Fragmente in Regression
Linke Selbstauflösung zwischen Theorie und Praxis
Gründungspamphlet der Antideutschen Kommunisten, erschienen als Flugschrift sowie in Bahamas Nr.36/2001
Evident ist, dass die Wirklichkeit den bloß Einzelnen an Wahnsinn noch übertrifft. Mag dieser im Alltag zumindest halbwegs zweckrational handeln, so ist das Ergebnis unfassbar. Es spottet jeglicher Vernunft, dass trotz Computer und Industrie überall auf der Welt die Menschen an Hunger krepieren, während die Bewohner der Metropolen -der Buttercreme überdrüssig- sich panisch über Diäten den Kopf zerbrechen. Alle Versuche, die traurige Realität restlos erklären zu wollen sind deshalb zum Scheitern verurteilt, neigen zur Verharmlosung und in Konsequenz zur Affirmation. Theorie ergibt endgültig keinen Sinn mehr, wenn die Verhältnisse längst unter aller Kritik sind und bloß noch abgeschafft werden könnten. Aber auch schwingende Fäuste reproduzieren nur die eigene Ohnmacht, weil die Verfügenden, die sich mit Mattscheiben und Leitartikeln schützen können, diese genauso gewähren lassen, wie sie sie ignorieren. Die widerum, die davor sitzen, wandern durch geistige Ödnis und sind in ihrem Stumpfsinn ebenfalls unverletzlich und so durch keine Demonstration erreichbar. Die Menschheit, scheinbar unbeschwert auf der Kante des Abgrunds balancierend, ist weder auf die eine noch auf die andere Art zu retten, die isoliert der fetischisierten Wahrnehmung nur gelegen kommen. Lesekreise gleichen ausgelagerten Uniseminaren, deren Teilnehmer ihren Verstand interesselos in leeren Bahnen kreisen lassen, hin und wieder beliebige Themen streifend, die sie in akademischer Differenziertheit solange zerreden, bis alle Essenz verschüttet ist. Praxisfixierte Plena hingegen vergessen über dem Organisieren den Inhalt und gestehen ihm bestenfalls noch als schmückendes Beiwerk Existenz zu. Wenn nun die kalten sinnentleerten Organisationsstrukturen durch angedrehte Wärme und Zusammengehörigkeitsgefühl übertüncht werden, ist der Zerfall in vollem Gange. Die romantischen Anwandlungen kompromittieren nicht nur jeden Anspruch auf grundsätzliche Alternative, sondern benötigen analog zum Antisemitismus Feinde, die diese Gemeinschaft angeblich verhindern. Die autonomen Räume, in denen Essen und Filme konsumiert werden, gleichen ihrer Funktion und Stimmung nach dem heimatlichen Wohnzimmer der Eltern aufs Haar. Im Barrikadenbauen, wo nichts zu verteidigen ist, und im Räuber und Gendarm Spielen vollzieht sich die Regression derer, die sich ohnehin nicht ernst nehmen. Als Resignation vor den Verhältnissen zu werten ist der Anspruch, sich individuell zu besseren Menschen zu entwickeln, Veränderung ins Private zu verlegen und die gesellschaftliche Totalität auszublenden, auf dass man ihr um so ungebrochener unterworfen bleibt. Integriert sind auch die, die ernsthaft meinen, Widersprüche ließen sich durch karnevalistische Diskursverschiebung oder durch Reformen ausräumen, die nicht die Abschaffung des Tauschprinzips beinhalten. Jene, die den Kapitalismus in weltweitem Rahmen bekämpfen wollen, ohne Deutschland einer spezifischen Kritik auszusetzen, übersehen, dass gerade deutsche Identität Herrschaft, Verwertung und Vernichtung meint, die in äußerster Konsequenz zu den Leichenbergen der beiden Weltkriege und von Auschwitz führte und weitere produzieren könnte. Damit lassen sie ganz im Sinn der sich als Opfergemeinschaft wähnenden Deutschen das Besondere im Allgemeinen verschwinden. Solange die Emanzipation der Deutschen zu Menschen mehr oder minder als gescheitert betrachtet werden muß, ist es unvermeidbar, sie zu bekämpfen anstatt sie aufzuklären. Die hingegen, die ihren Blick auf Deutschland verengen, verfehlen den grausigen Weltlauf gleich doppelt: Zum einen ist der Faschismus als Krisenlösung überall in der Welt populär, so daß keineswegs ausgeschlossen werden kann, daß er in einem anderen Land ausbrechen könnte, sollte die periodische Krise die Metropolen erreichen. Dort wo die