Anmerkungen zum Antifakongreß in Göttingen
Auf dem Auflösungskongress der Antifaschistischen Aktion / Bundesweite Organisation (AA/BO) verteilte Flugschrift
Dem radikaleren Teil der Antifabewegung ging es seit jeher um mehr als den Kampf gegen Nazis. Man ahnte zumindest, dass da ein Zusammenhang sein muss zwischen dem Faschopöbel auf der Straße, den Politikervisagen in der Tagesschau und den unverschämten Zumutungen, die der eigene Alltag bereithielt und erklärte daher: „Antifa ist der Kampf ums Ganze!“ Das Elend besteht jedoch darin, dass dieser Kampf in der abgeschmackten Form „antikapitalistischer Politik“ geführt werden soll. Politik bedeutet immer, so rebellisch sie sich auch gebärden mag, konstruktive Kritik am aktuellen Staatsmanagement bei grundsätzlicher Zustimmung zum Projekt Deutschland. Weil alle politischen Wege zum Staat führen, mögen sie nun parteiförmig oder zivilgesellschaftlich beschritten werden, und weil der Staat kein neutrales Mittel, sondern der siamesische Zwilling des Kapitals ist, ist antikapitalistische Politik ein Ding der Unmöglichkeit. Weil die gesamte Gesellschaft von einem zentralen Prinzip zusammengehalten wird – der Akkumulation des Kapitals, ermöglicht und aufrechterhalten durch den staatlichen Souverän – hängt die Existenz jedes Bürgers am möglichst reibungslosen Funktionieren des ganzen Ladens, weshalb er dessen Schicksal auf Gedeih und Verderb zu seinem eigensten machen muss. Deshalb muss auch jede linke politische Forderung nicht nur mit dem Allgemeinwohl konform gehen, sondern ihre Nützlichkeit für dieses unter Beweis stellen. Politik ist per se affirmativ, weil sie die Menschen, so wie sie sind, akzeptiert und umwirbt. Weil die Individuen aber nicht etwa bloß irgendwie von der Gesellschaft beeinflusst, sondern von ihr hervorgebracht werden, sind sie so schlecht wie diese. Wer also die Sorgen und Nöte der Bevölkerung ernst nimmt, um die Leute da abzuholen, wo sie stehen, wird seine Agitationsobjekte keinen Deut von ihrem reaktionären Denken und Handeln abbringen, sich selbst aber schnell ununterscheidbar von ihnen machen, weshalb er sich dann einbilden mag, er habe das Volk auf seiner Seite. Mit ihrem naiven Aufklärungsprogramm, das davon ausging, man müsse nur die Schurkereien der Herrschenden aufdecken, um die Massen auf die Barrikaden zu bringen, sind Generationen von Linken bitter gescheitert.
Konsequenterweise hat sich die Antifa heute von traditionslinken Volksaufklärungsbemühungen weitgehend verabschiedet. Stattdessen wird Produktmarketing betrieben, um das „Markenzeichen Antifa“ (Kongressaufruf) der jugendlichen Zielgruppe schmackhaft zu machen. „Join the Antifa“, da gibt’s die schicksten Jungs, die smartesten Mädels, die dicksten Tüten und die coolste Musik. Es kommt erst mal darauf an, möglichst viele Leute zu gewinnen, die „antikapitalistischen Inhalte“ sollen dann nachträglich durch die Hintertür eingeschmuggelt werden. Das ist nicht deshalb blödsinnig, weil so die authentische Autonomenkultur an den Kommerz verkauft werde, wie manche Hausbesetzerdumpfbacken fürchten, sondern weil der kulturindustrielle Müll, mit dem da gelockt wird, den Hass auf die Verhältnisse kanalisiert und besänftigt, anstatt ihn zu schüren. Der Hiphoper, der sich auf der Suche nach Fun auf eine Antifaparty verirrt hat, wird die dort eventuell unternommenen Bemühungen, linkes Gedankengut unters Volk zu