Letzte Warnung
2003 an gegen den Krieg gegen den Irak demonstierede Schülern verteiltes Flugblatt.
Zu Dingen, von denen man keine Ahnung hat, sollte man lieber den Schnabel halten. Leute wie Ihr, die sich sonst für nichts, aber auch gar nichts interessieren, außer für die Frage, ob ein Piercing in der Zunge oder in der Nase schicker ist, sollten daher nicht plötzlich glauben, sich zur Weltpolitik äußern zu müssen. Terroristen steuern vollbesetzte Flugzeuge in Wolkenkratzer, in Nigeria werden Hunderte massakriert, weil sie sich einen langweiligen Schönheitswettbewerb anschauen wollten, im Nahen Osten träumen Massenbewegungen davon, die Be-völkerung Israels auszulöschen, die Machthaber in Nordkorea drohen mit ihrer Atombombe – und Euch fällt nichts besseres ein, als mitten im größten Chaos zur Gewaltlosigkeit aufzurufen und für „Frieden“ zu demonstrieren. Die Welt hat zu ernsthafte Probleme, um sich Eure kindischen Lösungsvorschläge anzuhören. Normalerweise lasst Ihr keine Gelegenheit aus, um demonstrativ zu betonen, dass Euch die Politik am Arsch vorbeigeht, aber ausgerechnet dann, wenn im ganzen Schlamassel einmal etwas vernünftiges geschieht und ein antisemitischer Diktator abgesetzt werden soll, steht ihr auf und ruft überzeugt und mutig „Nein!“. Und dann besitzt Ihr, die Ihr auf Euren Partys die Musik so laut aufdrehen müsst, damit Ihr eine Ausrede habt, um Euch mit Euren angeblichen Freunden nicht unterhalten zu müssen, denen Ihr nichts zu sagen habt, auch noch die Schamlosigkeit, zu behaupten, ihr würdet Mitleid mit den Menschen im Irak empfinden. Wahrscheinlich würdet ihr das Land noch nicht mal auf der Karte finden. Klar, die Jugend muss Fehler machen, um aus ihnen zu lernen. Aber was zu weit geht, geht zu weit.
Anstatt jedoch ihrem Erziehungsauftrag nachzukommen und Euch zur Ordnung zu rufen, ermutigen Eure werten Eltern, Lehrer und Sozialarbeiter Euch auch noch zu Eurem dummdreisten Tun. Es ist ihnen nicht einmal zu peinlich, sich selber plärrend in die erste Reihe des Kinderhaufens zu stellen. Und Ihr lasst es Euch gefallen. Demonstriert einträchtig mit denjenigen, die Euch im Alltag mit Straf-arbeiten, sinnlosen Leistungsanforderungen und heulsusigen Moralpredigten piesacken. Wenn ihr später Euren Freunden von dem ach so tollen Gemeinschaftsgefühl auf der Friedensdemo erzählt, so offenbart ihr damit Euren Sklavengeist. Eine Jugend, die nur einen Funken Freiheitsdurst verspürte, würde ihre Gefühlsbindungen abseits der Masse und vor allem unter Ausschluss der spießigen Alten suchen. Hier aber marschiert der Nachwuchspunker Hand in Hand mit seiner Sozialkundelehrerin – ein Bündnis wider die Natur.
An dieser seltsamen Eintracht der Generationen zeigt sich im Kleinen, was der „Frieden“, für den da demonstriert wird, im Großen bedeutet. Was um alles in der Welt hat Herr Rumsfeld mit Euren Beziehungsproblemen oder den Geldsorgen Eurer Eltern zu tun? Während alle gemeinsam gegen den fernen Bush demonstrieren, kündigt der Bundeskanzler Maßnahmen zur Senkung des Lohnniveaus in großem Ausmaß an. Anstatt gegen diese Ausraubung aufzubegehren, halten die Massen auf den Friedensdemos Plakate hoch mit der Aufschrift: „Durchhalten Gerd!“ Anstatt zum Streik aufzurufen, unterschreiben die Gewerkschaften Petitionen gegen den amerikanischen Krieg. Die eigenen Alltagsprobleme und mehr noch deren Ursachen werden aus dem Bewusstsein getilgt, indem man sich einredet, man müsse sich für den Weltfrieden einsetzen. Die Wut über die Widrigkeiten, denen man ständig ausge-setzt ist, wird verdrängt und die angestaute Aggression entlädt sich, einstweilen noch verdruckst, in feigen Gemeinheiten gegen den Klassendeppen oder die unsichere Referendarin, die sich nicht wehren kann. Dem Schimpfen über die arroganten Amis liegt das selbe Muster zugrunde: weil man den Mut nicht aufbringt, sich gegen die wirklichen Peiniger – etwa die schikanierende Sachbearbeiterin auf dem Bafög-Amt oder die Schergen von der BVG – zur Wehr zu setzen, erfindet man sich einen äußeren Feind, gegen den man gefahrlos die Fäuste ballen und sich einbilden kann, man sei rebellisch. Worum es also auf den Friedensdemos geht, ist der „soziale Frieden“ – das Bündnis zwischen Kapital und Arbeit, zwischen Ausbeutern und Ausgebeuteten. Es geht darum, unter allen Umständen friedlich in der Schule oder an Arbeitsplatz seine Aufgabe zu erfüllen und auch über die ärgsten Schikanen niemals zu murren.