Krise schon ist – in den Ländern der Peripherie – entstehen bereits Massenbewegungen und autoritäre Staaten, die nur darauf zu warten scheinen, daß Deutschland die Führung übernimmt: Tschetschenien, Kosovo, Palästina und die Staaten des ehemaligen Ostblocks orientieren sich am deutschen Vorbild und werden von Deutschland unterstützt. Die aktuellen Ausländermorde sind dramatisch genug, um so grauenerregender der Umstand, daß sie nur ein Vorgeschmack auf die Zukunft sein könnten. Zum anderen sollte nicht vergessen werden, daß der weltweite Rassismus die Voraussetzung für den innerdeutschen ist. Wer sich auf die Kritik an Neonaziübergriffen oder am konsensualen Rassismus beschränkt, vergißt, daß die aus den kapitalistischen Sahelzonen mit triftigem Grund Geflohenen, aller Drangsalierung seitens der deutschen Bevölkerung und den Behörden zum Trotz nicht freiwillig in die ehemaligen Kolonien zurückkehren wollen, in denen sie erst recht zu spüren bekommen, was es bedeutet ein Untermensch zu sein.
Momentan ist in Deutschland keine revolutionäre Praxis möglich. Doch die linke Trennung von Kopf- und Handarbeit macht sie endgültig aussichtslos, verdoppelt die eigene Machtlosigkeit nur, anstatt sie wenigstens zu thematisieren. Die Reproduktion gesellschaftlicher Realität bezeugt die Unfähigkeit, diese zu ändern. Im Angesicht der Situation steht jeder praktischen Handlung ihre Absurdität im Gesicht, die Wirkungslosigkeit macht die erhobene Faust zur hilflosen Geste. Indessen sinniert die theoretische Linke, gleich den Logikern bei Ionesco, ob die Menschen sich nun in indische Nashörner verwandeln, die afrikanische sind oder in afrikanische, die indische sind, um bald die Flachheit und Glätte der eigenen Stirn zu bedauern. Bei allen Differenzierungen übersehen sie den tatsächlichen Skandal, nämlich daß die Menschen dazu gezwungen sind, einen Ichpanzer zu errichten, der sie wie der Hornpanzer der groben und großen Tiere vor der Außenwelt schützt und abdichtet. Intellektuelle haben keine andere Wahl, als zu begreifen, daß, so sehr sie sich auch anstrengen mögen, die einzig sinnvolle Anwendung ihrer Vernunft die Erkenntnis ist, daß dem Wahnsinn Sinn zu attestieren im Ansinnen ihn verstehen zu wollen, wahnsinnig ist. Gerade sie bedürfen der Praxis, gleich wie absurd und eskapadenhaft, um dem objektiven Wahnwitz nicht zu unterliegen. Wochenlanges Studieren von Adornotexten ist solange tatsächlich überflüssig, wie die Kritik nicht die Menschen ergreift und zur Umwälzung der Verhältnisse führt. Solange dies nicht geschieht, könnte man statt dessen auch Comics in der Badewanne lesen, was weniger Kopfschmerzen bereitet; nur als praktische Kritik ist Kritik etwas anderes als bürgerliches Studium. Wenn die Angst größer ist, bei einer falschen Adorno- oder Marxrezeption erwischt, als bei der Lüge ertappt zu werden, was die mangelnde Praxis angeht, dann ist geschäftiges Theoretisieren von linken Bildungsphilistern nichts als das Streben nach Halt, den Andere beispielsweise im Briefmarkensammeln suchen. Die Verzweiflung, die die offensichtlich schwachsinnig gewordene Welt bei den Einzelnen erzeugt, führt dazu, dass sie doch noch erklärt werden soll. Wahlweise müssen dann die Sterne, das implizit ontologisierte Kapital oder die an sich schlechten Menschen dafür herhalten, das Ganze irgendwie zu rechtfertigen. Wahr ist, daß das scheinbar außerhalb der Menschen existierende Kapitalverhältnis tatsächlich nur paradoxen Unsinn produziert und wie ein Ding sie unterdrückt. Noch die verrücktesten metaphysischen Phantasten treffen deshalb die Wirklichkeit besser, als diejenigen, die behaupten, die Welt sei schon eine menschliche. Nichtsdestotrotz werden die Menschen weder von einem Ding, noch von Verschwörungen versklavt; den totalen Verblendungszusammenhang, in den sie sich wickeln und sich ihm unter panischen Bezeugungen der Behaglichkeit vollständig unterwerfen, schaffen in Wahrheit die auf sich selbst zurückgeworfenen Individuen allein.