bringen, ebenso routiniert ignorieren wie beim Surfen im Internet die Werbeeinblendungen. Wenn nichts in den Menschen zur Kritik strebt, sind alle Vermittlungsbemühungen sinnlos. Sieht man genauer hin, so beschleicht einen der Verdacht, dass selbst die hier beschriebene Bauernfängerstrategie nur eine faule Ausrede der Politaktivisten ist, um die Party, die sie sowieso machen wollten, der erstaunt nach Sinn und Zweck fragenden Genossin als politische Aktion verkaufen zu können: außer einem Infotisch, auf dem zu neunzig Prozent Merchandisingartikel ausliegen und einem Transparent auf dem „Zusammen kämpfen!“ oder irgendeine andere inhaltsleere Parole steht, sucht man nach „Vermittlung linksradikaler Inhalte“ vergebens. In Wahrheit sind die Bauernfänger selber Bauern. Dagegen müsste radikale Gesellschaftskritik auch eine Kritik an den stumpfsinnigen Äußerungen der Jugendkultur beinhalten, ohne sich jedoch in lebensreformerische Volksküchenromantik zu flüchten, die in ihrem Moralismus ebenso grausig ist wie die Umgangsformen des Normalonachwuchsmobs.
Seit dem letztjährigen Antifasommer verfängt jedoch selbst diese Marketingstrategie nicht mehr richtig, weil plötzlich alle Anständigen gegen die braune Gefahr aufstehen wollen und die Abgrenzung daher schwer fällt. Spätestens wenn einem ständig die Gemeinschaftskundelehrerin für den „Gegen-Nazis“-Button auf die Schulter klopft, hat Antifa jedes rebellische Image verloren. Die Frage, wie dem Dilemma zu entkommen sei, ist Thema dieses Kongresses. Die angedeuteten Lösungsvorschläge lassen allerdings befürchten, dass es nicht darum gehen soll, die bisherige Praxis radikal in Frage zu stellen. Stattdessen soll einfach der Werbeträger ausgewechselt werden, oder wie das im Nachwuchspolitikersprech heißt: „Andere Politikfelder“ sollen auf ihre Tauglichkeit als „Ansatz zur Vermittlung antikapitalistischer Positionen“ geprüft werden. Angeboten werden zum Beispiel der „Kampf gegen die Überwachungsgesellschaft oder die aggressive Außenpolitik der BRD“. Nicht dass gegen die Beschäftigung mit diesen Themen grundsätzlich etwas einzuwenden wäre, aber wer sie als „Politikfelder“ betrachtet, die es zu beackern gilt, der lässt sich nicht von einem Wahrheitsanspruch leiten, sondern will eine möglichst große Ernte einfahren. Und da sich das so implizit zu Feldfrüchten degradierte Publikum wohl eher für die riots in Seattle als für die Kritik grüngroßdeutscher Außenpolitik interessieren wird, ist zu befürchten, dass sich die Antifabewegung mit den merkwürdigen bis ekelhaften Neoliberalismusgegnern im Kampf gegen das heimatlose Spekulantentum zusammentut, was in einer AG auf dem Kongress diskutiert werden soll. Diese kritisieren an der Globalisierung ausgerechnet das, was gut an ihr sein könnte: das Herausreißen der Menschen aus unmittelbar naturverfallenen, starren Lebensformen, die Auflösung bornierter Volkskulturen, die Entmachtung verdummender Aberglaubensgemeinschaften, die Ermöglichung grenzüberschreitender Kommunikation und die Schaffung einer Weltgesellschaft als Voraussetzungen für einen Verein freier Menschen. Die ungeschminkte Brutalität entfesselter Märkte wird von den von ihr hervorgerufenen barbarischen Gegenbewegungen, welche die vom Kapitalprozess freigesetzten Menschenatome wieder zu Völkern, Stämmen und anderen Individualität tilgenden Haufen zusammenklumpen, meist weit in den Schatten gestellt.
