Zeugin und Täter
Vorstellung einer Romandokumentation zur Geschichte des Kunsthauses Tacheles in Berlin
Anfang der Neunziger Jahre exponierte sich die wilde Vorhut der Berliner Creative Class auf herrenloser Flur. Das Kunsthaus Tacheles schrieb als Echokammer der 80er-Jahre und begehrtes Schmuddelkind des Berlin-Tourismus in der Ruine einer prachtvollen Kaufhauspassage 22 Jahre lang Kulturgeschichte, die niemanden unversehrt ließ. Es hat sich als Gesamtkunstwerk in die Erinnerung eingraviert und seine umstritttenen Meriten werden in Kürze aufgewärmt, wenn das Areal am Tacheles als nagelneues Luxusquartier noch einmal für Aufsehen sorgen wird. Seine „identitätsstiftende“ Architektur hausiert mit dem Label des einstigen Tacheles, das von Lust, Kunst und Dramen geprägt war, insbesondere von skurrilen Tragödien, die traumatische Krater bei den Beteiligten hinterliessen und einen Mythos, der die Geschichte überschreiben soll. Seine Hege und Pflege bewässert die massentaugliche Überlieferung, die jedoch die brachialen Umbrüche der Neunziger Jahre ausklammert.
Als Zeugin und Täter erzählt Su Tiqqun von den Widersprüchen, den Irrtümern und Höhepunkten, den Unzumutbarkeiten und Katastrophen im Tacheles, indem sie Wirklichkeit rekonstruiert und die sozialen Verwerfungen des DDR-Verschwindens thematisiert – gewappnet mit einer unbequemen Wahrheit, um die Geschichte der Tacheles-Ära zu erzählen zu können: „Man muss die Toten ausgraben, wieder und wieder, denn nur aus ihnen kann man Zukunft beziehen.“ ( Heiner Müller ).
„Als Roman und Dokumentation lässt uns die Handlung von Zeugin und Täter – stilistisch breit gefächert – an einer Vernunft teilhaben, die sich keine Zukunft bescherte. Kunsthäuser werden gegründet und bleiben bis zum Systemwechsel, Hausbesetzungen – wie kreativ auch immer – werden terminiert, oder – noch schlimmer – legalisiert, und in den Kunstmarkt integriert.Wer immer mal wieder ins Tacheles schneite, konnte was erleben, für die Insassen jedoch war es schon bald nach Gründung das ‚Böse Haus‘. Da allerdings schon die 1905 gedungenen Architekten der Friedrichstassenpassage, die das Tacheles vor dem totalen Abriss rettete, megalomane Intuitionen hatten, war die Wahrscheinlichkeit groß, dass die Zweit- und Drittnutzer in die Irre laufen, besonders in jener Krisen- und Umbruchsituation.
Anstatt Befreiung von staatlichen Zwängen, die ein Aufbruch hätte sein können, holten sich die Besetzer und späteren Betreiber freiwillig immer mehr Zwänge ins Haus, unter denen sie dann notgedrungen litten. Von den Medien gehätschelt und geschmäht, hilflos und selbst schuld, versuchten sie, diese Bürde anderen Schultern aufzulasten. Su war eine von diesen Schultern, die – mehr oder weniger gewollt bzw. gezwungen – einen lebensrettenden Absprung schaffte. Ihre spezielle und erfrischend unkommerzielle Aufarbeitung des Tacheles-Komplexes, die hiermit einen Abschluss findet, thematisiert den Kampf gegen Entfremdung, Unterdrückung und Ausbeutung – gegen jede Form von Bedrückung. Auch über unsere Köpfe hinweg. Dafür ist dieses Buch ein weiterer Anstoß.“ (Bert Papenfuß)
• Schankwirtschaft Laidak • Boddinstr. 42/43 • Berlin-Neukölln • Dienstag, 10.1.2023 • ab 19:00