Sehnsucht der alten Welt nach ihren Totengräbern
Der Ausbruch einer Revolution wird gerne einer ominösen revolutionären Situation zugesprochen, so als ob sie vom Himmel fiele, ganz ohne Auguste Blanqui, Michail Bakunin, die Bolschewiken, die Federación Anarquista Ibérica (FAI) oder andere revolutionäre Clubs. Hier wird dagegen auf die absolute Notwendigkeit wenigstens einzelner noch so kleiner revolutionären Zellen verwiesen, ohne die es nie eine revolutionäre Situation gab und auch niemals geben wird. Die Polizisten und Politiker sehen das normalerweise sehr ähnlich. Sie stellten sich, wie der Berliner Bürgermeister Heinrich Albertz, die Revolten als „von einer extremen Minderheit ausgelöst“ vor und versuchten, die Kader ausfindig zu machen. Nach dem 2. Juni schimpfte daher die Gewerkschaft der Polizei über die „Verhaltensweise einer Minderheit Wirrköpfiger und der sich zu ihnen gesellenden hysterischen notorischen Radaumacher“ und der Bürgermeister kündigte Schnellgerichte zur zügigen strafrechtlichen Verfolgung der „Rädelsführer“ an. Am Klarsten sah der Geschäftsführer der CDU-Fraktion im Berliner Abgeordnetenhaus Heinrich Lummer:
„[Man kann] die Studenten nicht mit der Kommune identifizieren. Dabei müssen wir sehen, es gibt solche Gruppen, die in der Tat die Absicht haben, diese Gesellschaft zu beseitigen, diese Gesellschaft zu verändern. Wir stellen hier nicht nur fest, dass das Ziel bei diesen Studenten die Revolution ist, sondern auch die Mittel revolutionär sind. Hier haben wir doch zu konstatieren, dass sich eine Gruppe von Studenten bewußt außerhalb der Gesellschaft gestellt hat, dass sie der Auffassung ist, diese bürgerliche Gesellschaft trage einen ‚mörderischen und selbstmörderischen Charakter‘ und dass sie darüber hinaus der Meinung ist, dass durch einen Prozeß der Bewußtseinsbildung und Radikalisierung ‚die notwendigen Bedingungen einer systematischen Umwälzung der Gesellschaft fortzuentwickeln‘ seien. […] eine Lösung des Problems [ist] doch wohl nur dadurch möglich, wenn man die erwähnte Gruppe, die nicht die Studentenschaft schlechthin ist, vom Körper der Studentenschaft als Ganzem isoliert.“
Was das Polizeidenken freilich nicht begreift, sind die objektiven Bedingungen der tatsächlichen Revolten, die doch eigenen Gesetzen folgen und eigene Ursachen haben. Unmöglich kann ein Bürger die Tatsache begreifen, dass die eigene Herrschaft auf Sand gebaut und die Unterworfenen jederzeit gegen ihre Wärter aufbegehren können und dies dann auch selbst zu verantworten haben. Sie halten ihre Ordnung für so perfekt, dass sie von Revolten jedes Mal aufs Neue überrascht sind. Außerdem sind sie eitel genug zu glauben, dass ihre Welt so gelungen ist, dass nur eine äußerliche Einflüsterung die Masse dazu bringen kann, sie grundsätzlich abzulehnen. Die Bürokraten können den Klassenkampf nicht sehen, solange er kein Bewusstsein hat. Bekommt der Klassenkampf aber Bewusstsein, so wird sich dieses sogleich als von einer sinistren Macht eingeredet vorgestellt und die wirklichen Akteure gelten als nur verführt – wobei die Bürger die Verführung natürlich für eine Sünde halten. Dadurch kann der Bürger den untergründigen Zusammenhang vereinzelt ausbrechender Revolten nicht erkennen. So war man in Deutschland daher auch allerorten überrascht, dass eine Revolte ausbrechen konnte; dabei hatte es in den USA – woher die meisten Aktionsformen importiert wurden – den Aufstand von Watts, die Unruhen in Berkeley, die frustrierte Jugend schon gegeben und auch in Deutschland gab es die Zerlegung der Waldbühne aus Anlass eines Stones-Konzerts, die Schwabinger Krawalle und andere gewalttätige Eruptionen halbstarker, meist männlicher Jungarbeiter, schon bevor der erste Student auch nur ein Farbei geworfen hatte. Solche feineren Unterströmungen der Gesellschaft machen einen bewussteren Aufruhr möglich und es ist keineswegs Zufall, dass Kunzelmann die Schwabinger Krawalle als Vorbild für die ersten antiautoritären Studentendemonstrationen hernimmt.(4) Solche Ereignisse hatten schließlich den Boden für eine offensive Politik innerhalb der Subversiven Aktion geschaffen, indem sich durch sie offenbarte, dass auch die integrierte Klassengesellschaft jederzeit Risse bekommen konnte:
