Von der Plakataktion zum Vietnamkongress
Dutschke, der seit 1964 die Befreiungsbewegungen der Kolonialländer in den Blick nahm, hatte dabei nicht primär Vietnam im Fokus, sondern Che Guevara und die lateinamerikanischen Revolutionen, denn hier fand er im Gegensatz zu Vietnam Gruppierungen vor, die sich zunächst unabhängig von der Sowjetunion setzen wollte. In Berlin guckte er sich dementsprechend um. Als Dutschke sich im Mai 1965 von der Subversiven Aktion trennte, war sein Bezugspunkt eine „internationale Truppe“ (Dutschke) in Berlin, die hauptsächlich aus Lateinamerikanern bestand.
Ab Anfang 1966 trat für Dutschke dann der Vietnamkrieg in den Vordergrund. Dies war nicht allein der Empörung gegen einen Krieg geschuldet, der sich während des Jahres 1965 deutlich ausgedehnt hatte und durch die Grausamkeit der Napalmbomben aufrüttelte, sondern dem Umstand, dass es sich beim Vietnamkrieg um ein emotional aufgeladenes Ereignis handelte, das politisch ausgenutzt werden konnte. Denn die Berliner Bevölkerung und auch die BRD-Politiker identifizierten sich mit Südvietnam, dessen Freiheit in ihren Augen von den Amerikanern gegen den Vietcong verteidigt wurde. Nach dieser Logik traten die die Amerikaner in Vietnam unmittelbar für die Freiheit Berlins gegen den Kommunismus ein, von denen man sich in der Frontstadt Berlin besonders bedroht fühlte (ein Argument, das auch die Amerikaner ab Mitte der Sechziger verstärkt nutzen, um ihre umstrittenen Kriegsbemühungen zu rechtfertigen). Entsprechend rief die BILD-Zeitung Weihnachten 1965 zu Spenden auf, damit US-amerikanische Freiheitsglocken an alle amerikanischen Familien mit gefallenen Söhnen geschickt werden konnten. Sie trugen die Aufschrift: „Von den freiheitsliebenden Berlinern, die wissen, dass auch die Freiheit ihrer Stadt in Vietnam verteidigt wird.“ Der regierende Bürgermeister Willy Brandt sowie die CDU unterstützten diese Initiative.
Mit der Verdammung des Vietnamkrieges hatte Dutschke demnach einen Punkt gefunden, der die zu dem Zeitpunkt größtmögliche Provokation darstellte: die Verunglimpfung der Besetzungsmacht, gegenüber der man zu Dankbarkeit verpflichtet war – nicht, weil sie einen vom Faschismus befreit hatte, sondern weil sie einen vor dem Kommunismus rettete. Außerdem gab es mit den Ostermärschen bereits pazifistischen Widerspruch an den man anknüpfen und den man radikalisieren konnte. Mit einer Plakataktion gegen den Vietnamkrieg konnte ein öffentlicher Skandal lanciert werden. Ein von Dutschke und dem bekannten Kabarettisten Wolfgang Neuss erstelltes, ebenso hochmoralisches wie agitatorisches Plakat verurteilte den Mord an der vietnamesischen Bevölkerung. Seine Aussage: In Vietnam werde nicht die Freiheit verteidigt, sondern die kapitalistischen Interessen des Westens durchgesetzt. Mit dieser Aussage wurde der Krieg als notwendiger Bestandteil der westlichen Demokratien entlarvt.