Friedensbewegungen sind Vorbereitungen auf den Ernstfall. Indem die Beteiligten sich darauf einschwören, friedlich alle kommenden Entbehrungen zu ertragen, bereiten sie das ruhige Hinterland vor, das nötig sein wird, wenn wieder einmal drastische Maßnahmen gebraucht werden, um die Herrschaft zu retten. Wenn in der Krise die Masse der überflüssig produzierten Güter und der nutzlos gemachten Menschen so groß geworden ist, dass nur mittels Vorbereitung und Durchführung einer großangelegten Zerstörungsaktion der Laden am Laufen gehalten wer-den kann, ist absolute Schmiegsamkeit des Menschenmaterials gegenüber den Befehlshabern erforderlich. Dann kann sich endlich auch Euer verborgenes Zerstörungspotential ungehemmt austoben, dessen Ausmaß der Amoklauf eines Eurer Kameraden in Erfurt erahnen ließ, über den Ihr allesamt nur deshalb so betroffen wart, um vor Euch selbst zu verbergen, dass Ihr es ihm insgeheim gerne nachtun würdet. Euer Frieden meint die Friedhofruhe einer Gesellschaft, in der sich nichts mehr regt, weil alle schicksalsergeben dem Verderben entgegenlaufen.
In Deutschland hat der Friedensschluss zwischen oben und unten historisch besonders reibungslos geklappt. Die Deutschen taten im Nationalsozialismus willig und beflissen ihre Pflicht, wenn ihre Arbeit auch bald die des Tötens war. Anders als die Amerikaner heute, deren Fahnen man zwar verbrennt, denen man aber ansonsten bisher noch wenig anhaben kann, wurde die Juden als diejenigen, gegen die sich damals die Aggression richtete, wirklich ermordet. Dieser gemeinsam begangene Mord war der Grund, warum die deutschen Gesellschaft auch dann noch zusammenhielt, als längst klar war, dass die Nazis kein tausendjähriges Reich errichten, sondern einen Kontinent in Schutt und Asche legen würden. Die Deutschen waren weder Patrioten, noch hatten sie irgendwelche Ideale zu verteidigen – aber sie blieben selbst dann noch friedlich gegenüber ihren Herrschenden, als ihnen die Bomben der englischen und amerikanischen Flieger auf den Kopf regneten – anders als die Iraker, welche im Golfkrieg 1991 den Aufstand wagten und die USA als Befreier begrüßten. Dieser Durchhaltewillen ist es, der auf Friedensdemonstrationen eingeübt wird.
Auch nach dem Ende des Nationalsozialismus blieb der soziale Frieden gewahrt. Die Deutschen waren stolz auf ihre Trümmerfrauen, die sich für den Wiederaufbau des Vaterlands aufopferten, für die eigene Misere machte man die Besatzer oder den Führer höchstpersönlich verantwortlich, ohne daran zu denken, dass man ihm noch vor kurzem zugejubelt hatte. Erst Ende der 60er Jahre rafften sich einige Studenten dazu auf, den bleiernen Frieden anzukratzen. Sie empörten sich über ihre Eltern, die sich am Morden in der Nazizeit beteiligt oder ihm tatenlos zugeschaut hatten, waren frech zu ihren Professoren und spielten ein bisschen Barrikadenkampf. Aber bald bekamen sie es mit der Angst zu tun, wegen der versäumten Studiensemester bei der anstehenden Postenvergabe im öffentlichen Dienst leer auszugehen und beeilten sich daher, ihren Frieden mit denen zu machen, die sie zuvor verächtlich das „Establishment“ genannt hatten. Bei denen, die man sich einen Augenblick lang zu hassen getraut hatte, biederte man sich jetzt wieder an – die Wut musste heruntergeschluckt werden. Dies ist ungesund und es bekam den ehemaligen Rebellen schlecht: Sie wurden mit Frühvergreisung geschlagen und sind seither so lustlos, verlottert und unerträglich, wie Ihr sie aus der Schule, der Politik oder dem Elternhaus kennt.
Ihr dagegen bringt es nicht einmal zu einer Pseudorebellion. Mit hoher Wahrscheinlichkeit droht Euch daher nicht das Schicksal Eurer Eltern – verstaubtes Dahinvegetieren in Wohnungen, die wie die Ausstellungsräume im Möbelgeschäft wirken – sondern weit schlimmeres. Die 68er-Generation durfte, nachdem sie zum bruchlosen Konformismus zurückgefunden und ihre ehemaligen Genossen an die Staatsgewalt verraten hatte, in den 80er Jahren zwar ihren Durchhaltewillen zur Schau stellen, indem sie für den Frieden des deutschen Vaterlands gegen amerika-nische und russische Raketen auf die Straße ging – gebraucht wurde ihr Untertanengeist in der noch anhaltenden Schönwetterperiode der Nachkriegskonjunktur noch nicht. Diese Schonfrist ist seit 1989 beendet, die Absatzkrisen des Kapitals verschärfen sich und der Ernstfall rückt näher. Wahrscheinlich wird es beim Sandsackschleppen an der Elbe nicht bleiben und Ihr könntet schon bald das Schicksal Eurer Großeltern teilen, die in Dresden oder Stalingrad bluten mussten. Es bleibt der Trost, dass die Amerikaner auch diesmal die besseren Waffen haben werden. Von Euren künftigen Opfern reden wir erst gar nicht – an Euer Mitgefühl zu appellieren hat wenig Sinn. Wenn es dann aber zu spät ist und Ihr heulend und zähneklappernd im Schützengraben liegt oder im Luftschutzkeller um Euer Leben zittert, dann behauptet bitte nicht, Ihr wäret nicht vorher gewarnt worden.