„Die ‚Schwabinger Krawalle‘ im Sommer 1962 waren ein wichtiger Einschnitt, weil hier das dumpfe Adenauersche, kleinbürgerliche, geldgeile, die Vergangenheit ignorierende Land einen Knacks bekam. Ja, aber wir waren natürlich auch wahnsinnig angetan von den Leuten, die sich nichts haben bieten lassen. Das waren sehr viel mehr, als wir dachten. Das ist immer so. Wir haben am Ende der Subversiven Aktion gedacht, unser Potential sind ein paar Leute. Innerhalb eines Jahres waren es Tausende.“ (Dieter Kunzelmann 1998)
Die Tatsache, dass sich eine scheinbar abseitige Meinung revolutionärer Minderheiten von jetzt auf gleich zu einem Aufstand verdichten kann, machte die Bourgeoisie von 1968 leicht paranoid, gerade, weil sie den objektiven Grund dieser Verdichtungen nicht erkennen kann. In Frankreich, teilweise auch in Deutschland, wo es nach 1968 eine relativ starke Lehrlings- und Schülerbewegung gab und vollends in der nachfolgenden Arbeiterinnenbewegung Italiens wurde ferner gezeigt, dass der Größenwahnsinn einer Minderheit zum handfesten Klassenkampf werden kann, gerade, weil in diesem Größenwahn die Widersprüche der Epoche ihre Auflösung finden. In Krisen wie 1968 wird deutlich, dass Einzelne an das ganze Gebäude Hand anlegen können, wenn sie nur geeignete Gelegenheiten erfinden, abwarten und ausnutzen. Dass Einzelne dies vermögen, liegt aber nur daran, dass die Welt nach der kommunistischen Umwälzung objektiv verlangt. Es ist ja tatsächlich sehr dringend, den jetzigen Verkehrsformen ein Ende zu setzen. Es ist dies nicht eine Erfindung von Marx oder Dutschke.
Nicht zuletzt schreit paradoxerweise auch die Ordnung selbst nach ihrer Abschaffung. Die Auseinandersetzung am 2. Juni war ja eigentlich eine Niederlage: die Studenten wurden von der Polizei gejagt, verprügelt und einer von ihnen erschossen. Aber allein die Tatsache, dass der Senat es sich zum Ziel gesetzt hatte, die studentische Opposition zu vernichten, bevor diese überhaupt im relevanten Umfang existierte, zeigte die Lust des Apparates nach einer revolutionären Opposition. Erst die Annahme von Polizei, Politiker und Presse, man hätte es hier mit einem organisierten Widerstand zu tun, der den Umsturz plane, brachte eine solche Bewegung in nennenswertem Umfang hervor. Der Wunsch der Ordnung nach Revolution drückt sich dabei negativ in der Zuschreibung von protestierenden Studenten und Studentinnen aus, die in ihrer Mehrheit erstmal naive Demokraten waren, die nicht wollten, dass die Bundesrepublik einen Diktator unterstützt. So schrieb die ehemalige SDS-Aktivistin Susanne Schunter-Kleemann in ihren Erinnerungen:
„Selbst die ersten, noch ganz liebenswürdigen Demonstrationen gegen den Vietnamkrieg und die ersten Versuche, Aufklärung zu betreiben, stießen auf solch großen Widerstand, dass man langsam kapierte: ‚Aha, wer hier nicht mitschwimmt, gehört automatisch zur anderen Seite!‘ Insofern würde ich sagen, dass es gar kein selbstgewählter Prozess war, sondern dass man schrittweise zu dem wurde, wozu sie einen machten, nämlich zu einer Linksradikalen. Ich war eigentlich ein ganz liebes Mädel damals. Aber als ich irgendwann einmal feststellte, ‚ich bin ja schon Verfassungsfeindin, nur weil ich bestimmte Dinge ausspreche‘, die ich als unerträglich empfinde, war das für mich eine ganz entscheidende Erkenntnis.“
Auch waren die Kommunen eigentlich eher prüde, auch wenn die Rede von der sexuellen Befreiung allgegenwärtig gewesen sein muss. Es wurde zwar etwas herumprobiert, aber insgesamt ging es wohl eher verklemmt zu, gerade auch in der Kommune I:
„Über unser Sexualleben würde ich heute sagen, dass bei allen Beteiligten der sexuelle Notstand herrschte. Denn man hatte eher viel zu wenig Sex, was dazu führte, dass man immer wieder mal mit jemandem ins Bett ging. Das waren Situationen, wo man mit Genossen gerade etwas Schönes gemacht hatte und dann auch ins Bett sank, weil dich jemand in den Arm nahm. Zwar sah das nach viel Sex aus, war aber doch eher unbefriedigend.