Diese Entzauberung der Demokratie führte zu einer Radikalisierung der Studenten, die sich am ehesten angesprochen fühlten. So kam gerade dem Kampf gegen diesen Krieg eine enorme aufklärerische Bedeutung zu, denn wenn in der durch die USA verkörperten Demokratie selbst Krieg und Mord angelegt waren, dann war vielleicht insgesamt etwas an dem Konzept von Kapitalismus und Demokratie falsch. Die Delegitimisierung der Besatzungsmacht war letztendlich der Hebel, um eine „formierte Gesellschaft“ (Ludwig Erhard) aufzubrechen. Als die SDS-Führung diese Plakataktion verurteilte und nach Ausschluss rief, weil sie diese Aktion zu unseriös fand, antwortete Dutschke: „Was bedeutet formierte Gesellschaft für uns eigentlich? Sie zeichnet sich dadurch aus, daß sie durch sozialpsychologische Mechanismen Kritik unterdrücken kann. Kritik bleibt unsichtbar, solange sie nicht provoziert.“
Und die Provokation klappte: Einige Plakateure wurden festgenommen und die Zeitungen behandelten die Aktion als Skandal. Dies wurde noch dadurch verschärft, dass ein paar Tage später eine Anti-Vietnamkriegs-Demonstration vom Dutschkeflügel in die Illegalität überführt wurde und Eier auf das Amerikahaus flogen. Das Establishment war entsetzt, die Zeitungen waren voll von der Plakataktion und den Eierwürfen. Die CDU organisierte Gegenkundgebungen, der Uni-Rektor der FU-Berlin entschuldigte sich schriftlich beim US-Stadtkommandanten Westberlins und ein SPD-Abgeordneter fühlte sich an die Provokationen der Nazis erinnert. Mithilfe dieser Öffentlichkeit gelang es jedoch, die Ideen der radikalen Studenten und Studentinnen an immer breitere Kreise heranzutragen, die fasziniert waren von diesen für die damalige Bundesrepublik ungeheuerlichen Aktionen. Eines der unmittelbaren Ergebnisse dieser Aktionen war, dass das von Dutschke zusammen mit dem an der Plakataktion beteiligten Kommunarden und SDS-Aktivisten Hans-Joachim Hameister
geleitete Seminar zum Bgriff der „Formierten Gesellschaft“ im Sommersemester 1966 mit 140 Teilnehmern deutlich überfüllt war.
Doch hatte dieser Auftakt den Geburtsfehler, dass es eine manipulative Aktion war, die hauptsächlich auf Gefühle setzte und sehr moralisch daher kam: „Mord“ stand fett gedruckt im Mittelpunkt des Plakats, auch war die Rede von „unterdrückten Völkern“ und von einem „Völkermord“, den die herrschenden Kapitalisten angeblich begangen. Sicherlich bestritten nicht einmal die Amerikaner selbst, dass, wenn sie davon sprachen, die Freiheit zu verteidigen, sie dabei die Freiheit des Kapitals meinten. Dies galt auch dann, wenn man etwa in Vietnam eher ein Exempel statuieren wollte, um den Ausbeutungsfrieden zu sichern, und es nicht um Bodenschätze ging. Die Sorge, dass einem die imperialistische Ausbeutung nicht mehr gelingen könnte, wenn sich immer mehr sogenannte Dritte-Welt-Länder der Sowjetunion zuwenden würden, war sicherlich nicht von der Hand zu weisen. Wenn auch die in den frühen 50er Jahren entwickelte Dominotheorie, die davon ausging, dass, wenn ein Land kommunistisch würde, auch die Nachbarstaaten „kippen“ würden, sich im Fall Vietnam nicht bewahrheitete, als sie 1975 den Krieg für sich entscheiden konnten. Dies mag aber auch an der großen Opferzahl gelegen haben, mit welcher der Sieg bezahlt werden musste, und die möglicherweise potenzielle Nachahmer abschreckte.
