im Nachhinein zeigte sich so zunehmend, dass dieser häufig unabhängig von einer revolutionären Bewegung geführte Kampf letztendlich dazu führte, dass die Frauen lernten, Kontrolle über ihre Sexualität zu erlangen, was ihnen letztendlich half, den gesellschaftlichen Anforderungen nach der Vereinbarkeit von Beruf und Familie zu genügen und diesen Fragen letztendlich den revolutionären Stachel nahmen.
(12) Vgl dazu: Andrea Trumann: Feministische Theorie. Frauenbewegung und weibliche Subjektbildung im Spätkapitalismus. Stuttgart 2002.