Einleitung
Die Revolte von 1967/68 ist nicht nur bereits 50 Jahre her, es gab seither auch noch einen Epochenwechsel. Der Untergang des Ostblocks – und damit das Ende des damals die Welt prägenden Konflikts – lässt die alte BRD und ihre Geschichte verblassen, zumal dieser Zusammenbruch der Nachkriegsordnung inzwischen selbst schon wieder über 25 Jahre her ist. Die Gegenwart kennt ihre eigenen Konflikte und ist von gewaltigen politischen wie wirtschaftlichen Umbrüchen geprägt. Was soll man also heute mit Rudi Dutschke und Dieter Kunzelmann anfangen? Die jungen Leute kennen sie gar nicht erst; die Unruhen von 1968 scheinen inzwischen recht fern.
Versetzt man sich aber in die bleierne Zeit der 50er und frühen 60er, war damals von unserem Standpunkt aus eigentlich alles wie heute: Die Idee des Kommunismus war nach der absoluten Niederlage der ersten Arbeiterbewegung völlig obsolet – und erschien scheinbar plötzlich doch wieder an der Oberfläche. Sie wurde lange durch verschiedene gesellschaftliche Eruptionen angekündigt und kam am Ende trotzdem für die meisten überraschend. Die Schwabinger Krawalle und die Zerlegung der Waldbühne bei einem Stones-Konzert in Deutschland, die Unruhen der Schwarzen in den USA oder die Kämpfe der Guerillas in der Dritten Welt – all diese diffusen Erscheinungen ergaben erst Sinn, als das Gespenst des Kommunismus erneut sein Haupt erhob. Plötzlich begriffen viele, dass man sich keiner existierenden Strömung anschließen konnte, sondern dass man die revolutionäre Bewegung von Grund auf neu erfinden und vor allem, dass man dafür selbst aktiv werden müsse. Ähnliches steht heute an. Gesellschaftliche Kämpfe finden durchaus überall statt, es gibt gelegentliche Beben gerade auch im ehemaligen Westen: 2005 brannten die französischen Vorstädte, 2006 erhoben sich die Studenten desselben Landes anlässlich eines Gesetzes zur Arbeitsmarktreform, und 2010 traten dann die Arbeiter auf die Bühne und legten unter anderem die Benzinversorgung des Landes lahm. 2008 ein Aufstand der Jugend in Griechenland, 2010 die sich bis zum Riot steigernden Proteste der Studenten in London und danach 2011 die sofort verdrängten großen Plünderungen der an den Rand Gedrängten. 2011 die Kämpfe des Arabischen Frühlings und die Platzbesetzungen der Occupy-Bewegung, wobei Occupy Oakland aus den USA noch die Radikalsten waren. 2012 ein feuriger Generalstreik in Barcelona und jenseits des Atlantiks die umfassenden Proteste französisch-kanadischer Studenten in Quebec oder später die Unruhen und Plünderungen durch Schwarze in den USA. Zuletzt widersetzten sich relevante Teile der französischen Bevölkerung ca. ein Jahr lang einem neuen Arbeitsgesetz und sogar in Deutschland sah die erstaunte Öffentlichkeit anlässlich des G20 einige Straßenzüge des Schanzenviertels in Hamburg über Stunden von der Polizei befreit. Schließlich brach sogar im Iran ein Aufstand aus, der das System der Mullahs in Frage stellte und brutal niedergeschlagen wurde. Aber wie in den 60ern fehlt die revolutionäre Bündelung all dieser isolierten und dadurch auch wieder verschwindenden Ereignisse, die für sich genommen nicht einmal besonders Fortschrittlich sind.
Unter diesem Gesichtspunkt erscheint uns das Geschehen rund um 1968 und insbesondere die Vorgeschichte dieser scheinbar spontan entstandenen Bewegung auch heute noch relevant. Denn es bedurfte nur relativ kleiner Gruppen, um den Revolten in der bereits schwankenden Ordnung eine utopische Richtung zu geben. In Deutschland ist die Erfüllung dieser Aufgabe eng an die Subversive Aktion gebunden, die sich 1963 gründete und deren Theorie und Praxis der bis dahin eher biederen deutschen Linken ihren Stempel aufdrückte und Ideen von Kommunismus jenseits seiner autoritären Variante im Osten für weitere Kreise attraktiv und überhaupt wieder zum gesellschaftlichen Thema machte. Insbesondere propagierte die Subversive Aktion die Revolutionierung auch des Privatlebens, also das, was das Neue an 1968 sein sollte und bis heute unser Bild von damals bestimmt: die Verbindung politischer Praxis mit der Kollektivierung des eigenen Wohnraums in der 1967 gegründeten Kommune I, die sexuelle Befreiung, die selbst organisierte und zu verantwortende kollektive oder individuelle – in jedem Fall direkte – Aktion. Nicht nur die Gesellschaft sollte umgemodelt werden, sondern dabei und zuerst jeder Einzelne bis in die kleinste Faser hinein. Agitation wurde durch Provokation ersetzt, weil sonst sowieso kein Herankommen an die Abgestumpften möglich wäre. All diese von der Subversiven Aktion vorbereiteten Momente erlebten dann in der antiautoritären Bewegung ihre Blüte, etwa in der Demonstration gegen den Schah 1967, den Aktionen gegen den Vietnamkrieg und die Springerpresse ab 1966/1967 oder in den Osterunruhen 1968 nach dem Attentat auf Dutschke. Der Schwerpunkt auf dem Privatleben machte die Bewegung dabei auch für Frauen interessant, die sich die Slogans auf ihre Weise aneigneten, von der sonstigen Bewegung aber weitgehend ignoriert und abgestoßen wurden, gerade weil sie pointierter die Reproduktionsseite des gesellschaftlichen Verhängnisses thematisierten, während die männliche Hauptaktion sich zunehmend durch einen überbordenden Aktivismus lähmte. Dieser sich hier zuspitzende Widerspruch zwischen Produktion und Reproduktion hat die Revolte im Wesentlichen geprägt und wurde beständig auf neuer Stufenleiter durchdekliniert, um immer wieder neue Abspaltungsprodukte hervorzubringen, die letztlich genauso zur Dynamik wie zur Auflösung und zum Zerfall der Bewegung führten. Diese Geschichte soll hier erzählt werden.