Da die Kriegsführung der Amerikaner auf Zivilisten nicht besonders viel Rücksicht nahm, konnte es tatsächlich so erscheinen, als ob die Amerikaner einen Völkermord begehen würden. Die hohe Rate an zivilen Opfern unter den Vietnamesen lag aber oftmals daran, dass die amerikanische Armee über keine besonders ausgeklügelte Taktik verfügte und etwas zweifelhafte Methoden hatte, den Fortschritt ihrer Kriegsführung zu bewerten. Die Operation „Rolling Thunder“ zum Beispiel, bei der durch Luftangriffe versucht wurde, die kommunistischen Nordvietnamesen an der Unterstützung der südvietnamesischen Befreiungsbewegung NFL zu hindern machte viele Kleinstädte und Dörfer den Erdboden gleich und führte zu einer großen Anzahl von Opfern unter der Zivilbevölkerung, hinderte aber die Nordvietnamesen nicht daran, weiterhin Menschen und Material über den Ho Chi Minh-Pfad nach Südvietnam zu transportieren. In Südvietnam indessen handelte es sich um einen Bürgerkrieg, der von den amerikanischen Streitkräften zusammen mit der südvietnamesischen Armee gegen die NFL und ihren Verbündeten, die nordvietnamesische Armee, geführt wurde. Ziel der Amerikaner war es, die Kommunisten durch eine Zermürbungstaktik zum Aufgeben zu zwingen. Dies bedeutete letztlich, möglichst viele von ihnen umzubringen. Den Erfolg bemaß man am sogenannten „body count“ der Anzahl der getöteten Feinde im Verhältnis zu den eigenen gefallenen Soldaten. Für die Amerikaner war es jedoch oftmals kaum ersichtlich, wen sie nun genau getötet hatten. Entsprechend waren häufig Zivilisten unter den Getöteten oder sogar Soldaten der südvietnamesischen Streitkräfte. Wenn sich die Amerikaner angegriffen fühlten, waren für sie alle Vietnamesen Vietcong. Diese Taktik war kaum nachhaltig. Der Aufbau einer „freien“ Gesellschaft kam zu kurz, die wirklichen Basen der Befreiungsbewegung konnten nicht zerstört werden und die Taktik war so material- und soldatenintensiv, dass immer mehr Nachschub benötigt wurde, der nicht immer gewährt wurde.
Vietnamesen und Vietnamesinnen wurden also tatsächlich massenhaft ermordet, nur sollten eben nicht die Vietnamesen als Volk ausgetilgt werden. Für die Amerikaner hätte es genügt, dass sie sich unterwerfen.
Auch stimmte die Metaphorik von den unterdrückten Völkern, die von herrschenden Völkern ausgebeutet werden, schon im Vietnamkrieg nicht wirklich. Es ging um die Verteidigung eines Systems, das der kapitalistische Westen durch den Kalten Krieg in Gefahr sah, eben auch, wie in diesem Fall, auf Kosten der Zivilbevölkerung. Bei der Rede von unterdrückten Völkern wird leicht vergessen, dass auch der Kampf gegen diese Unterdrückung autoritär strukturiert sein kann und die Unterdrückten und ihre Organisationen nicht unbedingt moralisch überlegen sind. Die hohen Opferzahlen im Vietnamkrieg waren jedenfalls nicht allein der Taktik der USA geschuldet, auch die NLF und die nordvietnamesische Armee setzten auf verlustreiche Strategien, die nicht nur in den eigenen Reihen viele Opfer forderte. Im Zuge der von den Studenten gefeierte Tet-Offensive der NLF im Januar 1968 etwa kam es auch von Seiten der NLF zu Massakern an der Zivilbevölkerung. Die Volksmetaphorik, welche in der Plakataktion Dutschkes und seiner Mitstreiter bedient wurde, ließ keinen Platz für die Kritik an staatssozialistischen Bewegungen in der Dritten Welt und öffnete einer unkritischen Solidarität Tür und Tor.
War die Vietnamsolidarität ein Auslöser für die Entstehung der antiautoritären Bewegung, so war der Vietnamkongress im Februar 1968 gleichzeitig Höhepunkt und Beginn ihres Verfalls. Bereits zu diesem Zeitpunkt zeigte sich Dutschke etwas ratlos. Der starke Wachstum der Bewegung von einem kleinen Häuflein auf 15.000 Leuten innerhalb von zwei Jahren konnte nicht verhehlen, dass ihre Ausbreitung sich hauptsächlich im studentischen Milieu vollzogen hatte und die Arbeiterklasse sich eher reserviert zeigte. Partiell würden zwar laut Dutschke die gesellschaftlichen Widersprüche, die in Vietnam sichtbar geworden waren, auch ins Bewusstsein der lohnabhängigen Massen dringen, aber diese noch vom Faschismus geprägten Massen seien unfähig, politischen und ökonomischen Herausforderungen von sich aus spontan zu begegnen. Licht am Horizont sah Dutschke dagegen nicht unberechtigter Weise bei Schülern, Auszubildenden und ausländischen Arbeitern. So attestierte er den rebellierenden Bremer Schülern das richtige Politikverständnis:
„Die Bremer Schüler haben angefangen und gezeigt, wie in der Politisierung unmittelbarer Bedürfnisse des Alltagslebens – Kampf gegen Fahrpreiserhöhungen – subversiver Sprengstoff entfaltet werden kann. Ihre Solidarisierung mit den lohnabhängigen Massen, die richtige Behandlung der Widersprüche machen die Auseinandersetzungen in radikaler Form möglich. Es hängt von unseren schöpferischen Fähigkeiten ab, kühn und entschlossen die sichtbaren und unmittelbaren Widersprüche zu vertiefen und zu politisieren, Aktionen zu wagen, kühn und allseitig die Initiative der Massen zu entfalten. Die wirkliche revolutionäre Solidarität mit der vietnamesischen Revolution besteht in der aktuellen Schwächung und der prozessualen Umwälzung der Zentren des Imperialismus.“
Hier, so Dutschke, kam das Private und das Politische zusammen. Von den unmittelbaren Interessen ausgehend sollten die Zentren des Imperialismus geschwächt werden. Die globale Weltrevolution sollte mit der alltäglichen Praxis vereinbart werden.