Wer unbedingt Politik machen will, darf es sich mit dem Volk nicht verderben. Nicht zufällig wird der Rassismus der deutschen Normalbevölkerung im Kongressaufruf mit keinem Wort erwähnt. Um das Weiter-wie-bisher nicht zu gefährden, müssen eventuell aufblitzende Einsichten sofort wieder verdrängt werden. Hat man eben noch die Befürchtung geäußert, die Antifa drohe „als bunter Farbtupfer in der Zivilgesellschaft gegen rechts unterzugehen“, so bekennt man sich direkt im Anschluss offensiv zum eigenen Farbtupferdasein: „Es gilt, sich die allgemeine Stimmung zunutze zu machen, und sich mit den eigenen Inhalten zu positionieren.“ Unterstellt wird hier, die zivilgesellschaftlichen Antifaschisten seien im Prinzip auf der richtigen Seite und müssten nur noch radikalisiert werden. Der Charakter der Staatsantifakampagne wird damit gründlich missverstanden, ging es doch bei dieser in erster Linie um das Zusammenschweißen der Gemeinschaft der guten Deutschen. Die Glatzen waren dafür nur auswechselbare Projektionsfläche, die schnell wieder durch die wahren Volksfeinde ersetzt wurde, wie das Beispiel Sebnitz gezeigt hat. Wer dies nicht versteht und wie die Autorinnen des Kongressaufrufs weiterhin auf „Bündnisse mit bürgerlichen Gruppen“ schielt, engagiert sich für ein besseres Deutschland. Wer darüber klagt, dass seine „aktive Beteiligung an der Gestaltung der Politik stagniert“, der will endlich ernstgenommen werden und Verantwortung übernehmen. Diese Verantwortung ist die des Sozialarbeiters, der den unproduktiven Zorn und den naiven Utopismus seiner Schützlinge in „realistisches“ bürgerschaftliches Engagement umzuleiten sucht.
Anstatt sich vom Antifaschismus zugunsten ausgefallenerer Werbetricks zu verabschieden und damit hinter ihn zurückzufallen, müsste dieser antideutsch zugespitzt werden. Anstatt sich mit den anständigen Deutschen gegen den rechten Rand zu verbrüdern, wäre gerade die unheimliche Nähe von zivilgesellschaftlichem Toleranzgeschwafel und offenem Ausländerhass hervorzuheben. Die Gefahr geht nicht von den wenigen, randständigen Nazis, sondern von der demokratischen Mehrheit der Deutschen aus, deren Kollektivparanoia sich in den periodisch wiederkehrenden Verfolgungskampagnen gegen Kinderschänder, Drogendealer und andere Schädlinge langsam warmläuft und die sich in der nächsten größeren Wirtschaftskrise zum offenen Vernichtungswillen radikalisieren könnte.
Nimmt man dies ernst, muss man sich zwangsläufig vom Fetisch der Politik verabschieden und sich revolutionärer Kritik zuwenden. Dies ist ein Unterschied ums Ganze: Kritik darf zu ihren Adressaten niemals in ein positives, bestätigendes Verhältnis treten, sondern muss polemisch und provozierend und damit notwendig auch als Publikumsbeschimpfung auftreten, in der Hoffung, wenigstens bei Einzelnen Irritationen des verhärteten, gegen Erfahrung abgedichteten Bewusstseins hervorzurufen. Ohne Rücksicht auf die Befindlichkeiten der Adressaten muss vorbehaltlos ausgesprochen werden, was man erkannt hat. Kommunistische Kritik hat weder ein zu verwirklichendes Programm, noch ein revolutionäres Subjekt, ja noch nicht einmal eine widerspruchsfreie Theorie anzubieten, die beruhigenden seelischen Halt in der erschreckend verwirrenden Welt geben könnte.
Wenn Antifa wirklich der Kampf ums Ganze sein soll, so muss sich dieser Kampf gegen die zivilgesellschaftliche Avantgarde des neuen Deutschland richten, anstatt mit dieser gegen die Ewiggestrigen zu paktieren.