Die Fragmentierung in der Linken macht vor dem Bewusstsein der Einzelnen keineswegs halt, vielmehr reproduziert sich auch dort das Sein. Wird die Notwendigkeit verdrängt, die unbehelligt leidproduzierenden Verhältnisse zu stürzen, löst sich nicht nur die Handlungsfähigkeit der Linken sondern die Existenz jedes Individuums in Luft auf. Wird die Geschichte wie die Gegenwart ausgeblendet, zerfällt das sich kontinuierlich durchhaltende Ich. Man hat nur die Wahl, die Welt radikal zu kritisieren und mit aller Kraft zu verneinen, oder sie zu vergessen. Wird letzterer Weg gewählt, zerfällt die Kontinuität von Vergangenheit über die Gegenwart bis zur antizipierten Zukunft, die nur ein einigermaßen festes Ich garantieren kann, in beziehungslose Fragmente. Durch die Verdrängung der Geschichte und der Praxis, die sie unmißverständlich fordert, degenerieren auch linksradikale Polit-Gruppen in Ermangelung des Bewusstseins ihres Zwecks zu reinen Wohlfühlgemeinschaften, die nichts als Kollektive Asozialer sind, in denen sich letztendlich niemand mehr wohlfühlt und die nur um ihrer Kollektivität willen fortbestehen. Den Linken blüht ein ähnliches Schicksal wie der ehemaligen Protestbewegung 1968. Die aufblitzende Erkenntnis während dem Vietnamkrieg, welche Unmenschlichkeit die unfassbaren Verhältnisse –allein ihre unwürdige Unverständlichkeit wäre Grund genug sie zu bekämpfen- Tag für Tag hervorbringen, verlosch ebenso schnell wieder, wich geschichtsloser Abstumpfung, während die Protestierenden zu Eintagsfliegen mutierten, die heute Bomben auf Belgrad werfen. Als nach dem Krieg alle zugaben, für ihn keine Begründung zu haben, juckte das keinen der Politiker, für deren Gedächtnis Sieb ein Lob wäre. Daß bei soviel Charakterschwäche einem das Gruseln kommt, liegt nicht an ihrer Böswilligkeit sondern an ihrer Unzurechnungsfähigkeit, die nur garantiert, daß kein Versprechen wahr und keine Wahrheit länger gilt als bis morgen früh. Je mehr die ehemaligen Achtundsechziger die Motive ihres Protests verleugneten, desto mehr wurden sie zu substanzlosen Zombies wie Joschka Fischer. Wenn eine Charakteramöbe wie der Außenminister Zerrissenheit proklamiert, vermutet man ihn eher in einem Comicstrip als in den Nachrichten. Nicht weniger hysterisch gebärden sich jene, die nur noch als Kunden der Kulturindustrie dahinvegetieren und den Krieg für kurze Zeit als spannende Abwechslung willkommen heißen um sich schnell anderem zuzuwenden. Derer, die nach 1968 den Eindruck des Grauens zu vermitteln vermochten, das jeden Tag unter der Beteiligung aller erzeugt wird, wußte der Staat sich zu erwehren. Nachdem sich die zahlreichen Demonstrationszüge der Studenten als wirkungslos herausgestellt hatten, die dem brutalen Krieg des goldenen Westens gegen Vietnam nicht einmal verlangsamen konnten, reagierten nicht die werdenden Spießer richtig, die den Marsch durch die Institutionen planten und Parteien