Nun ist eine Auseinandersetzung um Fahrpreiserhöhung sicherlich keine schlechte Sache, aber es ist doch recht ernüchternd, dass Dutschke dieses Projekt mit so viel Pathos und Leidenschaft anpreist, als ob dadurch der vietnamesischen Revolution schon besonders viel geholfen gewesen wäre. Es stellt sich die Frage, welche Breite die Bewegung in Deutschland zu diesem Zeitpunkt tatsächlich hatte und daraus folgend, ob, wenn man scheinbar noch vollkommen am Anfang stand, nicht eine etwas langsamere Aufbauarbeit sinnvoller gewesen wäre.
Andererseits hatte Dutschke vielleicht auch nicht ganz Unrecht: 1968 schien weltweit kurz die Möglichkeit einer Revolution aufzublitzen, die so schnell nicht wieder kommen sollte, woran auch der fast vergessene Sieg der Vietminh und der NLF 1975 nichts ändern konnte. Dutschke setzte seine Hoffnungen vor allem darauf, dass die im Kampfprozess neu entstandenen Bedürfnisse eine antiautoritäre Einstellung hervorgebracht hätten und dass durch die dadurch in Gang gebrachte Dynamik immer weniger Menschen mit der Totalität der Produktionsverhältnisse in Form von langen Arbeitszeiten, Manipulation und Elend abfinden würden. Immer mehr Menschen könnten dann alles daran setzen, die Fesseln des Kapitals und des Bürokratismus zu sprengen, um das Leben unter die bewusste Kontrolle der Menschheit zu bringen. Denn wenn schon eine Handvoll Subversive bereits einige Studenten agitieren und eine antiautoritäre Fraktion gründen konnten und wenn diese antiautoritäre Fraktion wiederum ihrerseits weite Kreise unter Studenten und Studentinnen zog, bis schließlich sogar die Schüler protestierten, dann könnte man diesen Prozess vielleicht bis zur Revolution verlängern.
Ansonsten bestand der Vietnamkongress in einer Ansammlung mehr oder weniger selbstgerechter und steriler Vorträge müder Leute, deren Zeit im Grunde schon wieder um war. Deshalb war es wohl nicht zufällig, dass einige Frauen während des Kongresses ein gewisses Unbehagen verspürten. In Helke Sanders Film »Der Subjektive Faktor«, in dem sie die Bewegung aus feministischer Perspektive beleuchtet, wird der Vietnamkongress mit den manisch „Ho-Ho-Ho-Chi-Minh“ skandierenden Männern, als für die Frauen besonders frustriend dargestellt. Sie begannen sich separat zu organisieren und führten damit eine erneute Abspaltung herbei, wie sie sich in der antiautoritären Bewegung schon ein paar Jahre vorher vollzogen hatte, als sich zuerst die Subversive Aktion spaltete und sich 1967 schließlich SDS und Kommunebewegung endgültig trennten. Diesmal aber schloss die Revolutionierung des Privaten auch die Emanzipation der Frauen mit ein.