Ein Mann, der mich eine Zeit lang sehr interessierte, war Fritz Teufel. Ich fand ihn wirklich prickelnd, wenn es im Bett auch eher enttäuschend war. Das war bei vielen SDSlern so. Wir Frauen wussten das, weil wir uns natürlich darüber austauschten. Die Männer waren sehr intellektuell oder satirisch gut drauf, aber im Bett oft verklemmt und gehemmt. Sie redeten im Grunde viel mehr darüber, als dass sie tatsächlich praktizierten.“ (Schunter-Kleemann)
Und die von der Presse aufgebauschten Aktionen selbst der radikalen Studenten beschränkten sich auf harmlose Mittel wie Pudding, Rauch und Eier. Trotzdem warb der Stern schon für die kommende Auflösung der Eigentumsordnung und der Ehe:
„Sie verachten Arbeit als ‚Schande‘ und das Arbeiterparadies DDR als ‚bürgerlichen Idiotenhaufen‘. Sie predigen Haß gegen die Bundesrepublik und freie Liebe auf der gemeinsamen Bude. [...] Sie wollen potentielle Anhänger ihrer Idee, ‚Schüler, Studenten, Lehrlinge, Jungen und Mädchen aus den Beatlokalen, zu Ladendiebstählen in Kaufhäusern und Supermärkten anhalten‘ und dabei mit eigenem Beispiel vorangehen und so ‚an den neuralgischen Punkten des Systems des Privateigentums den verbrecherischen Irrsinn dieses Systems [...] bloßlegen‘. Sie wollen ‚leerstehende Villen im Grunewald und andere Privathäuser in Berlin mit revolutionären Kommandoaktionen besetzen, [...] um gegen das Privateigentum auf dem Wohnungsmarkt zu protestieren‘.“ (Stern 1968)
In ihrer entfremdeten Arbeiterpoesie hatte wiederum die Bildzeitung das breite Volk von der „Horrorkommune“, den „FU-Chinesen“ oder den „geschulten kommunistischen Straßenkämpfern“ unterrichtet und so die Linie der Revolte vorgegeben, noch ehe sie auch nur unter den Studenten verbreitet war, die dadurch schon über Propagandainstrumente verfügten, die „Haltet den Dieb“ schrien, noch bevor irgendjemand etwas geklaut hatte. Der Nutzen und Nachteil der propagandistische Wirkung der Bildzeitung wurde dann auch in der sehr guten Broschüre »Der Untergang der Bildzeitung« einiger Antiautoritärer eingehender analysiert: Einerseits waren die radikalen Studenten davon fasziniert, „dass die BILD-Zeitung auch harmlosere Aktionen mit einer Aura von Katastrophe, Aufstand, Machtkampf umgab, die weit mehr als die tatsächlichen Aktionen den Intentionen der revolutionären Studenten gerecht wurden“. Die Studenten lernten so ihre eigene Macht und Gefährlichkeit kennen und „sahen sich dem Anspruch verpflichtet, der ihnen gerade in diesen Verzerrungen entgegentrat“. Andererseits schien dadurch eine „Selbsttäuschung“ und Überschätzung in Gang gesetzt, da die Masse der politisierenden Studenten diese von der BILD vorschnell unterstellte Gefährlichkeit sich in Wirklichkeit „erst zutrauen lernen mußten“. Die Übertreibung der sprengenden Wirkung der weitgehend naiven Aktionen der Studenten zu „Studentenbomben“ (BILD) hatte nämlich auch das Ziel, die in Wirklichkeit harmlosen Aktionen „der Enttäuschung der Leser preiszugeben“ (SDS-Autorenkollektiv/Springer-Arbeitskreis der KU1969), die natürlich wussten, dass durch ein mehr oder weniger provokantes Flugblatt oder durch ein mit Plackerfarbe gefülltes Ei noch kein Eigentümer enteignet wurde.
(4) Allerdings erst zwei Jahre nach den wirklichen Protesten, aus denen sich Kunzelmann und die Subversive Aktion herausgehalten hatten und zum damaligen Zeitpunkt auch nichts Fortschrittliches, sondern nur integrierte Halbstarke mit kleinbürgerlichen Zielen hatten erkennen können.