Neue Revolutionstheorie – Kritik der klassenlosen Konsumgesellschaft
„Der Alltag umfasst sowohl Arbeit, Leben in der privaten Sphäre und Leben in der Freizeit. Es ist heute in seiner Ganzheit gesehen von einer erschreckenden Armut; alle wirklichen Bedürfnisse bleiben unbefriedigt und werden künstlich überdeckt, wodurch ein bitterer Nachgeschmack bleibt. Privatsphäre ist Privatisierung geworden, ein Begriff, der sowohl Atomisierung des Einzelnen, Entbehrung jedes menschlichen Kontaktes und Entbehrung der Gewalt über sich dialektisch umfasst. Die Partizipation an der Kultur ist die eines einseitigen Konsums geworden; die Freizeitgestaltung eine Befriedigung künstlicher, von Werbung und Industrie hochgezüchteter Bedürfnisse“ (Subversive Aktion: Unverbindliche Richtlinien. 1962)
Diese Friedhofsruhe wurde für einige jüngere Leute unerträglich und sie begannen dagegen aufzubegehren. Es war nicht mehr das unmittelbare materielle Elend, was sie zu revolutionärem Gedankengut trieb, sondern die Erfahrung der Langeweile, der Leere, des ungelebten Lebens, der Isoliertheit und fehlenden Handlungsfähigkeit. Der Anspruch sich jegliche sexuelle Betätigung außerhalb der Ehe zu versagen, die Tristesse der grauen, schnell hochgezogenen Vorstädte sowie der fehlende Austausch zwischen den Menschen. Im Gegensatz zur realen Eintönigkeit stand das Versprechen auf Freiheit und Glück in der Werbung und im Hollywoodfilm, das durch die nun vorherrschende Konsumgesellschaft für alle eingelöst werden sollte. Dieses Versprechen entpuppte sich jedoch schnell als leere Hülse, als Ersatzbefriedigung, die ein schales Gefühl hinterließ. „I can’t get no satisfaction“ sang einige Jahre später Mick Jagger und drückte damit das Lebensgefühl vieler Jugendliche aus.
Anfang der Sechziger waren jedoch die Genossen, die sich zur Subversiven Aktion zusammenschlossen, noch ziemlich allein mit ihrem Hass und ihrer Wut auf die Verhältnisse der Nachkriegszeit. Sie wollten sich nicht zufriedengeben mit dem Istzustand. Es drängte sie zur Tat und sie suchten Mitstreiter, denen es ähnlich ging. Was es an mehr oder weniger organisiertem Widerstand gab, entsprach nicht ihren Vorstellungen: eine akademische Linke, die jede Praxis abzulehnen schien, die Reste der alten Arbeiterbewegung, die immer noch der Arbeiterklasse als revolutionärem Subjekt hinterhertrauerten, und eine etwas behäbige Friedensbewegung. Als Stichwortgeber boten sich, trotz aller Kritik an der fehlenden Praxis, im Wesentlichen die zurückgekehrten jüdischen Emigranten wie Max Horkheimer und Theodor W. Adorno an, da sie die marxistische Tradition – wenn auch gebannt in die Sphäre der Akademie – weiterführten und an der Negation der Gesellschaft festhielten. Seit der Umstellung auf Massenproduktion im Fordismus und der systematischen Ausnutzung der elektrischen Phänomene waren die Arbeiter nicht mehr nur nötig, um den Mehrwert zu erwirtschaften, sondern es bedurfte ihrer auch, um den Wert zu realisieren – man brauchte sie in wachsendem Maße auch als Konsumenten. Es erschien dadurch so, als stiegen die Arbeiter teilweise in die bürgerliche Klasse auf; man nannte sie zunehmend Angestellte. Dieser Prozess umfasste auch seine Umkehrung: durch die Monopolbildung und den damit massenhaft verbundenen Abstieg des Bürgertums wurde dieses proletarisiert. Fortan gehörten ihm die Produktionsmittel ebenso wenig wie dem Arbeiter – auch die Bürger waren nur noch Angestellte. Und diese „klassenlose Gesellschaft der Autofahrer, Kinobesucher und Volksgenossen“ (Adorno) hatte gerade mit immensem Fleiß, fast zwanghaft, und ohne nach hinten zu schauen, aus den Ruinen das Land wiederaufgebaut. Wohlsituiert, aber langweilig.
Auch wenn der Widerspruch zwischen Kapital und Arbeit nicht aufgehoben war, so schien der Widerspruch zwischen denen, denen die Produktionsmittel gehörten, und denen, die nur ihre Arbeitskraft zu Markte tragen konnten, nicht mehr dazu geeignet, revolutionären Widerstand auszulösen. Also rückte man in den Kreisen der Subversiven Aktion von der klassischen Revolutionstheorie ab und legte weniger Gewicht auf die in Industrienationen zunehmend abgeschaffte physische Not. Nicht mehr Hunger und fehlender Wohnraum seien jetzt die wesentlichen, zur Revolution drängenden Gründe, sondern, dass die Menschen trotz des technischen Fortschritts immer noch bloße Anhängsel der Produktion waren und auf ihre Funktion als Ware Arbeitskraft und Konsument reduziert wurden.
Dazu kam die Veränderung der psychischen Anatomie der Subjekte, in welcher sich die historische Entwicklung und Transformation des Kapitalismus nach dem 2. Weltkrieg widerspiegelt. Der moderne Charakter akzeptierte seine Ohnmacht und verinnerlichte scheinbar das Leistungsprinzip vollkommen. Die Repression kam ihm so nicht mehr ins Bewusstsein, sondern wurde als Freiheit wahrgenommen. Von Adorno wurde die Analyse übernommen, dass sich das Leistungsprinzip nicht mehr nur auf den Bereich der Arbeit beschränkte, sondern dass auch das Wochenende im Schrebergarten und die Ferien in Italien nur eine Verlängerung der Arbeit oder deren dürftige Kompensation darstellen, weil auch die organisierte Freizeit nur dazu dient, sich als Arbeitskraftbehälter zu reproduzieren. Dem reduzierten Begriff von Freiheit als Freizeit müsse die richtige Freiheit entgegengestellt werden, in der die Menschen tatsächlich über ihre eigenen Verhältnisse bestimmen können und nicht nur in der kargen Freizeit, in der sie – manipuliert durch die Werbung – ohnehin das machten, was alle anderen auch taten. Deshalb müssten die erlaubten Genüsse immer wieder als falsche denunziert werden und die Menschen durch provozierende Happenings und sonstige kleine Nadelstiche aus ihrer falschen Zufriedenheit herausgelockt werden. Ziel war es, der integrierten Bevölkerung den Spiegel vorzuhalten. Der Verlust wirklicher Handlungsmöglichkeiten betraf dabei nicht mehr nur die Arbeiter, sondern auch die zu Angestellten degradierten Bürger: die aufs Pillenverschreiben reduzierten Ärzte und zu Anhängseln von Versuchsreihen gemachten Physiker – wie es der im Sozialistischen Deutschen Studentenbund (SDS) organisierte Frankfurter Wolfgang Pohrt Mitte der 70er Jahre im Rückblick ausdrückte. Jeder und keiner könne in dieser gesellschaftlichen Situation zum revolutionären Subjekt werden. Mit dem Scheitern der alten Revolutionshoffnung bekam die Utopie einer Vereinigung freier Menschen etwas Manisch-Depressives.