gründeten, Lehrerinnen oder Professoren wurden, sondern die Rote Armee Fraktion. Daß die Einzigen, die das bisher Gesagte auch weiterhin ernst nahmen, schlußendlich genauso verrückt werden mußten, wie der Rest der Gesellschaft, die sie jagte, ist keineswegs die Schuld der RAF, sondern derjenigen ehemaligen Linken, die sie bis heute in den Knästen verrotten lassen, obwohl sie früher mit ihnen kämpften und diskutierten. Soll dem kärglichen Rest der radikalen Linken heute ein Schicksal erspart bleiben, das zahlreiche dekomponierte Exrevolutionäre ereilte, so muß sie unbedingt am Wahrheitsanspruch festhalten, demzufolge die kommunistische Revolution notwendig ist. Hätten die Linken im Frühjahr 1999 für einen Moment die Augen geöffnet und ihren Widerstand gegen den neuerlichen deutschen Krieg gerichtet, wäre der gegen Nazis nicht zu einer an Beschäftigungstherapie erinnernden Endlosschleife verkommen, die sich vom Hobbygärtnern nur wenig unterscheidet. Mit dem Anspruch auf Wahrheit geht der auf Persönlichkeit verloren. Letztere kann dem permanenten Verfall nichts entgegensetzen, nur ein kläglicher Rest unvereinbarer Fragmente sammelt sich unschlüssig unter dem zum Etikett verkommenen Ich. Nichts kann sie mehr zusammenhalten, wenn Erinnerung und Wahrnehmung Verleugnung und Verdrängung weichen, und so die Widersprüchlichkeit der Einzelmomente nie festgestellt werden kann, weil diese nie gleichzeitig gedacht werden können.
Die Spaltung der Menschen in Funktionen aufzuheben, brächte jene Individuen hervor, die eine Veränderung der Gesellschaft bewirken und damit auch den Zwang brechen könnten, bloßes Individuum zu sein. Die Anwendung der hochentwickelten Vernunft ist bereits unleugbar irrational wenn überhaupt vorhanden, dennoch sind die Intellektuellen die einzigen, die die Revolution wollen könnten, die die Muße hätten die versteinerte Welt wenigstens gedanklich zu zerbrechen; um so fataler ist ihr Versagen und um so unangebrachter alles Gespött über die BILD-lesenden Analphabeten, die in ihrem Argwohn zeigen, wie sehr sie der Revolution bedürften. In manischer Fixierung auf Chaos und Zerstörung bricht die Verzweiflung letzterer über das missglückte langweilige Dasein durch. Fast noch mehr als die Intellektuellen erahnt die Unterschicht ihre erbärmliche Situation.
Da das Kapitalverhältnis die gesellschaftspraktisch gewordene Antivernunft ist, wäre deren theoretischer Begriff schon keine Theorie mehr, sondern ganz im Gegenteil die praktische Aufhebung dieses Verhältnisses. Um sich der gesellschaftlichen Idiotie zu entziehen, hilft es nicht, ein gar gesundes Mittelmaß von Praxis und Kritik zu finden und sich damit der grassierenden Langeweile, die wahrhaft tödlich ist, zu überantworten. Vielmehr sind die Extreme durch einander zu vermitteln, so sehr sie einen auch zerreißen mögen, wenn daran gelegen ist, die von Karl Kraus schon beerdigte Menschheit doch noch zu retten.